Das achtsame Gehirn

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7. Angstmodulation könnte durch die Ausschüttung des hemmenden Neurotransmitters Gammaaminobuttersäure (GABA) in die unteren, für Angst zuständigen limbischen Bereiche, wie die zahlreichen Kerne der Amygdala, erfolgen. Auf diese Weise könnte Angst limbisch erlernt werden, doch das Ablegen der Angst könnte durch das Wachstum der mittleren Präfrontalfasern erfolgen, die jene Angst zu modulieren vermögen (Abbildung 2.7).

8. Intuition scheint das Registrieren des Inputs aus den informationsverarbeitenden neuronalen Netzwerken zu beinhalten, die unsere inneren Organe umgeben, zum Beispiel Herz, Lungen und Darm. Die Weisheit unseres Körpers ist also mehr als eine poetische Metapher. – Sie ist ein neuronaler Mechanismus, durch den wir über die PDP (parallel distributed processing), die um diese Hohlorgane herum stattfindet, einen tiefen Zugang zum Wissen unseres Körpers erlangen. Der entsprechende Input wird im mittleren Präfrontalkortex registriert und beeinflusst dann unsere Schlussfolgerungen und Reaktionen.

9. In Studien hat sich herausgestellt, dass Moral (im Sinne von moralischem Empfinden und Verhalten) ebenfalls durch den mittleren Präfrontalkortex vermittelt wird. Moral lässt sich wohl dadurch charakterisieren, dass man das größere Bild in Betracht zieht, dass man sich vorstellt, was das Beste für das Ganze ist, und nicht nur für einen selbst (selbst wenn man allein ist). Es hat sich gezeigt, dass Schädigungen der mittleren Präfrontalregion zu Beeinträchtigungen im Moralempfinden und damit zu amoralischen Verhaltensweisen führen.


Abbildung 2.7

Der orbitomediale Präfrontalkortex: das Amygdala-Netzwerk (Cozolino 2006; Nachdruck mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors).

Links und rechts

In Abbildung 2.2 konnten wir sehen, dass das Gehirn in eine linke und eine rechte Seite unterteilt ist. Bei der Betrachtung der Unterschiede zwischen linker und rechter Hemisphäre ist es wichtig, eine „Dichotomisierung“ zu vermeiden.

Im Laufe unserer Evolution als Wirbeltiere hatten die linke und die rechte Seite unseres Nervensystems unterschiedliche Funktionen inne (Halpern, Güntürkün, Hopkins & Rogers 2005). Der Vorteil dieser Asymmetrie, den wir Menschen mit Fischen und Fröschen, Eidechsen und Vögeln ebenso wie mit Ratten teilen, könnte darin liegen, dass wir durch stärkere Differenzierung eine größere funktionale Komplexität erreichen können. Warum sollten links und rechts oder oben und unten dasselbe sein? Wie an früherer Stelle bemerkt, entwickeln sich das Stammhirn und die limbischen Bereiche früher als der Kortex. Ihre Asymmetrien verweisen auf einen Unterschied in der Verbindungsfähigkeit der kortikalen Strukturen beider Hemisphären. Die sich herausbildenden strukturellen Unterschiede führen zu einigen relevanten und recht stabilen Funktionsunterschieden zwischen rechts und links. Die rechte Hemisphäre ist in den ersten zwei oder drei Lebensjahren aktiver und weiter entwickelt. Die linke tritt erst um den zweiten Geburtstag herum auf den Plan, dann kommt es in den folgenden Jahren zu periodisch unterschiedlich starken Entwicklungsschüben von links und rechts. Das verbindende Gewebe, der Corpus callosum, bekommt zu dieser Zeit ebenfalls seinen ersten Entwicklungsschub. Er dauert bis weit nach dem zwanzigsten Lebensjahr an.

Generell gesagt, kann man sich den Unterschied zwischen den Hemisphären so vorstellen, dass die kortikalen Säulen der rechten Hemisphäre mehr horizontale Verbindungen untereinander aufweisen, was die Repräsentationsprozesse stärker „kreuzmodal“ werden lässt in dem Sinne, dass die differenzierten Prozesse des einen Bereichs mit denen anderer Bereiche kommunizieren. Dies mag uns helfen zu verstehen, warum die rechte Gehirnhälfte leichter den Kontext und das Gesamtbild zu sehen vermag als die stärker detailorientierte linke Gehirnhälfte. In der linken Hemisphäre scheinen die Kortikalsäulen stärker eigenständig zu arbeiten, was die tiefer gehenden, analytischen, problemfokussierten, detailorientierten und Fakten akkumulierenden Prozesse dieser Hemisphäre ermöglicht.

