Das achtsame Gehirn

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Stellen Sie sich folgende Situation vor. Sagen wir, jemand stößt sich schlimm den Zeh an und spürt die Intensität des daraus resultierenden Schmerzes. Wenn man jetzt zu sich selbst sagt: „Was war ich für ein Idiot, dass ich mir den Zeh gestoßen habe!“, dann wird das erlebte mentale Leiden größer sein als der Schmerz, der von dem Zeh ausgeht. In jenem Fall ist man sich des Schmerzes bewusst, doch man ist nicht von der COAL-Denkweise erfüllt. In diesem Fall schafft das Gehirn de facto mehr Leiden, indem es die Intensität des Schmerzes durch die Selbstbeschuldigung verstärkt. Das ist der ganze Unterschied zwischen der Intensivierung des Elends einerseits und dem Spüren des Schmerzes, ohne zu leiden, andererseits.

Die Essayistin, Naturforscherin und Dichterin Diane Ackerman hat auf unserem Mind and Moment-Treffen, auf dem sich Dichter, Praktizierende und Psychotherapeuten versammelt hatten, die Geschichte erzählt, wie sie in Japan einen Unfall hatte und fast gestorben wäre (siehe Anhang I zur Erklärung dieser und anderer Konferenzen und Organisationen zum Thema Achtsamkeit.) Sie war eine Klippe hinuntergeklettert, um einige seltene Vögel auf einer kleinen Insel zu untersuchen, und fiel hin, wobei sie sich mehrere Rippen brach, große Schmerzen erlitt und nach Atem rang. Ihre Beschreibung dieses Vorfalls (Ackerman, Kabat-Zinn, O’Donohue & Siegel 2006) zeigte, wie sie die Begegnung von Moment zu Moment mit Neugierde, Offenheit, Akzeptanz und Liebe anging. Diese geistige Haltung ermöglichte es ihr, aus diesem Ereignis zu lernen, die innere Stärke zu sammeln, die sie brauchte, um nicht nur den Unfall zu überleben, sondern durch denselben regelrecht aufzublühen.

Diese Unterscheidung zwischen dem Gewahrsein mit COAL und dem einfachen Aufmerksamsein mit vorgefassten Ideen, die den Geist gefangen halten („Ich hätte mir den Fuß nicht stoßen sollen, ich bin so ungeschickt.“ –„Warum bin ich diese Klippe hinuntergefallen? Was ist mit mir los?“), ist der Unterschied, der unendlich viel ausmacht.

Achtsames Gewahrsein zu kultivieren erfordert, dass wir uns des Gewahrseins gewahr werden und dass wir über dies hinaus in der Lage sind, zu bemerken, wann die vorgefassten Meinungen, die Ge- und Verbote „von oben herab“ uns ersticken und so davon abhalten, achtsam zu leben und gütig zu uns selbst zu sein. Der Begriff „von oben herab“ (top-down) bezieht sich auf die Art und Weise, in der unsere Erinnerungen, Glaubenssätze und Emotionen unser direktes Empfindung von Erfahrung „von unten herauf“ (bottom-up) prägen. Güte uns selbst gegenüber ist es, was uns die Stärke und Entschlossenheit verleiht, aus jenem Gefängnis „von oben herab“ auszubrechen und die Ereignisse des Lebens, seien sie nun geplant oder ungeplant, mit Neugierde, Offenheit, Akzeptanz und Liebe anzugehen.

Forschungen im Bereich des achtsamen Gewahrseins zeigen, dass wir tatsächlich eine solche Liebe uns selbst gegenüber kultivieren können. Unsere Herangehensweise an die Achtsamkeit als Form gegenseitiger Einstimmung könnte ein Schlüssel dafür sein, wie das zu erreichen ist. Sieht man Achtsamkeit als eine Form gegenseitiger Einstimmung an, könnte es möglich sein, die Mechanismen zu enthüllen, durch die wir mithilfe der Achtsamkeitspraxis selbst unser bester Freund oder unsere beste Freundin werden könnten. Wir würden unseren besten Freund schließlich auch freundlich und gütig behandeln. Einstimmung steht im Zentrum liebevoller Beziehungen aller Art: derjenigen zwischen Eltern und Kind, zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Therapeut und Patient bzw. Klient, zwischen Geliebten, Freunden und nahen Berufskollegen.

