Die drei Emigrationen der Sonja Berg

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Gewöhnlich hatten wir einen großen Garten um das gemietete Haus, das meine Eltern bereits im April sorgfältig aussuchten.

Wenn irgendwo im Garten Birken standen, nahm Vater das Haus nicht, denn das war ein Anzeichen von Feuchtigkeit. Und dort spielten wir Indianer, Verstecken, oder wir gingen schon vor dem Frühstück Pilze suchen.

Ich erinnere mich besonders an einen Garten, denn er war groß genug, dass ich darin Fahrrad fahren lernte. Am Abend spielten wir unseren Eltern kleine Theaterstücke vor, die wir uns draußen überlegt und eingeübt hatten. Und in den Sommern, in denen wir unsere geliebte Lehrerin Shura bei uns hatten (sie wurde später zu meiner angeheirateten Cousine16) malten wir, modellierten mit Ton und machten Picknick am Meer. Baden und Sandburgen bauen waren unsere größten Vergnügungen.

Wie wunderbar war es, wenn am Freitag Abend Vater herauskam; gewöhnlich holten wir ihn an der Haltestelle der ›Diligence‹ ab (einem Pferdewagen, der ihn von der Bahnstation brachte).

Auf unserem Heimweg kamen wir an einem runden Platz vorbei, dort hingen Seilschlingen an einem langen Pfahl [eine Art Schaukel]17, und es war gleichgültig, wie müde Vater war, er blieb immer stehen, um uns einen festen Schwung zu geben, und wartete, bis wir wieder herunterkamen.

Unter den vielen Papieren aus Sonjas Nachlass finde ich schließlich noch ein paar Schreibmaschinenseiten, auf denen Alfred (Fredy), der zweitälteste Bruder, ein paar kleine Szenen aus seiner Kindheit festgehalten hat. Sie lassen den Alltag der Hackels um die Jahre 1906/1907 lebendig werden:

Szene eins

Grauer Morgen, Sonntag in Petersburg. Ich werde wach. Jemand gibt mir einen Kuss. Ich öffne die Augen, lächle im Halbschlaf. Gleich schneide ich eine Grimasse. Sie kichert fröhlich. ›Sie‹ ist Sonjetschka, meine Schwester; ihre Haare sind sorgfältig gekämmt, eine große Seidenschleife darin, sie trägt ein schwarzes Samtkleid, auf der Brust ein Medaillon. Ich strecke den Arm aus, packe zu und ziehe sie heran. Ich will sie schnappen, aber sie macht sich frei, mit Quieken und Geschrei. Eine Stimme aus dem Nebenzimmer: »Na warte, Dir werd’ ich was erzählen!« Die Stimme bringt mich sofort zurück in die Wirklichkeit. Ich strecke mich. Tap-tap-tap den Flur entlang, jemand eilt zum ›Heiligen Örtchen‹, sagt dabei: »Kinder, aufstehen«. Das vertraute leichte Hüsteln, »ehem, ehem«, folgt Papa auf einen Platz, von dem jetzt für lange Zeit das Rascheln einer Zeitung zu hören ist. Denn das ist das ›Heilige Örtchen‹. Es ist der Ort, wo er sich die neuesten Nachrichten und die Theaterkritiken zu Gemüte führt. Mit einem Gefühl der Erleichterung einerseits, andererseits prall gefüllt mit den Berichten aus ›Das Wort‹18 oder dem ›St. Petersburger Herold‹19 IX, kommt er erfrischt wieder heraus und geht geradewegs in die Wanne. Meine Aufgabe ist es, ihm den Rücken zu schrubben, bis er rot wird. Er beugt sich vor, seine weiche Haut und sein muskulöser Rücken glitzern, und ich reibe richtig fest mit einem harten Schwamm. Papa knurrt zufrieden. »Feste rubbeln, feste!« Ich gehorche. Dann eilt er, um sich anzuziehen. Gestern ist er spät nach Hause gekommen, ›in Geschäften‹, nach einem Besuch bei Boris [gemeint ist Benno Becker], zusammen mit Rudi, Felix, Gerson und dem anderen Boris … Gerade jetzt ist er jedenfalls munterer als wir.

