Die drei Emigrationen der Sonja Berg

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Dieses kleine Stück Papier war wahrscheinlich lebensrettend für mich und meine Eltern. Das habe ich mir im Laufe der Jahre immer wieder gesagt. Aus dieser sehr persönlichen Erfahrung, wie wichtig es ist, dass es auf der Welt uneigennützige Helfer gibt, haben Heinz und ich beschlossen, Menschen in politisch bedingter Bedrängnis zu unterstützen. Deshalb kümmern wir uns heute um politische Gefangene bei Amnesty International.«

23Bei einer anschließenden Rekonstruktion des Falles fand man heraus, dass aufgrund einer chemischen Reaktion der Zucker im Nachtisch das Strychnin neutralisiert hatte.

24Alexander Fjodorowitsch Kerenski (1881–1970) war seit Juli 1917 Chef der nach der Februarrevolution geschaffenen provisorischen Regierung, wurde von den Bolschewiki in der Oktoberrevolution abgesetzt und ging ins Exil.

25Heute Liepaja, Lettland.

26Dass Sonja an dieser Stelle berlinerte, was sie sonst nicht tat, mag damit zusammenhängen, dass ihre Mutter – zumindest scherzhaft – gelegentlich so mit ihr sprach.

27Wahrscheinlich war dies ein sogenannter ›Politkommissar‹ – die Kommunistische Partei setzte solche Kommissare zur Kontrolle aller öffentlichen Institutionen ein, damit diese stets im Sinne der Partei entschieden.

Strugi Bjelaja
Spurensuche, Berlin 2017

Warum entschloss sich Sonjas Vater gerade im Oktober 1918 zur Flucht? Was geschah in diesen Tagen genau in St. Petersburg? Wie verlief die Fluchtroute? Wo fuhr der Zug ab, wo war der Umsteigepunkt, an dem Sonja ihre Eltern verlor, und wo der Endbahnhof, an dem sie sie wieder traf?

Zunächst scheint es, als sei niemand mehr da, der mir diese Fragen beantworten könnte. Ich sende Stephanie meine Aufzeichnungen, aber weitere Details dazu kennt sie auch nicht. Aber sie schickt mir einen Scan des Propusk. Es handelt sich um ein winziges vergilbtes Zettelchen. Ich erinnere mich: Sonja bewahrte es in einem kleinen Pergamenttütchen in ihrem Fotoalbum auf. Es ist eine aus einem Notizbuch herausgetrennte Seite, fast quadratisch, mit vielleicht 3 x 3 cm Seitenlänge. Jemand hat mit Tinte nur ein paar Worte darauf geschrieben – übersetzt heißt es:

»Ich bitte das Mitfahren mit dem Güterzug zu erlauben, da deren Tochter 14 J. alleine nach Toroschino weggefahren ist.

8/10-18 Stempel: Strugi-Bjelaja. Kommissar [unleserliche Unterschrift]«

Das genaue Datum der Ausreise kenne ich damit auch – der 8. Oktober 1918. Toroschino muss eine Bahnstation sein. Aber wo im Umkreis von St. Petersburg und in welcher Entfernung könnte sich ein solcher Ort befinden? Auf der Landkarte finde ich nichts Passendes – er ist wahrscheinlich zu klein. Heißt er überhaupt noch so, nach den Ortsumbenennungen der Revolution und der Sowjetzeit? Auch die richtige Umschrift aus dem Kyrillischen erschwert die Suche. Ich nehme mir den Propusk wieder vor. Auf dem kleinen Stempelabdruck steht ›Strugi Bjelaja‹. Bjelaja heißt weiß – was bedeutet Strugi? Meine paar Brocken Russisch reichen dafür nicht. In der Hoffnung auf eine Übersetzung gebe ich ›Strugi Bjelaja‹ in die Suchfunktion des Browsers ein. Zu meiner Überraschung erscheint eine Website mit einem estnischen Text. Dazu fehlt mir nun jeder sprachliche Zugang … Aber so viel erkenne ich: er handelt von einer für Estland bedeutsamen Persönlichkeit – es steht ein Geburtsdatum da, dahinter ›Strugi Bjelaja‹. Also auch ein Ortsname – offenbar an der damaligen Grenze. Außerdem steht auf der Website etwas über das Jahr 1919, und danach ›Strugi Krasnyje‹. Krasnyj bedeutet rot. Ohne Estnisch zu können, verstehe ich: Strugi Bjelaja wurde 1919 in Strugi Krasnyje umbenannt, von weiß zu rot, unter dem Eindruck der neuen Machtverhältnisse. Die Zaristen, die Weißen, waren von den Roten besiegt worden. Ich suche weiter, gebe Strugi Krasnyje ein. Zu meiner Überraschung öffnet sich die Homepage der Deutschen Bahn. Ein Auslandsfahrplan erscheint:

St. Petersburg Vitebski 18:44, …, Strugi Krasnyje 22:14, Toroshino 23:06, Pskow Pass 23:43.