Die Inputströme aus den subkortikalen Regionen speisen diese beiden Regionen mit verschiedenen Quellen sensorischer Daten, was uns ebenfalls zu verstehen hilft, warum solche Unterschiede auftauchen. Immer wieder wird nach Unterschieden zwischen den Geschlechtern gefragt, und so finden Sie hier eine allgemeine Aussage, die beide Geschlechter favorisiert. Die Entwicklung des weiblichen Gehirns scheint mehr Integration zu beinhalten, was auf eine größere Dicke des Balkens als Verbindung zwischen linker und rechter Hemisphäre zurückzuführen ist. Über das männliche Gehirn kann gesagt werden, dass es differenzierter und spezialisierter ist, so dass die getrennten Regionen intensiver eigenständig arbeiten können. Diese groben Verallgemeinerungen machen mich nervös, aber das ist meist die Art von Erkenntnis, die die Wissenschaft offenbart. In der klinischen Arbeit ist es wichtig, die Menschen so zu nehmen, wie sie sind, und nicht, wie sie der Statistik zufolge sein könnten.

Die Funktionen der linken Gehirnhälfte kann man sehr leicht im Gedächtnis behalten, weil die meisten von ihnen mit „L“ beginnen: Die linke Seite ist spezialisiert auf Linguistik, Linearität, Logik und literales (wörtliches) Denken.

Im Gegensatz dazu zeichnet sich die rechte Hemisphäre durch folgende Eigenschaften aus: Sie ist nonverbal, ganzheitlich, visuell-räumlich und weist schließlich noch eine ganze Reihe nicht zusammenhängender Besonderheiten auf wie das autobiografische Gedächtnis, eine ganzheitliche Landkarte des Körpers (Körperschema), rohe und spontane Emotionen, eine anfänglich empathische, nonverbale Reaktion, Stressmodulation und eine Dominanz des alarmierenden Aspekts der Aufmerksamkeit. Man geht davon aus, dass die rechte Seite bei Leid und unangenehmen Emotionen vermittelnd wirkt und dass sie mit dem Rückzugsverhalten gegenüber Neuem korreliert. Die linke wird stärker mit positiveren affektiven Zuständen und mit Annäherungsverhalten assoziiert. Die Koordination zwischen rechts und links könnte bei der Ausprägung unserer emotionalen Gesamtstruktur eine wichtige Rolle dabei spielen, wie das achtsame Gewahrsein unseren affektiven Stil verändert (Davidson 2000). Wie wir gesehen haben, scheint Achtsamkeit zu einem Annäherungszustand zu führen, der mit einer linksseitigen Verschiebung in der frontalen elektrischen Aktivität einhergeht.

Wenn Funktionen getrennt sind, dann kann das Gehirn sie zu einem Zustand der Verbundenheit zusammenbringen, um komplexere und besser angepasste Funktionen zu ermöglichen. Das ist der Sinn der neuronalen Integration und der Weg, auf dem die komplexen Systeme des Gehirns und des Geistes Flexibilität erlangen und neue Funktionskombinationen schaffen können. Mit einer linken und einer rechten Hemisphäre, die physisch voneinander getrennt und in funktionaler Hinsicht differenziert sind, haben wir die Möglichkeit, ein anpassungsfähigeres Funktionieren zu erreichen, wenn es uns gelingt, sie zu einem Ganzen zu integrieren. So entsteht meiner Überzeugung nach Kreativität nicht aus der einen oder anderen Hemisphäre, sondern aus ihrer Integration.

Wie wir sehen werden, könnte die linke Hemisphäre eine „Erzählerfunktion“ haben, bei der diese Region dazu dient, die fortlaufende Lebensgeschichte einer Person sprachlich zu artikulieren. Doch die Inhalte unserer autobiografischen Erinnerungen sind hauptsächlich in der rechten Hemisphäre angesiedelt, und so könnte die Schaffung einer kohärenten Erzählung des eigenen Lebens als Minimum diese bilaterale Form von Integration bedingen. Die Integration von linker und rechter Hemisphäre trägt dazu bei, dass wir einen Sinn in unserem Leben sehen (Weiterführendes hierzu in Anhang III, Lateralität).

