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Tabelle 1: Arten des Gedächtnisses

Implizites Gedächtnis

• Bereits bei der Geburt vorhanden

• Kein Gefühl des sich Erinnerns, wenn Erinnerungen abgerufen werden

• Umfasst Erinnerungen bezüglich Verhalten, Emotionen, Wahrnehmungen und möglicherweise körperliche Empfindungen

• Beinhaltet mentale Modelle

• Zum Einspeichern ist keine bewusste Aufmerksamkeit nötig

• Umfasst nicht den Hippocampus

Explizites Gedächtnis

• Entwickelt sich im zweiten Lebensjahr und darüber hinaus

• Gefühl des Sicherinnerns, bei Abruf

• Autobiografisch: mit Gefühl von Selbst und Zweck verbunden

• Umfasst das semantische (Fakten-) und episodische (autobiografische) Gedächtnis

• Erfordert bewusste Aufmerksamkeit

• Umfasst den Hippocampus

• Autobiografisch: Schließt auch den präfrontalen Kortex mit ein

Elterliche Ambivalenz hat viele Formen, oft basiert oft auf unerledigten Angelegenheiten. Eltern können sich in einem Wechselbad widerstreitender Gefühle befinden, die ihre Fähigkeit, ihren Kindern gegenüber offen und liebevoll zu sein, beeinträchtigen. Die starren Verteidigungsstrukturen, die wir in unserer Kindheit und darüber hinaus aufgebaut haben, können uns lähmen, wenn wir unserer neuen Rolle, uns auf konsistente und klare Weise um unsere Kinder zu kümmern, gerecht werden wollen. Ganz normale Aspekte der Erlebniswelt unserer Kinder – wie ihre Emotionalität, ihre Hilflosigkeit und Verletzlichkeit und ihre Abhängigkeit von uns – können bedrohlich wirken und uns unerträglich werden.

Dan führt seine Geschichte fort: Obwohl ich meinem Sohn in Momenten des Kummers beistehen wollte, erzeugte meine eigene Ambivalenz einen Widerspruch zwischen meiner gewünschten Reaktion und meinem tatsächlichen Verhalten. Anstatt aufgeschlossen und tröstend zu wirken, war ich eine Quelle der Ungeduld und Verärgerung. Als ich mir das erst einmal bewusst gemacht hatte, konnte ich auch etwas dagegen unternehmen.

Ich sprach mit Freunden über die plötzliche Rückblende und die Erinnerungen an mein Assistenzjahr. Ich schrieb in mein Tagebuch – mit dem Wissen um Forschungsergebnisse, die zeigten, dass das Niederschreiben emotional traumatischer Erlebnisse zu grundlegenden psychischen und physischen Veränderungen und damit zu einer Lösung führen kann. Bei den Gesprächen und beim Schreiben zeigte sich mir, wie beängstigend und frisch all diese Eindrücke waren. Ich zeigte körperliche Reaktionen. Ich fühlte mich krank. Meine Arme zitterten und meine Hände schmerzten.

Zunächst fühlte ich weiterhin Panik und Ärger, wenn mein Sohn weinte. Dann sagte ich zu mir: „Das ist ein Gefühl aus meiner Assistenzzeit und hat nichts mit meinem Sohn zu tun.“ Die Panik blieb, aber ich fühlte mich irgendwie ein wenig besser. Als die Tage vergingen und weitere Unterhaltungen und Niederschriften folgten, konnte ich fühlen, wie wichtig es war, die Verletzlichkeit und Hilflosigkeit zu erkennen, zu akzeptieren und zu respektieren – sowohl bei meinem Sohn als auch bei mir. Panik und Verärgerung nahmen merklich ab. Ich erinnerte mich immer wieder daran, dass er nicht wegen mir weinte, und dass es für Kinder einfach völlig normal ist, verletzlich und hilfsbedürftig zu sein. Das Verarbeiten meiner Vergangenheit gab mir die Freiheit, das Weinen meines Sohnes genauso zu akzeptieren wie mein eigenes Gefühl der Verletzlichkeit, als ich lernte, mich in ihn einzufühlen und sein Vater zu sein.