Da habe ich den Zug! Er endet – nach etwa 90 Kilometern – am Zielbahnhof Pskow (Pleskau). Dort muss Sonja auf die Eltern gewartet haben. Ich schaue mir die Karte an. Von Pskow geht eine Bahnlinie nach Westen, mit Endpunkt Riga. Von dort kann man nach Libau weiterfahren. Mit Hilfe der Deutschen Bahn habe ich die Fluchtroute rekonstruiert. Die Fahrt ist wahrscheinlich auch damals am Witebsker Bahnhof in St. Petersburg losgegangen. Die Hauptstrecke nach Pskow verläuft heute anders, aber auf alten Karten sehe ich, dass die Züge damals alle die Strecke benutzten, an der Strugi Bjelaja liegt.

Beim Betrachten der Landkarte stellt sich mir die nächste Frage: Wieso war hier, nördlich von Pskow, eine Grenze? Welche Länder grenzten hier aneinander? Die baltischen Staaten existierten damals noch nicht, sie entstanden erst durch den Versailler Vertrag 1919. Ich schaue historische Karten mit damaligen Grenzverläufen an. 1918 galt der Friedensvertrag von Brest-Litowsk. Die darin festgelegte Grenze verläuft etwa 200 km weiter westlich, bei Riga, nicht bei Pskow.

Erst nach einigem Suchen finde ich den fehlenden BausteinXII: Etwa seit Mitte 1917 war die russische Armee faktisch kampfunfähig. Es kam zum Waffenstillstand mit Deutschland, dem es nicht ungelegen kam, keinen Zweifrontenkrieg mehr führen zu müssen. Die deutsche Regierung versuchte daraufhin, einen Separatfrieden mit Russland auszuhandeln – angesichts der schlechten Lage an der Westfront so schnell wie möglich. Die russische Regierung zögerte, denn die darin gestellten Konditionen waren denkbar schlecht. Um Russland zum Vertragsabschluss zu zwingen, rückten deutsche Truppen im Februar 1918 über die Waffenstillstandslinie vor. Die russische Seite war nicht in der Lage, Widerstand zu leisten. Um einen Vormarsch der Deutschen bis St. Petersburg zu verhindern, unterzeichnete die Sowjetregierung am 3. März 1918 hastig den Friedensvertrag von Brest-Litowsk. Die deutschen Truppen befanden sich zu diesem Zeitpunkt schon gut 200 km östlich der Vertragsgrenze von Brest-Litowsk, Pskow war bereits besetzt. Nach dem Friedensschluss zog sich das deutsche Militär nicht etwa hinter die Waffenstillstandslinie zurück, sondern eine sogenannte ›Deutsche Polizeimacht‹ blieb in den besetzten russischen Gebieten. Die deutsche Regierung plante, sich diese Gebiete entweder nach Kriegsende einzuverleiben oder als Faustpfand gegen andere Forderungen einzusetzen.

Aus diesen in vielen Geschichtsbüchern nicht erwähnten Umständen des Friedens von Brest-Litowsk ergab sich die eigentümliche Demarkationslinie nördlich von Pskow, mit Strugi Bjelaja als Grenzbahnhof. Pskow, wohin der Zug weiterfuhr, war noch im Oktober 1918 von deutschen Truppen besetzt. Andererseits war zu dieser Zeit die totale Niederlage Deutschlands bereits absehbar, sodass es eine Frage der Zeit war, bis die sogenannte deutsche Polizeimacht abgezogen würde. Ich finde eine weitere wichtige Information: Am 27. August 1918 wurde im sogenannten Deutsch-Russischen Ergänzungsvertrag (zum Vertrag von Brest-Litowsk) die Räumung der von Deutschland besetzten Gebiete festgelegt. Die Ratifizierungsurkunden wurden am 6. September 1918 ausgetauscht, darin war ein sofortiges Inkrafttreten festgelegt. Die Bekanntmachung darüber erfolgte am 1. Oktober 1918. Tatsächlich wurden Pskow und die Gebiete östlich der Linie von Brest-Litowsk im November 1918 mit der deutschen Kapitulation geräumt.