Das Bewusstsein von der Gesamtheit der Erfahrungen unseres Körpers könnte es erfordern, dass wir die integrierte Ganzkörperlandkarte der rechten Hemisphäre mit der Aktivierung des seitlichen Präfrontalkortex verbinden. Beim achtsamen Gewahrsein konzentrieren wir uns häufig auf Aspekte unserer Körperfunktionen. Diese würden dann nicht nur die Interozeption der Inselrinde und des mittleren Präfrontalkortex, sondern die gesamte, auf der rechten Seite des Gehirns repräsentierte Körperlandkarte umfassen. Wenn unser Geist in der Achtsamkeitspraxis mit dem auf Worten basierenden linksseitigen Geplapper des Moments angefüllt ist, dann könnten wir sagen, dass es einen elementaren neuronalen Wettbewerb zwischen rechts (Körperempfinden) und links (Wort-Gedanken) um die begrenzten Ressourcen des Aufmerksamkeitsfokus jenes Moments gibt. Im achtsamen Gewahrsein den Fokus auf den Körper zu verlagern, könnte eine funktionale Verschiebung weg von sprachlichen und gedanklichen Fakten und hin zu nonverbalen Bildern und somatischen Empfindungen der rechten Hemisphäre bedeuten. Das könnte uns helfen, das Untersuchungsergebnis von Sara Lazar zu verstehen, die eine Verdickung in den Strukturen des mittleren Präfrontals und der rechten Inselrinde festgestellt hat (Lazar et al. 2005).

Wenn aber die fortlaufende Erzählung, vielleicht sogar ohne Worte, in Form eines bezeugenden Gewahrseins oder eines inneren Beobachters wirklich eine Funktion der linken Hemisphäre ist, dann würde es hierbei zu einer Aktivierung des Präfrontals auf der linken Seite kommen (exekutive Aufmerksamkeit mit aktiver narrativer Beobachtung), und vielleicht zusätzlich zu einer Aktivierung des rechten mittleren Präfrontals (nonverbale Selbstreflektion und Metabewusstsein im medialen Präfrontal) sowie einer Aktivität der rechten Inselrinde mit viszeraler Repräsentation. Das könnte uns helfen, die Ergebnisse der linksseitigen Annäherungsverlagerung zu verstehen, die Davidson und seine Kollegen festgestellt haben (Davidson et al. 2003), ebenso wie Lazars Untersuchungsergebnisse zum mittleren Präfrontal und der rechtsseitigen Inselrinde (Lazar et al. 2005). Die Implikationen dieser Argumentation müssen empirisch erforscht werden, um ihre Stichhaltigkeit zu bekräftigen. Doch dies ist ein Beispiel dafür, wie wir auf bestehendes Wissen über die Gehirnfunktionen (Lateralität) zurückgreifen können, um geeignete Fragen über Phänomene (achtsames Gewahrsein) und allgemeine Prinzipien (neuronale Integration und Wohlbefinden) zu stellen, mit deren Hilfe wir das Verständnis unseres subjektiven und neuronalen Lebens vertiefen können.

 

„Gehirn“ und „Geist“

Wenn in diesem Buch der Begriff Gehirn verwendet wird, dann bezieht er sich immer auf das Gehirn als einen integrierten Teil des gesamten Körpers. Diese Realität verändert die Art und Weise, wie wir über die Beziehung zwischen Gehirn und Geist nachdenken. Da der Geist selbst als gleichzeitig verkörpert und beziehungsbezogen angesehen werden kann, kann unser Gehirn im Grunde genommen als das soziale Organ des Körpers betrachtet werden: Der Geist verschiedener Menschen verbindet sich über einen neuronalen Schaltkreis in unseren Körpern miteinander, der fest verdrahtet ist, um Signale anderer aufzunehmen.

Um die Beziehung des Geistes (des Fließens von Energie und Informationen) zum Gehirn (neuronale Verbindungen und ihr komplexes Feuerverhalten) zu untersuchen, müssen wir uns vor bestimmten vorgefassten Ideen hüten, die unser Verstehen beeinträchtigen und unser Denken beeinflussen könnten. Wir müssen kognitive Achtsamkeit walten lassen – offen für Kontexte sein, neue Wege der Wahrnehmung akzeptieren, subtile Unterschiede zwischen verschiedenen Ideen klar erkennen und neue Kategorien des Denkens in unserem Gewahrsein der Konzepte im jeweiligen Moment schaffen. Hier sehen wir, dass die Vorstellung einer kognitiven Achtsamkeitsdimension uns dabei helfen kann, wie wir denken und wie wir das Lernen angehen, sogar in Bezug auf die reflektive Achtsamkeit.