Ich wurde nie wieder von dieser Rückblende heimgesucht. Die lähmende Panik blieb aus. Die zunächst nur impliziten Erinnerungen wurden nun auch explizit verarbeitet. Diese Veränderung vollzog sich durch die bewusste Verarbeitung der impliziten Erinnerungen als Teile einer größeren, expliziten autobiografischen Erzählung über dieses Jahr. In meiner Lebensgeschichte musste ich die emotionalen Schwierigkeiten mit Verletzlichkeit und Hilflosigkeit, die das Herzstück dieser Erfahrung waren, annehmen, um eine Lösung herbeizuführen.

Es geht weiter

Wenn Eltern nicht die Verantwortung für ihre eigenen nicht zu Ende gebrachten Dinge übernehmen, verpassen sie nicht nur die Gelegenheit, einfühlsamere Eltern zu werden, sondern auch, sich selbst weiterzuentwickeln. Menschen, die sich über die Beweggründe ihres eigenen Verhaltens und ihrer starken Gefühlsreaktionen im Unklaren bleiben, sind sich nicht bewusst, dass sie mit unerledigten Angelegenheiten zu kämpfen haben und sich dadurch als Eltern widersprüchlich – ambivalent – verhalten.

Das Leben ist reich an schwierigen Situationen, auf die wir uns schnell einstellen und in denen wir unser Bestes tun müssen. Die meisten unter uns tragen Unerledigtes oder Ungelöstes mit sich herum, das uns regelmäßig vor Probleme stellt. Eine unerledigte Angelegenheit nimmt uns die Flexibilität im Umgang mit unseren Kindern und wir können oft nicht so handeln, wie es für ihre Entwicklung am hilfreichsten wäre. Wir hören ihnen nicht wirklich zu, denn unsere eigenen inneren Erfahrungen machen so viel Lärm, dass wir nichts anderes hören können. Wir haben keinen wirklichen Bezug zu ihnen und wir werden wahrscheinlich immer wieder die gleichen, für uns und unsere Kinder erfolglosen und frustrierenden Handlungen ausführen, weil wir in Reaktionsmustern aus früheren Erlebnissen gefangen sind.

Wenn wir von unseren impliziten Erinnerungen an schmerzliche Erfahrungen und nicht verarbeitete Verluste überwältigt werden und völlig darin versinken, können wir nur schwerlich für unsere Kinder da sein. Dann machen unsere automatischen Anpassungen an diese vergangenen Erlebnisse aus, „wer wir sind“, und unsere Lebensgeschichte wird über uns und nicht von uns geschrieben. Unverarbeitetes kann sich unmittelbar auf unsere Sicht von uns selbst und unseren Austausch mit unseren Kindern auswirken. Wenn sie unsere Lebensgeschichte schreiben, dann wird sie nicht von uns selbst erzählt. Dann zeichnen wir nur auf, wie die Vergangenheit weiterhin, und oftmals ohne dass wir uns dessen bewusst sind, unsere gegenwärtigen Erfahrungen beeinflusst, und die Richtung unserer Zukunft bestimmt. Wir treffen keine wohl überlegten Entscheidungen, wie wir mit unseren Kindern leben möchten, sondern reagieren nur auf Grundlage vergangener Erfahrungen. Wir geben förmlich unsere freie Wahl der Richtung auf und schalten auf Autopilot, ohne dass wir auch nur im Geringsten wissen, wohin dieser uns führen wird. Oft versuchen wir die Gefühle und das Verhalten unserer Kinder zu steuern, obwohl es eigentlich unser eigenes inneres Erleben ist, das uns erst gegen dieses Verhalten aufbringt.

Wenn wir aufmerksam beobachten, was wir innerlich erleben, wenn uns das Verhalten unserer Kinder stört, dann können wir beginnen zu verstehen, wie unsere eigenen Handlungen der liebevollen Beziehung, die wir zu unseren Kindern haben möchten, zuwiderlaufen. Mit der Lösung unserer eigenen Angelegenheiten erhalten wir mehr Spielraum und werden im Austausch mit unseren Kindern flexibler. Wir können Erinnerungen in unsere Lebensgeschichten so integrieren, dass sie einen Sinn ergeben und die gesunde Entwicklung unserer Kinder, sowie unsere eigene, fördern.

Übungen von innen heraus

1. Schreiben Sie in Ihr Tagebuch, wann Sie emotional und gereizt reagieren. Vielleicht bemerken Sie bestimmte Interaktionsmuster im Austausch mit Ihrem Kind, die solche emotionalen Reaktionen hervorrufen. Belassen Sie es zunächst dabei, diese zu bemerken – versuchen Sie noch nicht, Ihre Reaktionen zu verändern, beobachten Sie nur.