Mit dem achtsamen Gewahrsein, so können wir annehmen, tritt der Geist in einen Seinszustand ein, in dem die eigenen Hier-und-Jetzt-Erfahrungen unmittelbar gespürt werden, sie als das akzeptiert werden, was sie sind, und mit Güte und Respekt anerkannt werden. Das ist die Art von gegenseitiger Einstimmung, die Liebe fördert. Und diese gegenseitige Einstimmung, so glaube ich, ist es auch, die uns sehen hilft, wie achtsames Gewahrsein die Liebe uns selbst gegenüber fördern kann.

Es ist nachgewiesen worden, dass zwischenmenschliche Beziehungen emotionale Langlebigkeit fördern und uns dabei helfen, Wohlbefinden und körperliche Gesundheit zu erlangen (Anderson & Anderson 2003). Ich gehe hier davon aus, dass das achtsame Gewahrsein eine Form der Beziehung zu einem selbst ist, eine innere Form der Einstimmung, die in ähnlicher Weise gesundheitsfördernd ist. Dies könnte der bisher noch unidentifizierte Mechanismus sein, durch den Achtsamkeit das Wohlbefinden fördert.

Medizinische Anwendungsmöglichkeiten

Weil er die tiefe Bedeutung der Kraft der Achtsamkeit spürte, initiierte Jon Kabat-Zinn gegen Ende der siebziger Jahre ein Projekt zur Anwendung dieser uralten Ideen in einem modernen medizinischen Umfeld. Was als Inspiration während eines stillen Retreats begann, führte dazu, dass Kabat-Zinn an die medizinische Fakultät der Universität von Massachusetts herantrat, an der er lehrte. Er bat darum, Patienten aufnehmen zu dürfen, deren Situation sich durch konventionelle medizinische Interventionen nicht mehr verbessern ließ. Und er fragte sich auch, ob er irgendetwas zur Genesung derjenigen Patienten beitragen könne, die mit konventionellen Mitteln behandelt wurden. Die medizinische Fakultät, die froh war, einen Platz zu haben, an dem die Betroffenen hoffentlich etwas Erleichterung finden könnten, stimmte zu, und so wurde die Stress Reduction Clinic aus der Taufe gehoben und die „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ (Mindfulness-Based Stress Reduction, kurz MBSR) entwickelt (Kabat-Zinn 1990).

Das MBSR-Programm brachte Menschen mit den unterschiedlichsten chronischen Krankheiten, von Rückenschmerzen bis hin zu Schuppenflechte, die uralte Praxis der Achtsamkeit nahe. Kabat-Zinn und seine Kollegen, einschließlich Richard Davidson von der Universität Wisconsin in Madison, waren letztlich in der Lage, nachzuweisen, dass das MBSR-Training dazu beitragen konnte, subjektives Leiden zu verringern, die Immunfunktionen zu verbessern und die Heilung zu beschleunigen sowie zwischenmenschliche Beziehungen und ein allgemeines Gefühl von Wohlbefinden zu fördern (Davidson et al. 2003).

MBSR ist jetzt von Hunderten von Programmen auf der ganzen Welt übernommen worden, und die Forschung hat nachgewiesen, dass seine Anwendung physiologische, psychologische und zwischenmenschliche Verbesserungen bei einer Vielzahl von Patientenpopulationen herbeigeführt hat (Grossman et al. 2004).

Angesichts der Tatsache, dass diese übereinstimmenden Ergebnisse so stabil sind, und angesichts des wachsenden Interesses an Praktiken des achtsamen Gewahrseins war es nicht weiter überraschend, dass sich auch meine eigene Disziplin der geistigen Gesundheit der Essenz der Achtsamkeit zuwandte und sie als Grundlage verwendete, um Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen anzusprechen.