Die zeitliche Abfolge und der Schauplatz der neuronalen Aktivierung entsprechen der zeitlichen Abfolge und den Eigenschaften geistiger Aktivität. Wenn sich jemand eine Fotografie ansieht, dann kann seine Gehirnaktivität dabei mit einem Kernspintomografen überwacht werden. Es wird eine Aktivierung im hinteren Teil des Gehirns sichtbar sein (normalerweise erhöht sich der Blutfluss während der Aktivierung und ist auf fMRI-Aufnahmen sichtbar oder als elektrische Aktivität auf einem EEG). Das Genaueste, was wir dann sagen können, ist, dass das Feuern von Neuronen am Okzipitallappen mit visueller oder räumlicher Wahrnehmung korreliert.

Warum kann man nicht sagen, dass die neuronale Aktivität die visuelle Wahrnehmung erzeugt habe? Wenn wir solche Kausalzusammenhänge herstellen, dann wird die irrige Idee verstärkt, dass der Geist nur durch das Gehirn erschaffen werde. Wenn wir an dieser Stelle kognitiv achtsam sind, dann müssen wir offen für die Wahrheit sein, nämlich, dass das neuronale Feuern erst durch das Sehen des Bildes ausgelöst worden ist. Der Richtungspfeil weist in beide Richtungen: Der Geist kann tatsächlich das Gehirn nutzen, um sich selbst zu erschaffen.

Ohne kognitive Achtsamkeit würden wir diese birektionale Ausrichtung übersehen. Wenn wir uns zum Beispiel unsere Weiterentwicklung als Spezies ansehen, stellen wir fest, dass unsere Spezies sich in den letzten vierzigtausend Jahren durch kulturelle Evolution verändert hat. Kultur ist der Weg, auf dem Bedeutung zwischen Individuen und über Generationen hinweg in Menschengruppen übertragen wird. Die Veränderungen, die sich in den Mustern dieses Energie- und Informationsflusses im Laufe der Zeit vollziehen, bestimmen den Verlauf der kulturellen Evolution. Wie wir uns als Spezies verändert haben, wird nicht nur von der genetisch vorangetriebenen Evolution unseres Gehirns bestimmt, sondern auch von der mentalen Evolution, die darin besteht, wie wir Energie und Informationen über Generationen kollektiv untereinander weitergeben. Dies ist die Evolution des Geistes und nicht die des Gehirns. Unserer Ansicht nach muss sich der Geist (Energie- und Informationsfluss) die Aktivität des Gehirns zunutze machen, um existieren zu können. Auf diese Weise benutzt der Geist das Gehirn, um sich selbst zu erschaffen.

Diese Perspektive entspricht dem wissenschaftlichen Kenntnisstand darüber, wie Geist und Gehirn miteinander verbunden sind. Es ist nicht nötig, den Versuch zu unternehmen, die Dimension der einen Realität so zu vereinfachen, dass sie mit der anderen zusammenfällt. Der Geist ist keine „bloße“ Gehirnaktivität, denn ein Energie- und Informationsfluss findet in einem Gehirn innerhalb des Körpers statt, und er geschieht auch innerhalb von Beziehungen. Um uns diese Sichtweise bildlich vorzustellen, können wir sagen, dass der Geist bei dem neuronalen Feuerverhalten im Gehirn „mitfährt“ und dass dieses „Mitfahren“ bidirektionalen, kausalen Einflüssen entspricht. Begriffe wie Mechanismen oder neuronal vermittelt sollen in dem vorliegenden Werk keine Kausalität in eine Richtung implizieren. Neuronale Vorgänge „korrelieren“ vielmehr mit mentalen Aktivitäten oder sind mit ihnen „verbunden“, wobei die eine Komponente die jeweils andere beeinflusst.

Beziehungen unter Menschen beinhalten ebenfalls den Fluss von Energie und Informationen und nutzen so auch dieselben Mechanismen. Diese gegenseitigen Verbindungen zwischen Gehirn, Geist und Beziehungen bilden ein Realitätsdreieck, auf das wir immer wieder zurückkommen werden. So können wir einen in drei Richtungen wirksamen Einfluss dieser drei nicht weiter reduzierbaren Dimensionen spüren.

Beziehungen prägen den Energie- und Informationsfluss – so wie es jetzt gerade durch diese Worte in Ihrem Geist geschieht. Doch die Aktivität des Gehirns prägt auch unmittelbar die Art und Weise, wie der Energie- und Informationsfluss reguliert wird. Jetzt im Moment aktiviert Ihr Gehirn möglicherweise bestimmte Feuergewohnheiten, die Sie davon ablenken, dem Text Aufmerksamkeit zu schenken. Das würde Ihre Fähigkeit beeinträchtigen, dieses besonderen Moments achtsam gewahr zu sein. Es könnte eine Ablenkung geben, und diese wird die Art und Weise prägen, wie sich der Energie- und Informationsfluss – der Fokus Ihrer Aufmerksamkeit – in diesem besonderen Moment vollzieht.