2. Erweitern Sie Ihre Beobachtungen, indem Sie überlegen, ob die Reaktionen Ihrem Kind gegenüber implizite Ursachen haben könnten. Denken Sie an die impliziten Elemente des Gedächtnisses und an die Tatsache, dass diese nicht in Form von konkreten Erinnerungen wahrgenommen werden. Implizites explizit zu machen, indem man diesen eher automatischen Elementen aus der Vergangenheit bewusst seine Aufmerksamkeit widmet, ist ein wichtiger Schritt dahin, sich selbst besser zu verstehen und eine intensivere Beziehung zu seinem Kind aufbauen zu können.

3. Denken Sie an eine Angelegenheit aus Ihrem Leben, die Ihre Fähigkeit, eine flexible Beziehung zu Ihrem Kind aufzubauen, beeinträchtigt. Denken Sie an die vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Aspekte dieser Angelegenheit. Fallen Ihnen irgendwelche Themen oder allgemeine Muster aus früheren Interaktionen ein? Welche impliziten Gefühle und körperlichen Wahrnehmungen tauchen auf, wenn Sie heute an diese Angelegenheit denken? Haben Sie diese Gefühle auch bei anderen Gelegenheiten gehabt? Gibt es Punkte in Ihrer Vergangenheit, die dazu beitragen? Wie wirken sich diese Themen und Gefühle auf Ihr Selbstbild und Ihre Beziehung zu Ihrem Kind aus? Wie beeinflussen sie Ihre Erwartungen an die Zukunft?

IM LICHT DER WISSENSCHAFT

Wissen und Wissenschaft

Seit Anbeginn der Geschichtsschreibung sind Menschen daran interessiert, die Welt zu verstehen. Mit der Weiterentwicklung wissenschaftlicher Technik wurden die Fragen, die man stellen und zu beantworten versuchen konnte, immer anspruchsvoller, die verfügbaren Werkzeuge immer komplizierter und technischer, und die Forschungsgebiete immer zahlreicher. Es gibt Tausende professioneller Zeitschriften und Unmengen von Spezialisierungen in Dutzenden von akademischen Wissenschaften, in denen aktiv versucht wird, die Welt, in der wir leben, zu verstehen.

Um Wissen zu erlangen, verwendet dieses Buch einen interdisziplinären Ansatz, wie er in Daniel Siegels Buch The Developing Mind erforscht wird, das davon ausgeht, dass es in der Welt, einschließlich menschlicher Erfahrungen, eine „Realität“ gibt, die durch sorgfältige Untersuchungen im Detail erkannt werden kann. Jeder einseitige Ansatz muss jedoch begrenzt bleiben; so wie in dem alten indischen Gleichnis, in dem eine Gruppe Blinder die verschiedenen Teile eines Elefanten ertastet, kann eine einzelne Erfahrung oder ein einzelner Blickwinkel nur einen Teil der größeren Realität enthüllen. Wenn jeder Blinde seinen Teil an Informationen über den Elefanten beiträgt, formt sich allmählich das Bild des ganzen Elefanten.

 

Eine interdisziplinäre Sicht zielt darauf ab, die Berührungspunkte zwischen unabhängigen Wissensgebieten zu finden, so dass sich ein einheitliches Wissen herauskristallisieren kann. Der Evolutionsbiologe E. O. Wilson schrieb in seinem Buch Consilience (Die Einheit des Wissens), dass eine Vereinigung des Wissens im akademischen Umfeld aufgrund der Trennung der wissenschaftlichen Disziplinen voneinander nur schwer zu erreichen sei. Ein interdisziplinärer Ansatz vermag diese Trennungen jedoch zu überbrücken, so dass sich die Wissenschaft weiterentwickeln kann.

Jede Forschungsdisziplin, jede Quelle von Wissen, hat ihren ganz eigenen Ansatz, ihre Konzepte, ihr Vokabular und ihre Art und Weise, Fragen zu stellen. Ein interdisziplinärer Ansatz respektiert alle Mitwirkenden in gleicher Weise und erkennt an, dass diese Art der Zusammenarbeit der Weg ist, unsere Sicht der größeren Realität, die wir zu verstehen suchen, zu vertiefen. Dazu müssen wir mit Bescheidenheit und Offenheit danach streben, über die Grenzen der einzelnen Disziplinen hinweg herauszufinden, wie der Elefant tatsächlich aussieht.