Unterscheidungsvermögen und Auswirkungen auf die geistige Gesundheit

Achtsamkeitspraktiken haben zahlreiche psychotherapeutische Ansätze beeinflusst, wobei die neueren Forschungen signifikante Verbesserungen bei verschiedenen Erkrankungen zeigen, die sich in einer Verringerung der Symptome und der Verhinderung von Rückfällen äußern (Hayes, Follette & Linehan 1993; Hayes, Strosahl & Wilson, 1999; Linehan 1993; Marlatt & Gordon 1985; Parks, Anderson & Marlatt 2001). Achtsamkeit kann darüber hinaus mittels kognitiver Therapie Rückfälle bei chronischen Depressionen verhindern (Segal, Williams & Teasdale 2002). In ähnlicher Weise ist Achtsamkeit als essenzieller Bestandteil der Behandlung von Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen im Rahmen der dialektischen Verhaltenstherapie (Dialogical Behavior Therapy, kurz DBT) verwendet worden (Linehan 1993). Von Marlatt und seinen Kollegen (2001) ist Achtsamkeit eingesetzt worden, um Rückfälle bei Drogenabhängigen zu verhindern. Die Prinzipien der Achtsamkeit sind außerdem ein ganz wesentlicher Bestandteil bei der Anwendung der zeitgenössischen Verhaltensanalyse in der ACT-Therapie, die auf Akzeptanz und innerer Verpflichtung beruht (Hayes 2004). Eine der ersten Studien, die gezeigt hat, dass Psychotherapie die Funktionsweise des Gehirns verändern kann, hat Achtsamkeitsprinzipien in der Behandlung von Menschen mit Zwangsneurosen eingesetzt (Baxter, Schwartz, Bergman, Szuba, Guze, Mazziotta et al. 1992). Mittlerweile sind mehrere Bücher erschienen, die sich mit dem Einsatz von Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie bei einer ganzen Reihe von Erkrankungen befassen – von Essstörungen bis hin zu Angstzuständen, posttraumatischem Stresssyndrom und Zwangserkrankungen (Hayes, Folette & Linehan 2004; Germer, Siegel & Fulton 2005; Segal, Williams & Teasdale 2002).

Die allgemeine Idee vom klinischen Nutzen der Achtsamkeit ist, dass das Annehmen der eigenen Situation den inneren Kampf erleichtern kann, der möglicherweise auftaucht, wenn die Erwartungen, wie das Leben sein sollte, nicht damit übereinstimmen, wie das Leben ist (Brach 2003; Hayes 2004; Linehan 1993a). Achtsam zu sein beinhaltet, zu spüren, was ist, sogar das eigene Urteilen zu spüren und zur Kenntnis zu nehmen, dass Empfindungen, Bilder, Gefühle und Gedanken kommen und gehen. Wenn Sie eine COAL-Haltung haben, dann läuft der Rest wie von selbst. Es gibt kein bestimmtes Ziel, kein Bemühen, etwas „loszuwerden“, sondern einfach nur die Intention, zu sein und, ganz spezifisch, das Im-Moment-Sein zu erleben, während man das Festhalten an Urteilen und Zielen loslässt.

Aus dieser reflektierenden und achtsamen COAL-Seinsweise aufzutauchen ist ein grundlegender – als „Einsicht“ bzw. „Urteilsvermögen“ oder „Unterscheidungsvermögen“ definierter – Prozess, der es ermöglicht, sich bewusst zu werden, dass die Aktivitäten des Geistes nicht die Gesamtheit dessen sind, was Sie sind.

 

Die Einsicht ist eine Form der Desidentifikation von den Aktivitäten Ihres Geistes: Indem Sie der auftauchenden Sinneseindrücke, Bilder, Gefühle und Gedanken (sensations, images, feelings, thoughts, kurz SIFT) gewahr werden, sehen Sie diese Aktivitäten des Geistes als Wellen auf der Oberfläche des geistigen Ozeans. Von diesem tieferen Platz Ihres Geistes aus, diesem inneren Raum achtsamen Gewahrseins, können Sie das Kommen und Gehen der Gehirnströme an der Oberfläche einfach wahrnehmen. Diese Fähigkeit, sich vom Geschwätz des Geistes zu lösen und zu erkennen, dass es sich dabei „einfach nur um Aktivitäten des Geistes“ handelt, ist befreiend und für viele Menschen revolutionär. Im Wesentlichen ist es dieses Unterscheidungsvermögen, durch das uns die Achtsamkeit dabei helfen kann, Leiden zu lindern.

Die Kraft des Unterscheidungsvermögens verleiht uns darüber hinaus die Weisheit, rücksichtsvoller und mitfühlender miteinander umzugehen. In dem Maße, wie wir Freundlichkeit und Güte uns selbst gegenüber entwickeln, können wir auch freundlich und gütig anderen gegenüber sein. Wenn wir uns von unseren automatischen mentalen Gewohnheiten befreien, dann sind wir frei dafür, uns auf ein tieferes Gefühl von Verbundenheit und Empathie gegenüber anderen einzulassen.