Die Aufmerksamkeit gegenüber dem gegenwärtigen Moment, die ein Aspekt des achtsamen Gewahrseins ist, kann durch unsere ständige Kommunikation mit anderen ganz unmittelbar geprägt werden, ebenso wie durch die Aktivitäten in unserem eigenen Gehirn. Einige der größten Herausforderungen beim Präsentsein stellen die hierarchischen Aktivierungsmuster in unserem Gehirn dar, die uns ständig mit ihrem neuronalen Feuern und mentalen Geplapper bombardieren.

Im nächsten Abschnitt werden wir in das Wesen der unmittelbaren Erfahrung und des achtsamen Gewahrseins eintauchen. Wir können alle Vorstellungen über Gehirn, Geist und Beziehungen im Hinterkopf behalten, rücken sie aber erst einmal beiseite, wenn wir uns in die subjektive Realität des Innenlebens vertiefen.

Teil II

Das Eintauchen in die unmittelbare Erfahrung

Kapitel 3

Eine Woche in Stille

Ich fliege von Los Angeles nach Boston, um an einem einwöchigen Retreat teilzunehmen, und ich bin aufgeregt. In den nächsten sieben Tagen werde ich zusammen mit einhundert anderen Wissenschaftlern in der Insight Meditation Society in Barre im US-Bundesstaat Massachusetts in Stille sitzen. Diese Zusammenkunft wurde vom Mind and Life Institute finanziert, einer Organisation, die sich der wissenschaftlichen Erforschung von Achtsamkeit und Mitgefühl widmet. Das Treffen ist ein einzigartiges Ereignis. Wann haben je zuvor einhundert Wissenschaftler, von denen sich die meisten auf das Studium des Gehirns spezialisiert haben, eine Woche lang zusammen in Stille gesessen und die „Achtsamkeitsmeditation“ erlernt?

Ich weiß, dass sich durch die Vermittlung von achtsamem Gewahrsein das körperliche und psychische Wohlbefinden von Menschen merklich verbessern kann. Am Mindful Awareness Research Center der UCLA haben wir vor kurzem eine achtwöchige Pilotstudie durchgeführt, die gezeigt hat, dass das Vermitteln meditativer Techniken die Ablenkbarkeit und Impulsivität der Probanden, unter denen sich unter anderem Erwachsene und Jugendliche mit genetischen Erkrankungen wie Aufmerksamkeitsdefizit- bzw. Hyperaktivitätsstörung befanden, entscheidend reduzieren konnte. Dennoch habe ich keine Erfahrung mit Meditation, mein Geist ist immer geschäftig und läuft auf Hochtouren, und ich habe noch nie so lange Zeit schweigend verbracht.

Ich habe einem Freund von dem bevorstehenden Schweigeretreat erzählt, und er meinte, mit anderen Menschen zu sprechen sei für ihn „Lebenselixier“, und sich mit anderen zu verbinden – das Gespräch, der Augenkontakt, die Nähe – sei es, was seinem Leben einen Sinn gäbe. Mir auch, sagte ich. Wie wird es sein, über lange Zeit vollkommen still zu sitzen und sieben Tage lang mit niemandem verbal oder nonverbal (Teil der Vereinbarung) zu kommunizieren? Warum tue ich das? Ich frage mich, ob es zu spät ist, von der ganzen Sache noch zurückzutreten.

Schweigende Wissenschaftler

Ich musste keine größeren Vorbereitungen treffen, außer warme Kleidung und Schuhe für diese Gelegenheit einzupacken, die mich mitten im Winter nach New England verschlagen sollte. Das Beste, was ich tun könne – so wurde mir geraten –, sei, zu Hause alles unter Dach und Fach zu bringen, so dass ich in der Stille des Retreats nicht den Drang verspüren würde, jemanden anzurufen, E-Mails zu schreiben oder welche zu beantworten. Als Psychiater, der sich für das Gehirn und für Beziehungen interessiert, konnte ich nicht umhin, mich zu fragen, was die Sprache verarbeitenden Regionen meiner linken Hemisphäre übernehmen würden, wenn sie sich – voraussichtlich – während der Meditation in Stille übten? Worte sind digitale Informationspakete, die uns selbst und anderen unsere Modelle der gedanklichen Realität vermitteln – wie wir die Welt sehen und wie wir über sie denken. Sie sind Teil der hierarchischen Maschinerie des Gehirns, um die eingehenden sensorischen Informationen zu ordnen und aus ihnen klug zu werden.