Die Forschungsgebiete, auf die wir zurückgreifen werden, reichen von der Anthropologie bis zur Psychologie, von der Hirnforschung bis zur Psychiatrie und von Linguistik und Erziehungswissenschaften bis zur Erforschung der Kommunikation und komplexer Systeme. Ein Institut, an dem dieser übergreifende Ansatz verfolgt wird, ist die „Foundation for Psychocultural Research – UCLA Center for Culture, Brain, and Development“, eine Stiftung an der University of California in Los Angeles. Dieses Institut bietet Studenten und Fakultäten verschiedene Möglichkeiten der Aus- und Weiterbildung in solch einem interdisziplinären Umfeld, in der Hoffnung, eine neue Generation von sich einander annähernden Forschern, Lehrern und Praktikern zu unterstützen.

Bindungen, Geist und Gehirn

Seit Jahrtausenden versuchen Menschen die Essenz des Menschseins zu begreifen. Die menschliche Psyche, definiert als Seele, Intellekt und Geist, ist eine funktionierende Entität, von der man annimmt, dass sie aus den Gehirnaktivitäten entsteht. Das Gehirn, selbst ein integriertes System des Körpers, wird unter Zuhilfenahme der sich explosionsartig entwickelnden neuen Erkenntnisse der Neurowissenschaften erforscht. Die Gehirnforschung erkundet, wie geistige Vorgänge durch die Aktivität feuernder Neuronen im Gehirn entstehen.

Gleichzeitig befasst sich das unabhängige Fachgebiet Psychologie mit der Erforschung des Menschen entlang verschiedenen Dimensionen: Erinnerung, Denken, Emotionen und Entwicklung, um nur einige zu nennen. Unser Verständnis der kindlichen Entwicklung wurde durch ein Teilgebiet dieses Themenfeldes weit vorangebracht: die Bindungstheorie. Die Forschung in dieser Richtung hat uns neue Erkenntnisse darüber vermittelt, wie der Umgang der Eltern mit ihren Kindern deren spätere Entwicklung beeinflusst. Es konnte gezeigt werden, dass sich zwischenmenschliche Beziehungen und Kommunikationsmuster, die Kinder mit ihren Bezugspersonen erfahren, direkt auf die Entwicklung geistiger Prozesse auswirken.

So können wir nun das Wissen darüber, wie das Gehirn mentale Prozesse hervorbringt (Neurowissenschaften) mit dem Wissen, wie Beziehungen mentale Prozesse formen (Bindungsforschung) in eine direkte Beziehung zueinander setzen. Diese Konvergenz ist die Essenz unseres wissenschaftlichen Ansatzes, der „interpersonellen Neurobiologie“, und sie bildet das Gerüst, von dem aus wir zu einem Verständnis der alltäglichen Erfahrungen von Kindern und ihren Eltern gelangen können.

Die interpersonelle Neurobiologie geht hinsichtlich der Entwicklung von folgenden Grundprinzipien aus:

• Der Geist ist ein Prozess, der mit dem Fließen von Energie und Informationen zu tun hat.

• Der Geist (der Strom von Energie und Informationen) tritt durch das Zusammenspiel von neurophysiologischen Prozessen und zwischenmenschlichen Beziehungen zutage.

• Der Geist entwickelt sich, während das genetisch vorprogrammierte Heranreifen des Gehirns auf fortlaufende Erlebnisse reagiert.