Achtsame Lehre und Therapie

Eine achtsame Herangehensweise an die Therapie sowie an Bildung und Erziehung beinhaltet Veränderungen in unserer Einstellung gegenüber den Menschen, mit denen wir arbeiten. Die aktive Beteiligung des Schülers bzw. der Schülerin am Lernprozess befähigt den Lehrer, sich der Entdeckungsreise, die das Unterrichten sein kann, als gleich gesinnter Erforscher anzuschließen: Wir können das Wissen ebenso wie die Ungewissheit mit Neugierde, Offenheit, Akzeptanz und freundlicher Aufmerksamkeit bereitwillig annehmen. Der Lehrer muss keine Quelle absoluten Wissens sein, was einer Illusion gleichkäme. Vielmehr können sich der Pädagoge und die Schüler gemeinsam der aufregenden Herausforderung stellen, ein Wissensgerüst zu entwickeln, welches das Wesen des Wissens und die ihm innewohnende Kontextabhängigkeit sowie subtile Quellen des Neuen und Differenzierenden einbezieht.

Den Einzelnen in der Psychotherapie auf ähnliche Weise zu sehen, scheint für viele Therapeuten etwas Neues zu sein. In dem Ringen darum, welche Terminologie sie in ihrem Buch über Achtsamkeit und Psychotherapie verwenden sollten, schrieben Germer, Siegel und Fulton (2005): „Eine wesentliche Herausforderung bei der Zusammenstellung dieses Buches bestand darin, zu einer einheitlichen Verwendung der Begriffe ‚Klient‘ bzw. ‚Patient‘ zu gelangen. Unser Berufsstand hat diese Diskussion noch nicht beendet, und wir werden es auch nicht tun. Nach eingehenderen Untersuchungen entschieden wir uns jedoch für ‚Patient‘. Von der Etymologie her bedeutet Patient ‚einer, der Leid erträgt‘, während ‚Klient‘ bedeutet, ‚einer, der sich unter den Schutz eines Schirmherrn stellt‘. Da Doktor ‚Lehrer‘ bedeutet, könnte gesagt werden, dass wir ‚Menschen lehren, die Leid ertragen‘. Diese Bedeutung entspricht der ursprünglichen Verwendungsweise der Achtsamkeit vor zweitausendfünfhundert Jahren: Sie ist eine Lehre, die Leiden lindert“ (S. XV).

Mit diesen Erkenntnissen im Hinterkopf werden wir auch den Begriff „Patient“ in diesem Text verwenden. Diese Diskussion betrifft auch unsere Herangehensweise an die Psychotherapie einerseits und an Bildung und Erziehung andererseits als zwei Bereichen, in denen diese Vorstellungen über das achtsame Gehirn umgesetzt werden. Achtsamkeit hat unmittelbare Auswirkungen darauf, das Leben von Menschen im Unterricht und im klinischen Umfeld zu verbessern, indem sie die verschiedenen medizinischen und psychologischen Stressfaktoren und Krankheiten anspricht.

Bei ihrer Suche nach einem wirksamen Ansatz für die Behandlung der weitverbreiteten chronischen Depression haben sich die anerkannten kognitiven Therapeuten Zindel Segal, Mark Williams und John Teasdale für die Achtsamkeit als einer Fähigkeit begeistert, die für ihre Bemühungen nützlich sein könnte (Segal, Williams & Teasdale 2002). Zu Beginn sahen sie die positiven Auswirkungen dieses Ansatzes als Folge des Aufmerksamkeits-Fertigkeitstrainings an, fanden jedoch bald heraus, dass die achtsame Präsenz des Therapeuten eine entscheidende Rolle für die Wirksamkeit der Behandlung spielte. Ihre Rücksprachen mit Kabat-Zinns MSBR-Klinik führten zur endgültigen Verschiebung ihres Schwerpunkts und der Entwicklung der Achtsamkeitsbasierten Kognitiven Therapie (Mindfulness-Based Cognitive Therapy, kurz MBCT), die sich als erste Form von Psychotherapie erwies, die Rückfälle bei Menschen mit chronischen depressiven Phasen verhindern konnte. Ihre Beschreibung dieser Verschiebung ist aufschlussreich:

Bei unserer eigenen Ausbildung hatte man uns beigebracht, dass wir, wenn wir mit einem schwierigen klinischen Problem konfrontiert waren, mit dem Patienten zusammenarbeiten sollten, um herauszufinden, wie man es am besten lösen könnte. Und dies, indem man beispielsweise herausfand, welche Gedanken, Interpretationen und Annahmen das Problem verursachen oder verschärfen könnten. Wir rechneten damit, dieselbe Herangehensweise bei der Entwicklung des Aufmerksamkeitskontrolltrainings verfolgen und die Achtsamkeitstechniken auf diesen therapeutischen Grundrahmen „aufschrauben“ zu können. Durch unsere späteren Besuche in der Stress Reduction Clinic wurde jedoch deutlich, dass wir, sofern wir nicht die Grundstruktur unserer Behandlung veränderten, uns ständig mit den schwierigsten Problemen konfrontieren würden, indem wir immer durchdachtere Wege suchten, sie zu lösen. Stattdessen erschien es uns jetzt so, dass die übergeordnete Struktur unseres Behandlungsprogramms sich von einem Modus, in dem wir die Therapeuten waren, verändern musste zu einem, in dem wir die Dozenten waren. Worin bestand der Unterschied? Als Therapeuten fühlten wir uns angesichts unserer Verwurzelung in der kognitiv-verhaltensorientierten Tradition dafür verantwortlich, Patienten zu helfen, ihre Probleme zu lösen, die „Knoten“ ihres Denkens und Fühlens „aufzuschnüren“, ihr Leiden zu reduzieren und solange bei einem Problem zu bleiben, bis es gelöst war. Im Gegensatz dazu sahen wir, dass die MBSR-Dozenten die Verantwortung eindeutig bei den Patienten ließen und ihre primäre Rolle darin sahen, Patienten zu befähigen, sich von Moment zu Moment achtsam auf ihr eigenes Erleben zu beziehen (S. 59).

Die Akzeptanz und das Unterscheidungsvermögen der Achtsamkeit quasi als Therapeuten einzubeziehen befähigt uns, zum Mitreisenden auf diesem ungewissen Lebenspfad zu werden. In ähnlicher Weise können wir uns als Lehrer zu unseren Studenten gesellen und die Welt durch die Brille kreativer Ungewissheit sehen, welche die sich immer wieder verändernde Landschaft der äußeren und inneren Welten unseres dynamischen Lebens in der Tiefe anerkennt.

Warum sprechen wir vom „achtsamen“ Gehirn?

Durch die Erforschung potenzieller Mechanismen im Gehirn, die mit Achtsamkeit korrelieren, wird es möglich, die Verbindung zwischen unserer gewöhnlichen Alltagssicht der Achtsamkeit, der pädagogischen Nutzung kognitiver Achtsamkeitskonzepte und der klinischen Anwendung der Praktiken des reflektiven achtsamen Gewahrseins zu sehen, wie sie im Bereich körperlicher und geistiger Gesundheit zum Einsatz kommen. Diese in manchen Fällen uneinheitlichen Verwendungen des Begriffs Achtsamkeit könnten jedoch auf dieselben neuronalen Bahnen zurückgreifen. Wenn wir diese mit kognitiver und reflektiver Achtsamkeit verbundenen neuronalen Mechanismen erhellen, dann könnte uns das dabei helfen, unser wissenschaftliches Verständnis zu erweitern und so den Weg dafür zu ebnen, spezifische, überprüfbare Fragen zu stellen. Solche neuronalen Einsichten könnten darüber hinaus Licht darauf werfen, wie praktische Anwendungsmöglichkeiten der Achtsamkeit entwickelt und umgesetzt werden könnten, und zwar auf eine Weise, wie wir sie uns bisher noch nicht vorgestellt haben. Indem wir zeigen, wie Achtsamkeit unsere sozialen neuronalen Schaltkreise beeinflusst, könnten wir in der Lage sein, unser Verständnis ihrer Auswirkungen auf das physiologische und psychische Wohlbefinden zu erweitern.

Eine weitere wichtige Dimension des achtsamen Gehirns ist, dass wir, indem wir die mit achtsamem Gewahrsein verbundenen neuronalen Mechanismen verstehen, vielleicht eher in der Lage sind, seine universellen menschlichen Qualitäten zu identifizieren und es für ein breiteres Publikum zugänglicher und glaubhafter zu machen. Können Sie sich eine Welt vorstellen, in der diese die Gesundheit fördernde, die Empathie erhöhende, die exekutive Aufmerksamkeit entwickelnde, das Mitgefühl mit sich selbst nährende, erschwingliche und anpassungsfähige geistige Praxis für jeden verfügbar wäre?