Das Frühstück beginnt um 10 Uhr. Bloß nicht zu spät kommen! Die frische Unterwäsche kratzt. Ich bin durcheinander, die Manschettenknöpfe sind irgendwo abgeblieben. Der Hemdkragen lässt sich kaum biegen, so sehr ist er gestärkt. Natürlich bin ich wieder der Letzte. Ich gebe Papa einen Kuss auf die sauber rasierte, leicht duftende Wange. (Gerade gestern hat er bei Louis [einem Friseur] haltgemacht). Ich gebe Mamas Hand einen Kuss, Sonjas Mund. Nicht nötig Paul und Bobus [Bobby] zu begrüßen, wir schlafen alle im selben Zimmer. Bei Tisch geht es lebhaft zu. Der Kaffee duftet, es gibt Honig, Butter, Brötchen. Schmatzgeräusche … lecker und bedeutungsvoll – Essen und Kauen. Papa weiß schon alle Neuigkeiten von der Börse. Es macht ihm Spaß, uns mit Nachrichten aus Slowo [die Zeitung ›Das Wort‹] zu erschrecken. Ich esse schnell, weil ich noch in die Zeitung schauen muss, bevor es losgeht. Zusammen mit Papa gehen wir hinüber zum Museum, natürlich zur Eremitage. Früher war es so: wir machten einen Spaziergang zum Palast, gingen am Ufer spazieren, aber jetzt ist es die Eremitage. Er nimmt uns mit zu ›seinen Lieben‹. Wir gehen die Marmortreppe hinauf zu den ›Drei Grazien‹, zu ›Vol’ter‹20. Vol’ters LächelnX – Satire, Spott. Zieht uns an und stößt uns ab. Aber Papa hat seinen Spaß. Dann geht es weiter zu ›Danaya‹21 und ›Venus vor einem Spiegel‹ von Tizian. Für Papa ist sie die Offenbarung weiblicher Schönheit. Dann zum großen Saal der italienischen Kunst. Papa ist verzückt. Dann ein Porträt eines Fremden, der Papa erstaunlich ähnlich sieht. Dann müssen wir noch einen Moment zu den Franzosen, dann zwei Minuten Rembrandt, dann wieder nach Hause. Aus zwei Minuten wird eine Stunde. Es ist Mittag. Ich schaue mich um, höre noch den Kanonenschuss, der 12 Uhr Mittag anzeigt. Er ist wie ein Zeichen für alle, auf die Uhr zu schauen. Die Fensterscheiben beben. Und jetzt die Musik, der Siegesmarsch. Wie in alten Zeiten möchte ich mitlaufen, den Gardisten folgen. Aber ich reiße mich zusammen, bin kein kleiner Junge mehr, ich bin gekommen, um Rembrandt anzuschauen! Aber mein Herz will nach unten rennen, und dann, anstelle von Rembrandt, anstatt der Gemälde, erscheint ein anderes Bild. Ich horche nach der Garde. Sie holen die Flagge ein, und so, zwischen Rembrandt und dem militärischen Spektakel, ist eine Kinderseele hin und hergerissen.

Schließlich gehen wir heim. Auf dem Nachhauseweg gehen wir mit Papa noch für ein paar Minuten in die französische Bäckerei. Papa will einen anständigen Laib Brot. Was ist ein sonntägliches Mittagessen ohne einen Laib Brot? Schließlich, Brot in der Hand, gehen wir triumphierend nach Hause. Viele vertraute Gesichter auf der Straße, sie kommen aus der Kirche zurück. Begrüßung, manchmal bleibt man stehen, manchmal nur ein Lächeln. Über die Brücke am Kanal, und wir sind zu Hause. Sonjetschka war draußen spazieren, sie hat rote Bäckchen von der Kälte. Es ist unwahrscheinlich weich, ihre leicht gefrorenen, samtigen Wangen zu küssen. Der Esszimmertisch ist schon gedeckt. Heute gibt es Blätterteig mit Kohl, ein wunderbares Gericht von Katja, der Köchin. Dann Eintopf und schließlich einen leichten Kuchen. Papa lässt es sich schmecken. Jeder Bissen ein Geschenk. Jeder Schluck Bier ein Genuss. Die Kunst, das Essen und ein gutes Schlückchen dazu, das ist die Sonntagssinfonie. Natürlich ist Kunst kein Fleisch, sie lässt sich mit Katjas Blätterteig nicht vergleichen, aber trotzdem ist sie seine allgegenwärtige Freude. Das lehrt er uns nicht mit Worten, sondern als Vorbild, durch sein eigenes, erfülltes Leben.

Szene zwei

Das Leben geht seinen Gang, geschmeidig wie Butter. Die Zeit vergeht, jeder Tag folgt einer bestimmten Routine. Im ruhigen Fluss der Zeit manchmal Pausen und Sprünge, Konzerte, Theater oder Partys zu Hause oder bei Freunden.