Vielleicht hatten Sonjas Eltern von diesen Vorgängen Kenntnis erhalten. Vielleicht packten sie die Koffer aus der Überlegung heraus, dass es umso schwieriger würde, Russland zu verlassen, wenn diese Demarkationslinie zurückwich. Verbreitete sich diese Nachricht mündlich unter den verbliebenen deutschsprachigen Petersburgern, las Gustav möglicherweise in der Zeitung davon? Hätte eine solche Information damals noch in einem in der Stadt erhältlichen Blatt gestanden? Wohl eher nicht. Es lässt sich nicht mehr rekonstruieren, über welche Informationskanäle die Hackels verfügten, aber in irgendeiner Weise werden diese Vorgänge den Ausschlag zur Flucht gegeben haben.

Um mehr Hintergründe zu bekommen, wie sich die Lage für die Hackels zwischen der Oktoberrevolution 1917 und ihrer Flucht im Oktober 1918 darstellte, suche ich nach großen und kleinen Ereignissen, die schrittweise das Leben der Menschen in Russland veränderten. Ich lese über die Schüsse des Panzerkreuzers ›Aurora‹, die Besetzung der Bahnhöfe und Telegrafenstationen durch die Bolschewiki usw. – die großen politischen Linien. Aber wie erlebten die Menschen in ihrem Alltag die bolschewistische Machtübernahme? Es mag sein, dass sie die heute als Meilensteine der Revolution betrachteten Ereignisse in ihrem Kriegsalltag zunächst kaum zur Kenntnis nahmen.

Die Dekrete der Sowjetregierung entfalteten nur langsam eine Wirkung auf den Alltag der Menschen. Die Kommunalisierung des Wohnraums wurde im März 1918 begonnen. Zunächst geschah dies aber vereinzelt und unsystematisch in Form willkürlicher Einquartierungen. Wer kein Haus besaß, merkte vielleicht zunächst nichts von der grundlegenden Änderung der politischen Ordnung.

Anfang 1918 dürfte das Geschehen in Petrograd mehr von der Endphase des Ersten Weltkrieges (und damit auch dem Verlauf der baltischen Front) als von der noch ungefestigten bolschewistischen Herrschaft bestimmt worden sein. Der deutsche Vormarsch, mit dem die Unterzeichnung des Friedensvertrages erzwungen werden sollte, löste bei der Regierung Panik aus. Sie fürchtete, im Falle der Einnahme Petrograds von den Deutschen entmachtet zu werden. Noch vor der Unterzeichnung des Friedens von Brest-Litowsk wurden in einer Nacht-und-Nebel-Aktion alle Regierungsfunktionen nach Moskau verlagert.XIII Vor der Bevölkerung wurde die faktische Flucht der Regierung zunächst geheim gehalten, aber sie wurde bald spürbar, weil sie zur weiteren Verschärfung der wirtschaftlich katastrophalen Lage beitrug. Die Eisenbahnlinien nach Süden waren durch die deutsche Besatzung unterbrochen, damit gab es keine Möglichkeit mehr, Getreide aus der Ukraine in die Stadt zu bringen. Auf den noch befahrbaren Eisenbahnlinien in Richtung Osten waren alle Transportkapazitäten wochenlang blockiert durch den Umzug der Regierung nach Moskau. Die Industrie erhielt keine Lieferungen mehr, sodass reihenweise Fabriken schließen mussten. Zwischen Januar und April 1918 wurde fast die Hälfte aller Petrograder Fabrikarbeiter entlassen.XIV Die Stadt entvölkerte sich zusehends – wer konnte, floh aufs Land, um sich irgendwie versorgen zu können. Die städtische Verwaltung funktionierte nicht mehr, Müll und Tierkadaver bleiben auf den Straßen liegen, es kam zur schlimmsten Choleraepidemie in der Geschichte der Stadt. In einer zeitgenössischen Quelle beschrieb ein Epidemiologe die Situation so: »Ich habe China, Persien und ganz Asien bereist, aber Zustände wie jetzt in Petrograd habe ich noch nirgendwo erlebt.«XV