Zwei Arten des Wissens

Bei der Vorbereitung auf die Erforschung dieser Themen habe ich mich mit zwei Arten des Wissens befasst – dem erfahrungsbezogenen und dem experimentellen. Ich habe an einer Reihe intensiver und unmittelbarer Versenkungen in das achtsame Gewahrsein teilgenommen, um die Kraft dieser bedeutenden Art, im Leben zu sein, zu spüren. Dieser Aspekt der Reise, über den ich noch sprechen werde, befähigt uns, die innere Dimension der Achtsamkeit quasi von innen nach außen zu erleben. Die zweite Art des Wissens ist gleichermaßen kraftvoll, jedoch anders geartet: Hier geht es um die wissenschaftliche Sicht auf das achtsame Gewahrsein.

Ich erhielt eine Einladung, bei einem Sommer-Forschungsprogramm zu unterrichten. Dieses Programm wurde vom Mind and Life Institute gesponsert, das sich unter der Führung des Dalai Lama um die Integration von Wissenschaft und Meditation bemüht hat. Vertreter anderer Praktiken, unter anderem des kontemplativen christlichen Gebets, des dem Taoismus entstammenden Tai-Chi und des Yoga besuchten das Institut: Es gibt viele Wege, um achtsames Gewahrsein zu trainieren. Ich war auf einer Podiumsdiskussion und sprach über die klinischen Anwendungen von Achtsamkeit und die Transformation des Affekts durch Meditation. Bevor ich anfing, wollte ich ein Gespür dafür bekommen, welche Grundkenntnisse das Publikum in Neuroanatomie hatte, so dass ich die Einzelheiten meines Vortrags darauf abstimmen konnte. Als ich fragte: „Wer hier weiß, wie das Gehirn funktioniert?“, entgegnete einer meiner Podiumspartner, Richard Davidson, ein renommierter Forscher auf dem Gebiet der affektiven Neurowissenschaft: „Keiner von uns!“ Wir alle lachten und erkannten, wie Recht er hatte.

Das Gehirn ist ein komplexes System, und wir „wissen“ nicht wirklich zur Gänze, wie es funktioniert, noch, auf welche Weise seine Funktionen genau mit der subjektiven Natur des Geistes verbunden sind. Und noch viel weniger wissen wir, wie achtsames Gewahrsein funktioniert. Aber dennoch stehen uns viele faszinierende Hinweise darauf zur Verfügung, wie geistiges Erleben und Gehirnstruktur und -funktion zusammenwirken. Die Gehirnfunktion und das geistige Leben sind nicht identisch. Wenn wir mit der Erforschung des achtsamen Gewahrseins befasst sind, dann müssen wir sehr bescheiden sein und sagen, dass wir nur sehr wenig über die Rolle des Gehirns dabei wissen. Doch wenn man sich unvoreingenommen den neuronalen Aspekten der Achtsamkeit zuwendet, dann kann das nur dazu beitragen, Licht auf die damit verbundenen Prozesse und Mittel zu werfen, um diese wichtige Dimension unseres subjektiven Lebens zu kultivieren. Und die daraus resultierenden Erkenntnisse könnten die objektive Natur unseres Körpers, unserer Beziehungen und unseres seelischen Wohlbefindens weiter bereichern.

Wir können sagen, dass Geist und Gehirn sich in ihren Funktionen entsprechen, doch wir wissen de facto nicht, auf welche Weise Gehirnaktivität und Geistesfunktionen sich gegenseitig hervorbringen. Es ist allzu einfach, nur zu sagen, dass „das Gehirn den Geist erzeuge“, da wir mittlerweile wissen, dass der Geist auch das Gehirn aktivieren kann. Der Prozess, der den Energie- und Informationsfluss reguliert (unsere Definition von Geist), kann das Feuern des Gehirns direkt anregen und letzten Endes auch die strukturellen Verbindungen im Gehirn umgestalten.

Wir können auf das Gehirn schauen, um Entsprechungen zu mentalen Prozessen zu finden, wie etwa beim achtsamen Gewahrsein. Diese Verbindungen sind einfach nur das: keine kausalen Beweise, sondern zwei Dimensionen der Realität, die letzten Endes nicht aufeinander reduziert werden können. Davidson und seine Kollegen haben zum Beispiel eine Verlagerung der Gehirnfunktion zu einer Dominanz des linken Frontallappens als Reaktion auf emotionale Auslöser festgestellt (Davidson et al. 2003), die mit einer Annäherungshaltung und positiveren Emotionen assoziiert werden, wie wir in Kapitel 10 sehen werden. Diese Linksverlagerung in Schaltkreisen, die für das Regulieren von Emotionen zuständig sind, korrelierte unmittelbar mit dem Grad an Verbesserung bei der Immunabwehr.