Aber dann denke ich an die Poesie – einen anderen Gebrauch von Sprache –, bei dem die streng hierarchischen Prozesse der linken Gehirnhälfte top-down, „von oben herab“ also, unsere unverfälschte Erfahrung in einem vorgefassten Raster organisieren. Dichtung schafft wie Stille eine neue Balance zwischen der Erinnerung und dem Moment. Wir sehen mit frischem Blick durch die Kunstfertigkeit des Dichters, die mit Worten eine neue Landschaft erhellt, die vorher hinter dem Schleier der Alltagssprache verborgen war. Unsere gewöhnliche Sprache kann ein Gefängnis sein; sie kann uns in unseren eigenen Redundanzen gefangen halten, unsere Sinne abstumpfen lassen, unseren Fokus trüben. Dichter und ihre Dichtungen hingegen bieten uns neue, nicht gekannte Möglichkeiten, das Leben zu erfahren, indem sie Mehrdeutigkeiten präsentieren, Worte in unvertrauter Weise verwenden, Elemente der wahrgenommenen Realität in neuen Kombinationen gegenüberstellen und Bilder evozieren. Vielleicht wird die Stille dieser Woche ja dasselbe bei mir bewirken.

Erster Tag

Ich komme bei der Insight Meditation Society an, wo ich die Woche mit anderen Wissenschaftlern verbringen werde. Nach einem kurzen Abendessen, einem Rundgang, der Zuweisung der täglichen Reinigungsaufgaben und einem einführenden Gespräch haben wir bereits mit der Stille begonnen. Es geht darum, in die subjektive Realität unseres eigenen Geistes einzutauchen. Mit einigen Anweisungen von den hier tätigen Lehrern der Einsichtsmeditation versehen, sollen wir tief in die Gewässer unseres eigenen inneren Ozeans eintauchen. Die Form der Achtsamkeit, die wir in dieser Woche erlernen werden, entstammt der zweitausendfünfhundert Jahre alten buddhistischen Praxis der Vipassana-Meditation, was häufig mit „klares Sehen“ übersetzt wird.

Am ersten Tag lernen wir, mit der kurzen Anweisung, einfach „unseren Atem zu beobachten“, in der Meditationshalle zu sitzen. Diese Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit zu fokussieren, ist der erste Schritt des Trainings in achtsamem Gewahrsein. Wenn wir merken, dass unsere Aufmerksamkeit sich vom Atem wegbewegt hat, so sagen uns die Lehrer, dann sollen wir den Fokus unserer Aufmerksamkeit sanft wieder auf den Atem richten. Das ist alles. Immer und immer wieder. Ich fühle mich erleichtert. Wie schwer kann das sein?

Doch gegen Ende des ersten Tages, an dem ich diesen Konzentrationsaspekt der Meditation geübt habe, ist meine Zuversicht definitiv in den Keller gesunken. Ich hatte geglaubt, das zu haben, was die Lehrer eine „gute Aufmerksamkeit“ nennen, doch tatsächlich folgt mein Geist wiederholte Male nicht der Anweisung, sich „einfach nur auf den Atem zu konzentrieren“. Einige Momente später scheint es mir, als könne ich kaum einen ganzen Atemzug machen, ohne dass sich mein Geist zu verschiedenen Gedanken hingezogen fühlt, wie ein Hund, der auf einem Spazierweg im Zickzack läuft und sich von diesem oder jenem verlockenden Duft auf dem Weg in die eine oder andere Richtung gezogen fühlt.

 

Unsere Lehrer sagen uns, dass dieses ständige Umherwandern ein vollkommen natürlicher Teil des Geistes sei, und sie schlagen uns vor, wir sollten einfach nur versuchen, uns jeweils auf einen halben Atemzug zu konzentrieren – einatmen, dann ausatmen. Das hilft etwas, doch mein Geist wandert immer noch in alle möglichen Richtungen ab. Manchmal wird das als „Wuchern des Geistes“ bezeichnet, so sagt man uns – die Art und Weise, wie die Gedanken immer mehr begriffliches Denken hervorbringen. Die Lösung für dieses Dilemma – sobald wir uns dessen bewusst werden, dass unser Geist von verirrten Gedanken „entführt“ worden ist – besteht darin, sich ruhig darauf zu konzentrieren, den Fokus wieder auf den Atem zu richten, wieder und immer wieder – mindestens eine Million Mal, so scheint mir, während der fünfundvierzig Minuten, die die Sitzmeditation dauert.