 

Seit April 1918 kam es zu Hungerrevolten der Arbeiter, im Mai ging die Stadtregierung dazu über, diese gewaltsam niederzuschlagen. Damit begann die Phase des sogenannten ›Roten Terrors‹. Zunächst waren dies einzelne Maßnahmen wie Streikverbot, Einschränkung der Pressefreiheit, Razzien der Geheimpolizei, Erschießungen. Während des Sommers wurde die Situation immer chaotischer, und Ende August 1918 gingen die Bolschewiki zu einer strategischen Großoffensive über, um sich durch brutale Gewalt und Einschüchterung an der Macht zu halten. Es begann eine regelrechte Hatz auf sogenannte ›Feinde der Revolution‹, begleitet durch eine Pressekampagne, in der die Arbeiter in allen Zeitungen zum Hass auf die Bourgeoisie angestachelt wurden. Am 31. August erschien in der ›Krasnaja Gaseta‹ ein Leitartikel unter dem Titel ›Blut gegen Blut‹, der mit den Worten endete: »Soll das Blut der Bourgeoisie und ihrer Diener fließen – mehr Blut!«.XVI

Die ›Krasnaja Gaseta‹ war ganz sicher keine Zeitung nach Gustav Hackels Geschmack. Vielleicht wird er sie aber trotzdem gelesen haben, nachdem seine beiden bevorzugten Blätter, ›Slowo‹ und der ›St. Petersburger Herold‹, verboten worden waren. Las er die Leitartikel, in denen zur Lynchjustiz am Bürgertum aufgerufen wurde? Tat er das – wie früher – morgens auf der Toilette, oder war ihm die Freude an diesem Ritual inzwischen verleidet?

So oder so muss er die politische Radikalisierung der Revolution wahrgenommen haben – wahrscheinlich wurde auch das Textilimportgeschäft, für das er arbeitete, in dieser Zeit geschlossen und enteignet.

Sinowjew, Chef des Petrograder Stadtsowjets und enger Weggefährte Lenins, sagte im September 1918 in einer öffentlichen Rede: »Die Arbeiterklasse muss endgültig eine stahlharte Diktatur errichten und mit all ihren Feinden schonungslos abrechnen!«XVII

Jeder, der als ›Bourgeois‹ oder sonstiger Feind der Revolution ausgemacht wurde – zum Beispiel durch Denunziation der Nachbarn –, war nach neuer Rechtslage praktisch vogelfrei und konnte jederzeit abgeführt und erschossen werden. Tausende wurden nach diesem Prinzip im Sommer 1918 verhaftet. Der deutsche Konsul setzte sich im September für die Freilassung derjenigen ein, die aus Polen oder dem Baltikum stammten, und organisierte Ausreisemöglichkeiten in das deutsch besetzte Gebiet. Auch dies geschah vor dem Hintergrund, dass Deutschland beabsichtigte, in Friedensverhandlungen Ansprüche auf das Baltikum zu erheben. Diesem Schritt sah man sich näher, wenn man sich als eine Art Schutzmacht der dortigen Bevölkerung präsentierte. Eventuell bekam Gustav Hackel die Zugfahrkarten im Rahmen dieser Intervention des Konsuls. Soweit ich mich an Sonjas Erzählung erinnere, war ihr Vater nicht verhaftet worden. Er gehörte aber eindeutig zu einer Gruppe, der dies jederzeit widerfahren konnte. Er war im Baltikum geboren, seine Frau war Deutsche, das ließ die Hackels möglicherweise auf die Liste derjenigen rücken, denen die Deutsche Botschaft zu helfen bereit war.

Auch wenn sich all dies nicht mehr im Einzelnen klären lässt: den Entschluss zur Flucht trafen Hackels sowohl aus der Einschätzung ihrer faktischen Gefährdung als auch der präzisen Beobachtung der innen- und außenpolitischen Lage.