 

Eine weitere Studie (Lazar, Kerr, Wasserman, Gray, Greve & Treadway 2005) zeigte eine Vergrößerung von zwei Gehirnbereichen: (1) des mittleren Präfrontalbereichs auf beiden Seiten und (2) diejenige eines damit verbundenen neuronalen Schaltkreises, der Inselrinde, die insbesondere auf der rechten Gehirnseite dicker war. Die Dicke in diesen Arealen hing mit der Länge der Zeit zusammen, in der die Achtsamkeitsmeditation praktiziert worden war. Hier sehen wir sowohl eine linksseitige als auch eine rechtsseitige Korrelation mit den Praktiken des achtsamen Gewahrseins (siehe Anhang III, Lateralität). Studien über andere Meditationsformen, bei denen man sich zum Beispiel auf das Mitgefühl konzentriert, zeigen wieder andere Veränderungen, wie etwa eine erhöhte Feuerkoordination, insbesondere im Präfrontalbereich auf beiden Seiten des Gehirns (Lutz, Greischar, Rawlings, Ricard & Davidson 2004). Eine umfangreiche Bewertung vieler Studien (Cahn & Polich 2006) zeigt eine ganze Reihe von Aktivierungen, insbesondere in den mittleren Präfrontalbereichen (anteriores Cingulum) durch die Achtsamkeitsmeditation.

Ein positiver Effekt bei der Beschäftigung mit dem Gehirn und der Suche nach Entsprechungen mit dem Geist, zeigt sich darin, dass wir mehr über den Geist selbst lernen können. Bei der Untersuchung des achtsamen Gehirns werden wir uns nicht nur mit diesen und anderen Studien über Emotionen, Aufmerksamkeit und Exekutivfunktionen beschäftigen, sondern auch in das neue Gebiet der sozialen Neurowissenschaft eintauchen. Das achtsame Gewahrsein auch als Beziehung zu sich selbst anzusehen, die sich die neuronalen Schaltkreise unseres sozialen Lebens zunutze macht, könnte neues Licht auf die fundamentalen Prozesse werfen, die in der Erfahrung der Achtsamkeit verborgen liegen.

Vorläufige Forschungen zu den Gehirnfunktionen deuten an, dass Achtsamkeit das Gehirn verändert. Warum sollte die Art und Weise, wie Sie im gegenwärtigen Moment aufmerksam sind, Ihr Gehirn verändern? Die Art und Weise, wie wir aufmerksam sind, fördert die neuronale Plastizität – die Umgestaltung neuronaler Verbindungen als Reaktion auf Erfahrung. Was wir untersuchen werden, sind die möglichen Mechanismen, wie sich die verschiedenen Dimensionen achtsamen Gewahrseins in der Aktivität des Gehirns niederschlagen und dann das Wachstum der Verbindungen in diesen Bereichen anregen. Indem wir tief in das unmittelbare Erleben eintauchen, werden wir in der Lage sein, etwas Licht darauf zu werfen, warum Forschungsergebnisse Veränderungen auf der linken und rechten Seite zeigen und welche globalen Auswirkungen sich dadurch für das integrative Funktionieren des Gehirns als Ganzes ergeben könnten.