Abend: Ich lerne; die Prüfungen bringen mich noch um. Paul sitzt mir gegenüber und liest. Auf dem Tisch steht Schnaps, den wir in einem Bücherschrank verstecken. Der Schnaps steht hinter den französischen Büchern. ›Wie wär’s mit etwas französischer Dichtung?‹ In unserer Räubersprache bedeutet das ›Wie wär’s mit einem kleinen Drink?‹. Mama ist im Bett, Papa im Theater, und Bobus ist ausgegangen, natürlich irgendwo zum Tanzen. Plötzlich das vertraute »ehem, ehem«, Papas Hüsteln. Er ist zurück. Wir laufen ins Wohnzimmer, aber er ist bei Mama. Laute Stimmen sind zu hören, Papa ist offenbar aufgebracht. Er spricht schnell und aufgeregt. Vielleicht ist er im Theater bestohlen worden? Wir kommen rein. Papa steht am Bett und spricht wie in Trance. Nein, er ist nicht ausgeraubt worden. Im Gegenteil, er ist überwältigt von dem, was er gesehen und erlebt hat. In seinen Augen leuchtet eine Spur von etwas, das ich nie bei ihm gesehen habe. Seine Nasenflügel beben wie bei einem Vollblutpferd. Er ist irgendwie verwirrt, überwältigt. Stockend spricht er darüber, über das Theater, über ewige Liebe und den Tod. Der Samowar auf dem Esszimmertisch zischt. Dort stehen ein kleiner Imbiss und Obst. Aber Papa redet weiter. Manchmal versagt seine Stimme. Er gestikuliert hilflos mit den Händen und lächelt schuldbewusst. Mama legt sich hin und strahlt. Es tut ihr nicht leid, dass sie nicht dabei war. Sie freut sich, dass er da war, und sie versteht und fühlt, dass seine Seele aufgewühlt ist.

Es ist wieder Abend. Wir sind um den Tisch versammelt. Mama und die Kinder. Wie immer unterhalten wir uns lange. Und es gibt Tee aus dem Samowar, dazu Marmelade. Papa ist nicht da. Er ist einen Ringkampf anschauen gegangen zwischen den beiden Welt-Champions. Das ist ein bisschen merkwürdig. Papa ist kein Ringer, und an solch einen Ort zu gehen, der nach Tabak und Schweiß riecht, ist schon etwas unangenehm. Aber Papa ist trotzdem hingegangen.

Da ist sein »ehem, ehem« im Flur. Er kommt rein, freudestrahlend. Und? Wer hat gewonnen? Papa verwandelt sich. Er beginnt zu erzählen. Über Zaikin, wie er Zbitko zu packen bekam. Nein, gar nicht leicht. »Fredy, komm her.« Ich gehe hin. Papa ist Zbitko und ich bin Zaikin.22 XI

Papa packt mich fest mit seinen Händen und hebt mich hoch. Meine Hose reißt. Die Knöpfe fallen ab. Aber Papa ist voll bei der Sache. Und dann lief es genau so … das tut weh, kein Witz. Papa setzt mich auf dem Teppich ab. Er schnappt mich. Jetzt steigt auch bei mir die Spannung. Wir ringen. Mama und alle anderen lachen. Und so hat Zaikin ihn gepackt, aber Zbitko … Ich merke, wie meine Hosenknöpfe in den Kamin springen. Aber Papa ist voller Erregung. Er ist in Hochform, unter Volldampf. Und er steckt uns alle damit an.

 

Szene drei

›Weihnachtsbaum‹

Draußen liegt ein weißlicher Nebel. Die Fenster sind frostüberzogen. Es ist kalt. Die Stimmung ist hell und festlich. Mit meinen Zeugniszensuren ist es gut gelaufen. Vielleicht ist es wegen Weihnachten, aber die übliche Vier plus in Algebra ist raufgegangen zu einer Drei minus. Offensichtlich hat der Lehrer ein gutes Herz. Er versteht, dass sonst Papas Weihnachtslaune hin gewesen wäre. Besser nicht an die Schule denken – sinnlos!

[…] Das Arbeitszimmer ist außer Reichweite. Der Weihnachtsbaum steht darin. Er ist wunderschön. Wir haben ihn gestern zusammen mit Papa gekauft. Papa ist in dieser Hinsicht ein Profi. Der Baum muss der Beste sein, und billig dazu. Wenn er sieben Rubel kosten soll, feilscht Papa. Bis es dunkel wird. Aber er verliert nicht, er kriegt ihn für drei. Zwei kräftige Kerle tragen ihn auf den Schultern, wir gehen hinter ihnen nach Hause, während Papa zur Arbeit geht. Aber vielleicht verkaufen die beiden Typen ihn auch weiter, für eine Flasche Wodka?