Wissenschaftler gehen zwar davon aus, dass die Muster, in denen das neuronale Netzwerk feuert, den „Geist“ – nämlich Prozesse wie Aufmerksamkeit, Emotionen und Erinnerungen – hervorbringen. Jedoch wissen wir nicht genau, wie die Gehirnaktivitäten die subjektive Erfahrung von einem Geist entstehen lassen. Den Geist als einen Strom von Energie und Informationen zu betrachten, ist eine Art, von den Gehirnaktivitäten zum Geist zu gelangen. Eine Energie, die man im Geist beobachten kann, wäre zum Beispiel die körperliche Eigenschaft der Stimmlautstärke, der Zustand der Wachheit oder Müdigkeit, den man gerade verspürt, oder die Intensität der Kommunikation mit einer anderen Person. Ein Neurowissenschaftler würde untersuchen, wie viel Energie in den verschiedenen Bereichen des Gehirns verwendet wird. Das geschieht mit Hilfe eines Gehirnscans, der anhand des erhöhten Stoffwechsels in bestimmten Regionen zeigt, wo verschiedene chemische Stoffe verbraucht werden oder wo der Blutdruck erhöht ist, oder mit Hilfe eines Elektroenzephalogramms, kurz EEG, das die elektrischen Gehirnwellenmuster abbildet. Der Informationsfluss im Geist wären die Worte, die Sie gerade lesen, das heißt, deren Bedeutung, nicht die Druckerschwärze auf dem Papier oder der Klang der Worte. Frei nach Mark Twain ist der Unterschied zwischen der Bedeutung des richtigen Worts und der des beinahe richtigen Worts der gleiche wie der zwischen einem Blitz und einem Glühwürmchen. Bedeutung ist ein sehr gewichtiger Aspekt der Informationsverarbeitung im Geist. Die Symbolik, die wir für die Welt verwenden, hat einen unmittelbaren Einfluss auf unsere Wahrnehmung der Realität. Im Gehirn werden Informationen durch das Feuern entlang der Nervenverbindungen in verschiedenen Schaltkreisen erzeugt. Die Gehirnregion bestimmt die Art der Information (Sehen oder Hören); das spezifische Muster bestimmt den jeweiligen Inhalt (Sehen des Eiffelturms und nicht der Golden Gate Bridge).

Bei der Geburt zählen Menschen zu den hilflosesten Geschöpfen. Menschenkinder werden mit sehr schwach entwickelten Gehirnen geboren und sind für ihr Überleben auf die Hilfe Erwachsener angewiesen. Das heranwachsende Gehirn eines Kindes entwickelt seine erforderliche Komplexität aufgrund von Erbinformationen und von Erfahrung. Anders ausgedrückt: die Unreife des kindlichen Gehirns bedeutet, dass Erfahrungen eine entscheidende Rolle dabei spielen, welche einmaligen Eigenschaften durch die entstehenden Nervenverbindungen festgelegt werden. Sogar gerade die Gehirnstrukturen, die es ermöglichen, dass Erfahrungen wahrgenommen und gespeichert werden können, werden durch Erfahrungen geformt.

Die Betreuung durch Erwachsene fördert die Entwicklung der für das Überleben notwendigen geistigen Werkzeuge. Diese Bindungserfahrungen lassen Kinder gedeihen und machen sie flexibel und anpassungsfähig für einen ausgeglichenen Umgang mit ihren Emotionen, ihren Gedanken und ihrem Einfühlungsvermögen gegenüber anderen. Die Neurowissenschaft zeigt, dass diese geistigen Fähigkeiten durch die Integration bestimmter Schaltkreise im Gehirn entstehen. Davon unabhängige Ergebnisse der Bindungsforschung legen dar, welche Arten von Beziehungserfahrungen notwendig sind, damit ein Kind gedeiht und sich diese geistigen Prozesse gut entwickeln. Die interpersonelle Neurobiologie setzt die Puzzleteile des Elefanten, den die blinden Männer ertasten, zusammen und gelangt dadurch zu dem Ansatz, dass Bindungsbeziehungen wahrscheinlich die Entwicklung der integrativen Fähigkeiten des Gehirns unterstützen, indem sie den Erwerb dieser emotionalen, kognitiven und zwischenmenschlichen Fähigkeiten ermöglichen.