Lenin auf Briefmarken
Spurensuche, Berlin 2017

Gegen Ende meiner Recherchen stoße ich unverhofft auf die – oben bereits zitierten – Erinnerungen von Sonjas Cousine Eva Hackel. Als ich bei Stephanie in Kalifornien zu Besuch bin, um Sonjas Nachlass zu sichten, finde ich sie in einer der Kisten. Ich habe Jetlag, wache um zwei Uhr früh auf. Neben meinem Bett liegt für solche Fälle ein Stapel mit Dokumenten griffbereit. Mitten in der Nacht lese ich Evas Aufzeichnungen und finde dort eine sehr eindrückliche Passage über die Revolution und die Flucht aus St. Petersburg. Eva schreibt:

Die Sorglosigkeit unserer Familie ging 1914 verloren, und endgültig 1918 durch die Revolution. Nie werde ich die Eindrücke jener Monate vergessen: Soldaten und Kosaken randalierten auf den Straßen, Leichen schwammen in der Newa, auf unserem Schulweg waren ständig Schießereien, und der Hunger war zum Verzweifeln.

Vater verlor über Nacht alles, was er besaß – seine große Apotheke, sein Bankkonto, alles wurde verstaatlicht (d. h. konfisziert) und Vater hatte kein Recht mehr, auch nur den kleinsten Betrag abzuheben. Das war ein schwerer Schlag für meinen Vater, der sein ganzes Leben lang sehr hart gearbeitet und für die Zukunft gespart hatte, damit seine Familie abgesichert war. Er gönnte sich keine Extravaganzen, und wir lebten immer sehr bescheiden. Erst sehr viel später erfuhr ich, dass Vater in Russland ein ziemlich wohlhabender Mann gewesen war. […]

Als die russische Revolution ausbrach, waren wir – zum ersten Mal in unserem Leben – mit Gewalt, Krieg, Hunger und Armut konfrontiert.

Junge Offiziere, die aus dem Krieg heimkehrten, wurden grausam ermordet und in den Fluss geworfen, die Kosaken ritten die Hauptstraßen entlang und knallten mit den Peitschen, Soldaten plünderten und die Bevölkerung stand Schlange für ein Stückchen Trockenfisch oder matschiges Brot. An dieses Brot erinnere ich mich noch: man konnte das Wasser herausquetschen, und die Überreste waren Getreidespelzen und ein schwärzlicher Brei. Aber wir waren hungrig und aßen es. Mutter machte leckere Kartoffelpuffer aus Kartoffelschalen.

Nach einiger Zeit ergab sich die Gelegenheit, Russland zu verlassen, weil Vater in Lettland geboren war, das damals zu Deutschland gehörte. Das war im September 1918, und die Entscheidung zu gehen fiel meinen Eltern nicht leicht, weil wir nur persönliche Gegenstände mitnehmen durften, keinerlei Geld oder Wertsachen.

Aber auch die Ausreise aus Russland selbst war nicht einfach. Wir mussten uns am Bahnhof anstellen, nur zentimeterweise ging es voran, bis alle 1000 Leute durchsucht worden waren und durchgelassen wurden. Zum Glück war der September nicht sehr kalt, denn das Anstehen dauerte zwei Tage, und die Schlange begann schon draußen vor dem Bahnhof.

Als wir an der Reihe waren, wurden wir nach Bargeld, Schmuck und Lebensmitteln durchsucht. Wir durften nur so viel zu essen mitnehmen, wie wir für die Reise brauchten. Endlich wurden alle Reisenden in Viehwaggons geladen, 36 in jeden, mit kleinen Kindern, Hunden und Gepäck. Mutter war kurz vor einem Nervenzusammenbruch, denn sie hatte seit Tagen kaum etwas gegessen, damit wir Kinder ein bisschen mehr hätten. In diesem Zug verbrachten wir vier Tage und Nächte, wir wuschen uns draußen, immer wenn der Zug irgendwo im Nichts anhielt. Die kleineren Kinder und die alten Leute durften nicht aussteigen, denn man musste ziemlich weit herunterspringen, aber mein Vater und ich (meine Schwester Nora war auch krank) rannten nach vorne zur Lokomotive, um ein bisschen heißes Wasser für uns alle zum Waschen zu bekommen. Ich war damals 15, und obwohl ich all das Tragische um mich herum sah und hörte, genoss ich dieses Abenteuer sehr.