Als wir gestern dort standen, war es so kalt, dass uns die Tränen in den Lammfellkragen rollten, aber Papa kümmerte das nicht. Sein Spazierstock hat eine Besonderheit: er hat am oberen Ende einen goldenen Knauf. Der Baum muss genau so groß sein, dass, wenn er den Arm mit dem Spazierstock hochstreckt, die Baumspitze über den Knauf hervorschaut. Wir fanden einen genau solchen Baum … das Gefeilsche dauerte eine ganze Weile. Es begann dunkel zu werden, die Straßenlaternen gingen an. Durch sie wurde es sogar ein bisschen wärmer und freundlicher. Die Bäume sahen aus wie mit Zucker überzogen, andere, als ob sie in Baumwolle gewickelt wären.

Wir kamen also zurück nach Hause. Die zwei Burschen schleppten den Baum vor uns her. Interessant, wie sie ihn die Treppe raufbrachten … der Teppich wurde ganz dreckig dabei … Kuprian [der Hausmeister] wurde wütend. Aber uns war’s egal, der Baum ist prima! Auf keinen Fall wollten wir den durch die Hintertür reinholen.

Nur ein kleines Missverständnis gab es. Die Burschen gaben Mama ein Stück Papier. Papas Unterschrift, Papas Handschrift, sieht echt aus – aber teuer … 13 Rubel!! »Nun, meine Dame, der Baum kommt aus Archangelsk.« Keine Chance, wir mussten zahlen … Papa hatte so entschieden. Er hat manchmal leichtfertige Phasen. Die beiden Riesenkerle bedankten sich und kriegten obendrauf noch ein Trinkgeld. Weg waren sie, nur ein säuerlicher Geruch blieb zurück. Papa kam abends zurück und erfuhr von den 13 Rubeln. Er bebte. Es stellte sich heraus, dass die Kerle, die den Baum geschleppt hatten, am Rand eine eins vor die drei geschrieben hatten, mit Bleistift … eigenmächtig, und so wurden 13 daraus. Papa hatte davon keine Ahnung, er hatte ihn für 3 gekauft. Aber schließlich ist es ihm egal, all das Gefeilsche, Geschrei und Gezänk. Er fühlt sich jetzt behaglich und zufrieden. […]

Das Wohnzimmer ist hell erleuchtet. Bronzene Engel mit ausgestreckten Armen halten die Kerzen und stehen dabei auf einem Bein. Der gläserne Kronleuchter glitzert in allen Farben des Regenbogens. Alle sind versammelt. Die Wolle des neuen Matrosenanzugs kratzt. Das Haar ist mit viel Pomade gescheitelt. Paul und Bobka brillieren am Klavier, Sonjetschka trägt ihr schwarzes Samtkleid, ihre Haare werden von einer großen Seidenschleife auf dem Kopf zusammengehalten. Papa und Mama sind im Arbeitszimmer und zünden die Kerzen am Baum an. Endlich das lang ersehnte Glöckchen. Wir sind sehr aufgeregt, und schließlich gehen die Türen auf. Der funkelnde Baum blendet uns. Aus dem Esszimmer kommt der verführerisch köstliche Duft von Gänsebraten. »Alle zu Tisch bitte …!«

2Früher finnisch, seit 1947 russisch, umbenannt in Selenogorsk.

3Jelgava, heute eine Kreisstadt in Lettland, muss in den beiden Kriegen so gründlich zerstört worden sein, dass kaum noch ein altes Haus vorhanden ist. Das Zentrum ist ein sowjetisches Plattenbau-Ensemble aus den 1960er-Jahren. Nur in den Randbezirken erinnern hier und da ein paar windschiefe Holzhäuser an die damalige Zeit.

4Russland erlebte durch Eisenbahn und Dampfschiffe seit den 1840er-Jahren einen Aufschwung des Außenhandels. Davon profitierten zunächst die Küstenstädte, in Kurland waren das Windau und Libau, sodass viele Menschen dorthin übersiedelten. Das war Juden jedoch verboten und wurde streng kontrolliert, sodass in dieser Zeit viele Juden in südliche Regionen ausweichen mussten um Arbeit zu finden. Die Arbeitsmigration von Jacob Moses Gittelsohn nach Tiflis scheint unter kurischen Juden kein Einzelfall gewesen zu sein.