Gedächtnis, Gehirn und Entwicklung: Unsere Erinnerungen prägen uns

Die Gedächtnisforschung ist ein spannendes Gebiet mit einer Fülle neuer Erkenntnisse über die Art und Weise, wie sich Erfahrung auf Geist und Gehirn auswirkt. Wir wissen heute, dass Erfahrung die Verbindungen zwischen den Neuronen verändert und somit ein ganzes Leben lang das Gehirn formt. Eine „Erfahrung“ ist für das Gehirn das Feuern von Neuronen, wenn Ionen an diesen lang gestreckten Grundbausteinen des Gehirns entlangfließen. Im Gehirn befinden sich mehr als drei Millionen Kilometer Nervenfasern. Jedes der zwanzig Milliarden Neurone des Gehirns ist im Durchschnitt mit 10 000 weiteren verbunden. Daraus ergibt sich ein unglaublich komplexes, ineinander verwobenes Netzwerk aus Billiarden von Synapsen, oder neuronalen Verbindungen. Manche schätzen die Anzahl der Muster, in denen Neurone feuern – insgesamt im Gehirn mögliche Schaltungen von aktiven und inaktiven Neuronen – auf zehn hoch eine Million; also zehn, eine Million Mal mit zehn multipliziert. Das menschliche Gehirn wird als das komplexeste aller Gebilde natürlicher oder künstlicher Art im Universum angesehen.

Die Wissenschaft hat gezeigt, dass das Gedächtnis mit Veränderungen in den Neuronenverbindungen arbeitet. Wenn Neurone gleichzeitig aktiviert werden, erzeugt dies assoziative Verknüpfungen. Beißt uns ein Hund gerade in dem Moment, wo wir ein Feuerwerk hören, so kann daraus nicht nur eine Assoziation von Schmerz und Angst mit Hunden, sondern auch mit Feuerwerken entstehen. Dem ein halbes Jahrhundert alten Axiom des kanadischen Arztes und Psychologen Donald Hebb zufolge, entstehen diese Verknüpfungen, weil Neurone die gemeinsam aktiviert werden, sich miteinander verbinden: „Neurons which fire together, wire together.“ Vor wenigen Jahren erhielt der Psychiater und Neurobiologe Eric Kandel den Nobelpreis für den Nachweis, dass bei Neuronen, die wiederholt feuern (aktiviert werden), das genetische Material im Neuronenkern „angeregt“ wird, neue Proteine herzustellen, welche den Aufbau neuer Synapsenverbindungen zwischen den Neuronen ermöglichen. Das Feuern von Neuronen (Erfahrung) aktiviert genetische Mechanismen, die es dem Gehirn erlauben, seine internen Verknüpfungen (Gedächtnis) zu verändern.

Das Gehirn entwickelt sich auch, wenn Neurone wachsen und neue Verbindungen untereinander knüpfen. Das ist der Grund, warum die Wissenschaft uns sagt, dass Erinnerung und Entwicklung zwei einander überlappende Vorgänge sind: Erfahrungen beeinflussen, wie sich die Gehirnstruktur entwickelt; unsere Gene bestimmen zu einem großen Teil, wie sich Neurone miteinander verbinden. Aber genauso wichtig ist es, dass Erfahrung diese Gene überhaupt erst dazu aktiviert, den Verknüpfungsprozess zu beeinflussen. Es ist nutzlos, über diese voneinander abhängigen Vorgänge zu streiten und sie in allzu vereinfachenden Diskussionen gegeneinander zu setzen: etwa Erfahrung gegen Biologie oder Veranlagung gegen Erziehung zu setzen. Die Gehirnstruktur wird durch Erfahrung geformt. Erfahrung ist Biologie. Wie wir unsere Kinder behandeln, beeinflusst, wer sie sind und wie sie sich entwickeln. Ihre Gehirne bedürfen unserer elterlichen Beteiligung. Veranlagung benötigt eine Art äquate Beziehung.

Das Gehirn ist so aufgebaut, dass es sich im Allgemeinen selbst um die Grundlagen für eine normale Entwicklung kümmern kann – wir müssen lediglich die Erfahrungen von Interaktion und Reflexion beisteuern, die das wachsende soziale Gehirn eines Kindes benötigt, und keineswegs Sinne und Körper mit Reizen überfluten. Eltern formen aktiv die Gehirne ihrer heranwachsenden Kinder. Das unreife Gehirn eines Kindes ist so empfänglich für soziale Erfahrungen, dass Adoptiveltern eigentlich auch leibliche Eltern genannt werden sollten, da die familiären Erfahrungen, die sie erzeugen, die biologische Struktur der Gehirne ihrer Kinder formen. Die Zeugung ist nur ein Weg, wie Eltern biologisch auf das Leben ihrer Kinder Einfluss nehmen.