Bei der Ankunft in Pleskau wurden wir unter Quarantäne gestellt, um zu verhindern, dass wir Typhus oder irgendeine andere Krankheit nach Deutschland brächten. Zu dieser Zeit war Pleskau von den Deutschen besetzt. Wir wurden in Baracken gesteckt, die während des Krieges mehrfach zwischen Russen und Deutschen den Besitz gewechselt hatten und entsprechend verdreckt und voller Wanzen waren. Jedem von uns wurde ein Strohlager zugewiesen, je drei bis vier Familien zusammen in einem kleinen Raum. Am nächsten Morgen war Mutter überall am Körper und im Gesicht ganz geschwollen von Floh- und Wanzenbissen. Alle Beschwerden waren vergebens, bis Mutter nach 24 Stunden ernsthaft krank wurde. Danach durfte unsere Familie und noch eine weitere in einen kleinen Raum mit Pritschen umziehen.

Wir wurden alle geimpft gegen Typhus und in Gruppen von je 50 zur Entlausung geschickt. Von Soldaten bewacht mussten wir durch die Stadt zu einem öffentlichen Bad gehen, wo unsere Kleider desinfiziert werden sollten.

10 Tage dauerte dieser Albtraum, dann wurden wir herausgelassen, und mit dem wenigen Geld, das Vater herausgeschmuggelt hatte, fuhren wir nach Libau, um dort zu wohnen. Dort trafen wir Vaters Bruder [Gustav], seine Frau [Flora] und seine Tochter Sonja, die in meinem Alter war.

Alle zusammen lebten wir in vier möblierten Räumen, vier Erwachsene und vier Kinder. Die Erwachsenen waren sehr niedergeschlagen und unruhig, aber sie hofften immer noch darauf, dass die Bolschewiken sich nicht länger als drei oder vier Monate halten könnten.

Mutter war für’s Einkaufen und Kochen zuständig, und meine Tante für unsere Erziehung, und sie versuchte, uns bei Laune zu halten. Mein Vater und sein Bruder waren die meiste Zeit des Tages unterwegs und versuchten, Arbeit zu finden, aber natürlich gab es keine Hoffnung darauf.

Unsere Tante unterrichtete uns, und nebenbei las sie uns deutsche Klassiker vor. Was uns davon am besten gefiel, war Reuter auf Plattdeutsch.

Die restliche Zeit genossen wir unsere Freiheit als Teenager. Wir fanden bald heraus, wie klein die Stadt war und wie schnell sich Klatsch und Gerüchte verbreiteten. Eines Tages beschlossen meine Cousine Sonja und ich, ein ganz und gar absurdes Gerücht in die Welt zu setzen, um zu sehen, wie schnell es zu uns zurückkäme. Nach angeregter Beratschlagung setzten wir die Geschichte in Umlauf, Russland habe Briefmarken mit Lenins Bild herausgebracht. Wir brauchten nicht lange zu warten, bis unsere Väter mit eben dieser Geschichte nach Hause kamen. Wir hatten große Mühe, ernst zu bleiben – aber sagten kein Wörtchen – und bis zum heutigen Tag weiß niemand, dass dies unser Werk war, aber ein Jahr später geschah es tatsächlich.

Obwohl wir entwurzelt waren und unsere Eltern in großer Sorge, genossen wir Kinder (16, 15 und 8 Jahre alt) das Leben, wo immer wir konnten, und unsere Eltern konnten oft nichts ausrichten gegen unser grundloses Gekicher.

Im Jahr 1919, sobald der Krieg vorbei war, zogen wir nach Berlin, zu einer Schwester meiner Mutter, die eine Arztpraxis hatte (unsere Tante Hanna) und in einer ziemlich großen Wohnung lebte. In ihrer Großzügigkeit und immerwährenden Hilfsbereitschaft bot sie an, uns alle bei sich aufzunehmen. Die erste Sorge, für Vater eine Arbeit zu finden, war bald gelöst, er machte Schichtarbeit in einer Apotheke, die viel kleiner war als die, die er besessen hatte.

Vater war damals 50 Jahre alt, und es war kein einfacher Schritt für ihn. Aber mit seinem üblichen Optimismus – er sagte in egal welcher Situation: ›Wahrscheinlich ist das zu irgendetwas gut‹ – kam er gut zurecht und war glücklich, wieder für seine Familie sorgen zu können.