5Das Mitauer Adressbuch von 1892 ist vollständig auf Deutsch verfasst, alle Straßennamen sind deutschsprachig, über 90 Prozent der verzeichneten Einwohner haben deutsche oder eingedeutschte jüdische Namen; auch alle öffentlichen Institutionen scheinen ausschließlich deutsche Namen gehabt zu haben. In Kurland, obwohl seit 1797 russische Provinz, war damals noch Deutsch die Behördensprache und die Sprache der gebildeten Oberschicht. Allerdings erschienen neben der deutschen ›Mitauschen Zeitung‹ auch eine russisch- und zwei lettischsprachige Zeitungen, offenbar waren also mehrere Sprachen im Alltag gebräuchlich.

6Laut Überlieferung starb Gustavs Vater, als dieser noch ein Kind war, weshalb Gustav früh zum Unterhalt der Familie beitragen musste.

7Im Heiratsregister der jüdischen Gemeinde in Mitau gibt es einen Eintrag vom 9. 1. 1883, der wahrscheinlich auf Gustavs Schwester verweist: Eheschließung von Levin Gittelsohn (31, geb. in Mitau, Sohn von Nekhmeje Gittelsohn) mit Julie Hackel (22, geb. in Mitau). Sie wäre somit ein Jahr älter als Gustav gewesen. Möglicherweise bestand mit der Familie des Bräutigams eine entfernte Verwandtschaft.

8In Mitau ist für das 19. Jahrhundert kein Rabbiner mit Namen Gittelsohn nachweisbar. Eine Besonderheit von Kurland war, dass es dort keine Talmudschule (Jeshiva) gab. Deshalb besuchten angehende Rabbiner aus Kurland zur Ausbildung Jeshivot im nahe gelegenen Litauen oder der Ukraine. In US-amerikanischen Rabbinerverzeichnissen taucht der Name Gittelsohn nur einmal auf: Benjamin Gittelsohn, geboren 1853 in Russland und Sohn von Jehuda Gittelsohn. Er studierte an der Talmudschule in Kaunas, Litauen, und wanderte später nach Cleveland, Ohio aus. Nach Alter und o.g. Umständen könnte Jehuda möglicherweise der von Sonja erwähnte ältere Bruder von Gustavs Großvater Moses Gittelsohn aus Mitau sein.

9Arthur Hackel, geb. 1864, Sterbedatum und -ort unbekannt, und Ludwig Hackel (Vater von Eva und Nora Hackel) geb. 1867, gestorben 1936 in Berlin, studierten beide je ein Jahr in Dorpat (ihre Berufsbezeichnung lautete ›Provisor‹) und führten seit 1895 gemeinsam in St. Petersburg die Puschkin-Apotheke. Sie befand sich in der Puschkinskaja 9, das Haus steht heute noch. Ludwigs Wohnung lag ein paar Häuser weiter in der Nr. 19. Er war unter anderem geschäftlich erfolgreich durch Herstellung und Vertrieb eines selbst entwickelten Mittels gegen Hämorrhoiden.

10Jeannot Hackel, geb. 1862 in Mitau, Sterbedatum und -ort unbekannt.

11Frz.: ›Gibt es da schon etwas mitzuteilen?‹

12Wahrscheinlich meinte sie damit Gaststudenten, die sie gelegentlich als Hauslehrer aufnahm.

13Russisch: ›Jetzt wird’s bunt‹, sinngemäß: ›Man sagt, dass es einen Aufstand geben wird.‹

14Teil von St. Petersburg nordwestlich der Newa.

15Nach der Niederschlagung der Unruhen versuchte das Zarenregime, die versprochenen Reformen wieder rückgängig zu machen.

16Siehe Kapitel ›Fredy – Unter dem Radar‹.

17In Finnland und Estland ist das Schaukeln eine Art Volkssport.

18Russisch: ›Das Wort‹ – gemeint ist mit Sicherheit ›Russkoje Slovo‹, die damals größte russischsprachige Tageszeitung, die seit 1895 in Moskau erschien und 1917 von den Bolschewiki verboten wurde.