Achtsamkeit als Beziehung, die Integration fördert

Lange bevor wir unseren Geist mithilfe von Reflektion zu kultivieren versuchten, haben wir uns als soziale Geschöpfe weiterentwickelt. Ein großer Teil unseres Gehirns im Ruhezustand, in der Standardeinstellung sozusagen, scheint ein neuronaler Schaltkreis zu sein, der mit dem Verstehen anderer in Beziehung steht (Gusnard & Raichle 2001). Es sind die sozialen Schaltkreise des Gehirns, die wir zuerst benutzt haben, um den Geist, die Gefühle, Intentionen und Einstellungen anderer zu verstehen. Wenn wir das achtsame Gewahrsein als einen Weg ansehen, um das Bewusstsein des Geistes von sich selbst zu kultivieren, dann erscheint es wahrscheinlich, dass es sich Aspekte der ursprünglichen neuronalen Mechanismen zunutze macht, um sich des Geistes anderer bewusst zu werden. Wenn wir uns unserer eigenen Intentionen und des Fokus unserer Aufmerksamkeit bewusst werden, dann verwenden wir dazu vielleicht genau diejenigen Schaltkreise im Gehirn, die zuerst Landkarten von der Intention und Aufmerksamkeit anderer erzeugt haben. COAL ist genau die geistige Haltung, die Eltern gegenüber ihren Kindern haben, denen sie eine sichere Bindung mit auf den Weg geben. Wir können sagen, dass die gegenseitige Einstimmung bei der sicheren Bindung zwischen Eltern und Kind einer intrapersonalen Form von Einstimmung beim achtsamen Gewahrsein entspricht. Beide Formen von Einstimmung fördern die Fähigkeit zu engen Beziehungen sowie Resilienz und Wohlbefinden (siehe Kapitel 9 zur weiteren Erörterung des Themas Bindung).

Vergleicht man Studien über sichere Bindung mit solchen über Praktiken des achtsamen Gewahrseins, stellt man erstaunliche Überschneidungen in den Ergebnissen fest (Kabat-Zinn 2003b; Sroufe, Egeland, Carlson & Collins 2005). Ich habe außerdem festgestellt, dass viele der Grundfunktionen, die bei diesen beiden scheinbar so unterschiedlichen Themen auftauchten, mit dem Präfrontalkortex verbunden waren. Zu diesen Funktionen gehören die Regulierung der Körpersysteme, das Ausgleichen von Emotionen, die Einstimmung auf andere, das Modulieren von Angst, flexible Reaktionen und das Zeigen von Einsicht und Empathie. Zwei andere Funktionen dieser Präfrontalregion – nämlich in Kontakt mit Intuition und Moral sein – sind in der Bindungsarbeit nicht untersucht worden, schienen jedoch ein Ergebnis der Praxis des achtsamen Gewahrseins zu sein (siehe Anhang III, Die Funktionen des mittleren Präfrontals).

Der Vorschlag, den meine Kollegen und ich früher unterbreitet hatten (siehe Cozolino 2002; Schore 2003a, 2003b; Siegel 1999, 2001b; Siegel & Hartzell 2003; Solomon & Siegel 2003), bestand darin, dass die Beziehungen der sicheren Bindung zwischen Eltern und Kind ebenso wie die effektive therapeutische Beziehung zwischen Kliniker und Patient das Wachstum der Fasern in dieser Präfrontalregion förderten.

Die Präfrontalfunktion ist integrativ. Das bedeutet, dass lange Stränge der Präfrontalneuronen bis in weit entfernte und abgegrenzte Bereiche des Gehirns und des Körpers hineinreichen. Diese Verbindung von abgegrenzten Elementen ist die wörtliche Definition eines fundamentalen Prozesses, nämlich der Integration. Aus vielerlei Gründen, die an anderer Stelle erörtert werden, kann die Integration als grundlegender gemeinsamer Mechanismus für verschiedene Bahnen angesehen werden, die zu Wohlbefinden führen (Siegel 1999, 2001b, 2006, im Druck).

Wie fördert Einstimmung die Integration?

Wenn die Beziehungen zwischen Eltern und Kind aufeinander abgestimmt sind, dann ist das Kind in der Lage, sich „gefühlt zu fühlen“, und es hat ein Gefühl von Stabilität im gegenwärtigen Moment. Während der Interaktion im Hier und Jetzt fühlt sich das Kind gut, verbunden und geliebt. Die innere Welt des Kindes wird von den Eltern klar gesehen, und die Eltern lernen, mit dem Zustand des Kindes in Resonanz zu gehen. Das ist Einstimmung.

Im Laufe der Zeit befähigt diese eingestimmte Kommunikation das Kind, die regulierenden Schaltkreise im Gehirn zu entwickeln – einschließlich der integrativen Präfrontalfasern –, die für einen Menschen in der Zeit des Wachstums eine Quelle von Resilienz darstellen. Diese Resilienz nimmt die Form der Fähigkeit zur Selbstregulation und des Einlassens auf andere in empathischen Beziehungen an. Hier sehen wir, dass gegenseitige Einstimmung – die grundlegende Eigenschaft einer sicheren Bindung – zu den empirisch nachgewiesenen Ergebnissen führt, die wir oben beschrieben haben.