Erfahrung und die Entwicklung des Gedächtnisses und des Selbst

Erinnerungen sind durch Erfahrung hervorgerufene neuronale Verbindungen, bei denen gegenwärtige und zukünftige Aktivierungsmuster von Neuronen auf eine bestimmte Weise verändert werden. Wenn Sie nie zuvor von der Golden Gate Bridge gehört haben, dann werden diese Worte in Ihnen eine andere Reaktion auslösen als bei jemandem, der in San Francisco lebt und sich die Brücke leicht vorstellen sowie damit verknüpfte Wahrnehmungen, Emotionen und andere Assoziationen hervorrufen kann. Die beiden Hauptarten von Erinnerungen, explizite und implizite, sind ziemlich verschieden voneinander. Ein Säugling verfügt bereits ab der Geburt oder sogar früher über, wenn auch noch im Wachstum begriffene, funktionsfähige Schaltkreise für das implizite Gedächtnis (für Emotionen, Verhalten, Wahrnehmungen und körperliche Erfahrungen). Zu dieser Form des Gedächtnisses gehört auch die Art und Weise, wie das Gehirn Erfahrungen zu mentalen Modellen zusammenfasst.

 

Das explizite Gedächtnis verwendet grundlegend die gleichen Speichermechanismen wie das implizite Gedächtnis. Zusätzlich werden die Informationen jedoch noch durch eine integrierende Region des Gehirns verarbeitet, die man Hippocampus nennt. Daher ist es auf die Ausreifung dieser Region angewiesen, die erst im Alter von ungefähr anderthalb Jahren beginnt. Bis dahin ist das explizite Gedächtnis noch nicht in vollem Umfang verfügbar. Mit der Entwicklung des Hippocampus ist der Geist nun fähig, Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Elementen des impliziten Gedächtnisses herzustellen, und die integrierten neuronalen Repräsentationen von Erfahrungen in ihrem Kontext abzubilden. Damit ist die Grundlage für die faktenorientierte und dann autobiografische Form des expliziten Gedächtnisses gelegt. Der Hippocampus dient also sozusagen als „Kartograph des Denkens“, indem er assoziative Verbindungen zwischen den Repräsentationen herstellt, die zeitlich getrennt sind oder verschiedenen Arten der Wahrnehmung (Sehen, Hören, Berühren) oder Gedanken (Ideen, Vorstellungen, Theorien) zugeordnet sind.

Um den zweiten Geburtstag herum entwickelt sich durch die weitere Heranreifung der präfrontalen Regionen des Gehirns allmählich eine Vorstellung von Zeit und von einem Selbst, und zeigt damit den Beginn des autobiografischen Gedächtnisses. Vor diesem Entwicklungsschritt befindet sich das Kind in der ersten Phase der „Kindheitsamnesie“, in welcher bereits das implizite, aber noch nicht das explizite Gedächtnis verfügbar ist. Aber auch nachdem die autobiografische Form des expliziten Gedächtnisses seine Arbeit aufgenommen hat, haben Kinder immer noch Schwierigkeiten, sich Ereignisse vor ihrem fünften Lebensjahr in genauer und kontinuierlicher Form ins Gedächtnis zu rufen.

Bis jetzt weiß noch niemand, warum das so ist. Eine Möglichkeit wäre, dass die Art, wie wir unsere Erinnerungen konsolidieren, wie wir also die riesige Menge Stoff in unseren Gedächtnisspeicher integrieren, erst in unserer Vorschulzeit wirklich ausgereift ist. Explizite Erinnerungen bewegen sich durch die Aktivität des Hippocampus vom ersten Speichern in das Kurzzeit- und dann in das Langzeitgedächtnis. Mit der Zeit, durch den Prozess der so genannten kortikalen Konsolidierung, werden die Langzeit-Erinnerungen permanent. Für die Transformierung dieser Gedächtnisinhalte in eine permanente Form, in der sie unabhängig vom wichtigen Hippocampus abgefragt werden können, benötigen wir unter anderem REM-Schlaf, also Schlafphasen, die durch schnelle Augenbewegungen (rapideye move- ment, abgekürzt REM) gekennzeichnet sind. Das sind die Phasen, in denen wir träumen. Beim Träumen kommen Emotionen und Erinnerungen und die Verarbeitungsfunktionen der rechten und linken Gehirnhälfte zusammen. Möglicherweise benötigen wir dazu bestimmte integrative Schaltkreise, die bei Kindern im Vorschulalter noch nicht genügend ausgereift sind, um in späteren Jahren einen einfachen Zugriff auf explizite autobiografische Erinnerungen aus dieser Zeit zu ermöglichen. Vorschulkinder träumen zwar und haben explizite Erinnerungen an ihre Erlebnisse, aber wir nehmen hier an, dass der Konsolidierungsprozess in diesem Alter noch nicht ausgereift ist, so dass die autobiografischen Erinnerungen nicht vom Langzeitgedächtnis in eine dauerhafte Form überführt werden können. Wenn das Reifestadium der kortikalen Konsolidierung den begrenzenden Faktor darstellt, dann wird verständlich, warum es den meisten Menschen nach dem Vorschulalter schwer fällt, sich in Form kontinuierlicher Abläufe an davor liegende Lebensphasen zu erinnern.