Nach jeder Sitzphase machen wir eine Gehmeditation, die von einer halben bis zu einer Stunde dauert. Während wir gehen, sollen wir den Fokus auf die Empfindungen in unseren Füßen und Waden richten, Schritt für Schritt. Wenn wir merken, dass sich unser Geist von dem Empfinden der Schritte entfernt, dann sollen wir unseren Fokus wieder zum Gehen zurückbringen. Es passiert genau dasselbe: Mein Geist hat ein Eigenleben und wandert, wohin er möchte, und nicht, wohin ich möchte.

Unsere Anweisungen werden im Laufe dieses ersten Tages erweitert. Wir lernen, dass die Konzentration auf den Atem den ersten Schritt zur Achtsamkeit, das heißt, unsere Aufmerksamkeit zu richten und aufrechtzuerhalten, verstärken wird. Indem wir lernen, unsere Aufmerksamkeit fokussiert zu halten, können wir den ständigen Strom eigensinniger Gedanken verhindern, die Konzepte, die unsere geistigen Prozesse umfassen und die sich dem wahren Erleben von Empfindungen in den Weg stellen. Empfindung ist das Tor zu unmittelbarem Erleben, sagen sie uns. Wenn wir einfach nur sehen, riechen, schmecken, berühren oder hören können (unsere ersten fünf Sinne), dann betreten wir das Reich des Im-Moment-Seins – ein von meiner jetzigen Position weit entferntes Reich, mit all dem Wirrwarr im Kopf, während ich einfach sitze und gehe und sitze und gehe. Es scheint, dass die Annäherung an die Empfindung uns befähigen soll, einfach nur zu erfahren, ohne das unerwünschte Eingreifen des Denkens.

Der erste Tag ist seltsam und anstrengend gewesen. In Stille zu sein und nicht direkt mit jemandem kommunizieren zu können, gibt mir ein Gefühl leichter Klaustrophobie. Ich habe den Drang, in Kontakt zu treten, aber es ist uns verboten, mit irgendjemandem mit Worten oder Gesten zu kommunizieren, Augenkontakt aufzunehmen oder durch den Gesichtsausdruck zu kommunizieren. Das ist die Regel, die es uns unmöglich macht, uns auf irgendeine Weise zusammenzutun; und ich fühle, dass ein Teil meines Gehirns darauf brennt, die vielen anderen zu erreichen, die hier sind. Ich fange an, mit mir selbst zu sprechen, und zwar nicht nur in Gedanken, sondern laut. Ich erzähle mir sogar selbst Witze und lache darüber. Dann sage ich „sch!“ zu mir selbst und erinnere mich an die Regel von der edlen Stille: keine Kommunikation mit irgendjemandem. Aber was ist mit mir selbst?

Während der Praxis versuche ich mich zu erinnern, was ich mir gesagt habe, bevor das hier begonnen hat: Lass jeden Atemzug zu einem Abenteuer werden. Jetzt sage ich mir: „Lass jeden halben Atemzug zu einem Abenteuer werden.“ Aber ich sage das mit Worten, und Worte sind irgendwie zum Feind geworden, sind wie wuchernde Konzepte, die mich vom unmittelbaren Empfinden abhalten. Ich bin gefangen. Ich fühle mich verwirrt. Ich fühle die Empfindungen unmittelbar, ich fühle oder ich denke, aber ich gebe auch nicht den gedanklichen, auf Worten basierenden Dialog in meinem Kopf auf – die Worte, die zusammenfassen, was ich tue, wie zum Beispiel spazieren gehen, einen Apfel essen –, statt dass ich es mich einfach tun lasse. Ich habe einen Erzähler in mir, der einfach nicht locker lässt. „Also los, versuche einfach diese Sojamilch zu trinken.“ S-O-J-A-M-I-L-C-H, lese ich auf der Packung, und die Buchstaben springen in mein Gesichtsfeld wie ein lange verlorener Freund. Die Worte sind sogar in meinem Geist aktiv, wenn ich während unserer Sitzungen sitze und gehe. Das gibt mir das Gefühl, dass ich nicht „achtsam meditiere“. Vielleicht bin ich einfach zu intellektuell und mit Ideen und Fragen, Worten und Konzepten angefüllt, um etwas wie das hier zu tun.