Das nächste Problem war, für uns eine Schule zu finden, meine ältere Schwester Nora und ich verstanden und sprachen ein bisschen Deutsch, aber meine kleine Schwester Nina konnte es gar nicht. Meine Schwester und ich wurden in dieselbe Klasse einer Mädchenschule geschickt, um irgendeinen Abschluss zu bekommen. Mit unserem Wissen waren wir in unserer russischen Schule ziemlich weit fortgeschritten gewesen, aber die Sprachschwierigkeiten machten uns zu schaffen. Die Mädchen in unserer Klasse kriegten bald heraus, dass Algebra und Geometrie für uns kein Problem waren, weil wir das schon gehabt hatten, und schrieben von uns die Hausaufgaben ab, wenn sie sie alleine nicht konnten. Eines Tages fragte die Lehrerin die Klasse, warum auf einmal alle Mädchen ihre mustergültige Lösung der Aufgaben in fehlerhaftem Deutsch schrieben. Dieses Schuljahr mit meiner älteren Schwester in derselben Klasse war eine unglückliche Zeit, wir vermissten unsere alte, wunderbare Schule, hatten Heimweh und mussten uns die Schulbücher teilen, denn meine Eltern konnten sich zwei Exemplare nicht leisten. Unsere Art zu lernen war sehr unterschiedlich. Meine Schwester war sehr gewissenhaft. Ich lernte schnell, aber vergaß alles genau so schnell wieder. Die meiste Zeit zankten wir uns und gingen oft auf getrennten Wegen nach Hause, um uns nicht sehen zu müssen. Trotz dieser unglücklichen Schulzeit hatte ich in diesem ersten Jahr in Deutschland auch viel Spaß. Ich war 16 und tanzte für mein Leben gern – es war mein Glück, dass wir bei unserer Ankunft in Berlin eingeladen wurden, einmal in der Woche bei Freunden meiner Tante an Tanzstunden teilzunehmen. Das war die Familie Zuntz, und damit begann eine lebenslange Freundschaft.

 

Ich machte begeistert mit und konnte es vom einen bis zum nächsten Mittwoch kaum aushalten […].

Während ich Evas Geschichte lese, fällt mir ein, dass Sonja mir damals die Anekdote mit der Lenin-Briefmarke erzählte – das hatte ich ganz vergessen. Die trügerische Natur des Erinnerns wird mir hier bewusst: viele von Sonjas Formulierungen klingen mir noch wörtlich im Ohr. Aber auch Bilder im Kopf prägen meine Vorstellung. Die an den Anfang dieses Buches gestellte Filmsequenz, die immer wieder in meinem Kopf ablief – Sonja allein im Eisenbahnwaggon – drückt aus, wie ich mir die Flucht damals vorstellte. Angesichts der Diskrepanz zu Evas Schilderung überlege ich, ob Sonjas Flucht weniger beschwerlich abgelaufen sein kann. In gewissem Rahmen mag das sein: Aus dem Propusk geht hervor, dass die Ausreise am 8. Oktober war. Eva schreibt, dass ihre Familie St. Petersburg schon Ende September verließ, Sonjas Familie jedoch bereits in Libau war, als sie endlich dort eintrafen. Deren Reise ging also offenbar trotz späterer Abfahrt schneller. Dass der Zug rascher durchkam, ist nur mäßig wahrscheinlich. Vielleicht hatten sie aus irgendeinem Grund die Quarantäne in den Militärbaracken von Pskow vermeiden oder abkürzen können.

Aber hat Sonja mir die Flucht nicht so hart geschildert, wie sie gewesen sein muss? Oder habe ich die Dinge, die jenseits meiner damaligen Vorstellung lagen, schlicht vergessen? Vermutlich liegt die Wahrheit in der Mitte. Sonja genoss es, ihren abenteuerlichen Lebensweg spannend und für Zuhörer eher unbeschwert zu erzählen. Eigenes Leid in den Mittelpunkt zu rücken, lag ihr nicht. Die Fluchtgeschichte hörte ich gleich am ersten Abend. Heute denke ich, dass meine damalige Vorstellung der Revolution von romantisierten Darstellungen (etwa der Hollywood-Verfilmung von ›Doktor Schiwago‹) beeinflusst war. Sofern Sonja solche Umstände wie eine viertägige Reise im Viehwaggon, Krankheit, Entlausung, Quarantäne mir gegenüber erwähnt hat, fehlte mir wahrscheinlich damals die Vorstellungskraft, diese in das naturalistische Bild umzusetzen, das sich aus Evas Beschreibung ergibt.

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