Kleine Kinder verarbeiten ihre Erlebnisse unter anderem im Spiel. Indem sie neue Szenarien erdachter und durchlebter Ereignisse erschaffen, können sie neue Fähigkeiten üben und die komplexen emotionalen Gegebenheiten der sozialen Welten, in denen sie leben, in sich aufnehmen. Unser Geist versucht möglicherweise durch das spielerische Erschaffen von Geschichten und vermutlich durch unsere Träume, aus unseren Erfahrungen „schlau zu werden“, und dieses Verständnis in einem Bild von uns selbst in der Welt zu festigen. Wenn Kinder aus dem Vorschulalter herauswachsen, tritt durch die Reifung des Balkens, der die beiden Gehirnhälften miteinander verbindet, und der präfrontalen Gehirnregionen möglicherweise ein Konsolidierungsprozess in Erscheinung, der die Vorstellung von einem Selbst im zeitlichen Zusammenhang verarbeiten kann und damit das Gerüst für ein Selbstverständnis bildet, das wir autobiografisches Gedächtnis nennen. Diese neurobiologische Reifung könnte erklären, warum der kontinuierliche Zugriff auf autobiografische Erinnerungen aus dieser Zeit erst mit einiger Verzögerung eintritt. Mit dieser Konsolidierung erzeugen wir wahrscheinlich unser autobiografisches Gefühl von einem Selbst – etwas, das durch Erfahrungen geformt wird und sich unser ganzes Leben hindurch weiterentwickelt.

Belastende Erlebnisse können sich anders auf unsere Erinnerung auswirken als nicht traumatische Ereignisse. Unverarbeitete Traumata können unter anderem die normale Verarbeitung von Erinnerungen blockieren, indem sie mit dem normalen Kodierungsund Speicherverfahren in Konflikt geraten. Beispielsweise kann eine überwältigende Erfahrung die Kodierung blockieren, indem sie die Verarbeitung der aufgenommenen Informationen im Hippocampus hemmt, so dass nur eine implizite und keine explizite Verarbeitung erfolgen kann. Dies könnte durch eine übermäßige Ausschüttung von Neurotransmittern oder Stresshormonen im Verlauf des schrecklichen Ereignisses ausgelöst werden. Sie blockieren die Kodierungsmechanismen des Hippocampus. Ein weiterer blockierender Faktor ist die Abwendung der Aufmerksamkeit, bei der die bewusste Wahrnehmung im Verlauf der Erfahrung auf einen nicht traumatischen Teil der Umgebung gerichtet wird. In dieser Situation könnte ebenfalls eine implizite Verarbeitung erfolgen, während die für eine explizite Kodierung durch den Hippocampus erforderliche Aufmerksamkeit blockiert ist. Beide Mechanismen führen zu rein impliziten Spuren von Erinnerungen, die beim Abruf den Geist der betreffenden Person erfüllen würden, ohne dass diese sie dabei als Erinnerungen empfindet. Darüber hinaus verfügen implizite Erinnerungen nicht über assoziative Verknüpfungen, wie sie vom Hippocampus geprägt werden und die sie in einen verständlichen Kontext bringen würden. Implizite Erinnerungen ohne explizite Verarbeitung können in extremen Fällen dazu führen, dass man einen Flashback erfährt, eine Rückblende, in der man Ereignisse noch einmal durchlebt. Im Allgemeinen sind sie jedoch eher die Ursache für starre, implizite, mentale Modelle, die Eltern daran hindern, im Umgang mit ihren Kindern flexibel und einfühlsam zu bleiben.