Zweiter Tag

Heute hat sich etwas verändert. Wir stehen jeden Tag um 5.15 Uhr auf und sind um 5.45 Uhr in der Sitzmeditation. Am Ende der ersten fünfundvierzigminütigen Sitzung hatte ich das erstaunliche Gefühl, als sei überhaupt keine Zeit vergangen. Ich setzte mich hin, begann, meinen halben Atem zu beobachten, und ehe ich mich’s versah, wurde die Glocke für unser Frühstück um 6.30 Uhr geschlagen. Ich war nicht eingeschlafen, da ich immer noch vollkommen aufrecht saß, mit geradem Kopf und unter mir gekreuzten Beinen. Dann brach ich zu einem langen, achtsamen Spaziergang im Schnee im Wald draußen vor dem Hauptgebäude auf. Auf einmal hatte ich einen wunderbaren Ausblick auf ein schneeüberzuckertes Tal, das von dem ebenfalls mit Schnee bedeckten Ast einer riesigen Kiefer eingerahmt wurde. Eiszapfen hingen von einem nahe gelegenen Felsblock herunter. Zu meiner Überraschung brach ich angesichts des lebendigen Anblicks, der Gerüche und der kühlen Luft auf meinem Gesicht, des Säuselns des Windes in den Bäumen und des knirschenden Schnees unter meinen Stiefeln in Tränen aus. Und dann hörte ich genauso schnell einen Gedanken in meinem Kopf sagen: „Du wirst eines Tages sterben, und nichts von dem hier wird für dich mehr vorhanden sein.“ Meine Heiterkeit schwand augenblicklich und wich einem tiefen Unglücklichsein. Ich fühlte mich niedergeschlagen und ernüchtert. Es war, als ob ein uralter Krieg zwischen Gedanken und Empfindungen ausgefochten würde, der in meinem isolierten Kopf noch um ein Vielfaches vergrößert erschien.

Später beschrieb ich während eines kurzen Gruppentreffens meinen Lehrern diese Erfahrung und fragte ihn, ob seine Achtsamkeitslehre eine Form sei, bei der man seine persönlichen Bevorzugungen ausspiele, so als ob Empfindungen besser seien als Gedanken oder irgendetwas anderes, was wir tun könnten, vielleicht sogar besser, als miteinander zu reden. Warum wurden Empfindungen Gedanken gegenüber bevorzugt? Eine Lehrerin sagte, dass wir bald lernen würden, dass alles, was aus dem Geist aufsteige, von Empfindungen bis hin zu Gedanken, ohne zu urteilen so akzeptiert werden solle, wie es komme. Ihre Anweisung war äußerst hilfreich und gab mir das Gefühl, dass es in meinem Kopf keinen Krieg mehr zwischen unmittelbarem Empfinden und begrifflichem Denken geben müsse. Aber ich war überrascht, dass eine so einfache Anweisung eine so riesige Verschiebung in meinem Erleben herbeiführen konnte.

Mit dieser neuen Perspektive im Hinterkopf machte ich eine bemerkenswerte Erfahrung, als ich beim Abendessen einen Apfel verzehrte. Wir sollten bei allen Mahlzeiten, ja sogar bei all unseren Aktivitäten neben dem formalen Sitzen und der Gehpraxis „achtsam“ sein. Das bedeutet, wach zu sein und sich dessen bewusst zu sein, was geschieht, während es geschieht. Ich beschloss, als Nachtisch einen Apfel zu essen. Da ich mich frei fühlte, sowohl zu denken als auch zu empfinden, beschloss ich, ein geistiges Experiment durchzuführen, bei dem ich die Erfahrung des Apfelverzehrens verstärken wollte. Ich schnitt ein Stück ab und sah mir seine Struktur an. Ich fühlte die Schale, das Fruchtfleisch und den Rand, wo sie sich berührten. Ich roch das Aroma des Apfels und atmete seinen wabernden, sich zunehmend ausbreitenden Duft ein. Ich beschloss sogar, das Stück Apfel an mein Ohr zu halten, um zu sehen, wie es klang (ja, ich weiß, das ist lächerlich, aber Moleküle schwingen, und genau daraus bestehen Töne, warum sollte ich es also nicht versuchen?). Doch alles, was ich hören konnte, waren die Geräusche der anderen im Raum, keine surrenden Atome, die mein Trommelfell erschütterten. Als ich den Apfel langsam in meinen Mund legte, konnte ich das Knirschen hören, die Explosion des Geschmacks spüren, die Stücke auf meiner Zunge und an meinen Zähnen fühlen und dann die Veränderung spüren, als die zu Brei zermalmten Stücke kleiner wurden und sich dann meine Kehle hinunterbewegten, in meine Speiseröhre hinein und weiter hinunter in meinen Magen.