19Der ›St. Petersburger Herold‹ war eine von zwei deutschsprachigen Tageszeitungen und erschien von 1871 bis 1914, dann wurde er verboten, weil mit Kriegsbeginn aller deutsche Einfluss aus Russland verbannt werden sollte. Der Herold war die Konkurrenz der älteren ›Petersburger Zeitung‹, vertrat politisch einen liberalen Standpunkt und legte zu dieser Zeit vor allem Wert auf eine kritische Berichterstattung gegenüber der konservativen Zarenmacht. Er brachte täglich unter dem Motto Unsere Presse eine exklusive Presseschau über die Top-Nachrichten der damals größten russischen Tageszeitungen. Weitere Inhalte waren Stadtnachrichten, Wichtiges aus dem Deutschen Reich, Wirtschaftsnachrichten, Romane sowie monatliche Beilagen zu Mode und Landwirtschaft.

20Gemeint ist die Marmorskulptur von Voltaire von Jean-Antoine Houdon, noch heute eines der vielen Glanzstücke der Eremitage.

21Danae von Tizian, 1930 von der Eremitage verkauft, seither National Gallery of Art, Washington DC.

22Gemeint ist offenbar der polnische Ringkämpfer Stanislaus Zbyszko, der um 1905 in ganz Europa und später in den USA sehr erfolgreich wurde. 1906 gastierte er für eine Saison in St. Petersburg. Eine amerikanische Website listet alle Matches auf. Sie verzeichnet: Sieg über Alexander Saikin, am 2. August, am 7. und 14. August, und nochmals am 1. September. An einem dieser Tage muss Gustav dem Kampf zugeschaut haben.

Revolution
Nach acht, Bonn 1987

»Unser geruhsames Leben in Petersburg endete schlagartig mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Meine Brüder, die inzwischen alle die Schule beendet hatten, die älteren beiden studierten bereits, mussten in den Krieg. Zum Glück nicht gleich, aber 1916 wurden alle drei eingezogen. Als Angehörige der ›Intelligenzija‹ wurden sie Nachwuchsoffiziere. Das machte die Sache für sie insofern besser, als sie nicht als Kanonenfutter verheizt wurden wie die Leute aus dem einfachen Volk, aber die Befürchtungen meiner Mutter, ihre Jungen ›zu irgendjemandes höherer Ehre‹ opfern zu müssen, rückten in den Bereich des Möglichen.

Russland war auf den Krieg miserabel vorbereitet, sowohl militärisch als auch im zivilen Leben. In den Geschäften gab es kaum noch etwas zu kaufen, für Lebensmittel zahlte man horrende Preise. Auf den Feldern und in den Fabriken fehlten die Arbeiter. Die meisten arbeitsfähigen Männer waren an der Front, wo sie wegen der schlechten Ausrüstung wie die Fliegen starben. Die Familien der Gefallenen stürzten oft in bodenloses Elend.

St. Petersburg wurde in Petrograd umbenannt – die Stimmung richtete sich zunehmend gegen alles Deutsche, und man tat besser daran, nicht in der Öffentlichkeit deutsch zu sprechen. Viele in Russland lebende Deutsche wurden ausgewiesen oder sagten sich, dass es besser sei, zu gehen. Wir waren davon nicht unmittelbar betroffen. Mein Vater hatte die russische Staatsbürgerschaft, meine Mutter war Deutsche, aber ihre Ehe mit einem Russen schützte sie vor der Ausweisung. Wir Kinder waren in Petersburg geboren und daher auch Russen. Aber selbst deutsch klingende Namen waren verdächtig. Zur Sicherheit setzte mein Vater seinem Vornamen damals ein e hinzu, Gustave, damit man es für Französisch halten konnte.

Schon lange war es bergab gegangen mit der Macht der Zaren. Nikolai II., der letzte Zar, interessierte sich kaum für die Regierungsgeschäfte. Er zog sich lieber in seine Sommerresidenz nach Zarskoje Selo zurück. Gelegentlich hatte er ein paar fähige Minister, die er aber beim nächsten Aufstand wieder davonjagte.

 

An seinem Hof gab es viele Günstlinge und andere finstere Gestalten, die auf die Politik Einfluss nahmen. Unter diesen war ein ganz Besonderer, das war Rasputin, ein sibirischer Wanderprediger und Wahrsager.

Mit der Zarenfamilie, den Romanows, war es ja so, dass sie an der Bluterkrankheit litten. Besonders der Thronfolger, der Zarewitsch. Er war noch ein Kind, für ihn war das lebensbedrohlich. Vor der Öffentlichkeit wurde die Sache geheim gehalten. Medizinisch gab es damals kaum Möglichkeiten, die Krankheit zu behandeln. Es hieß nun, dass Rasputin der Einzige gewesen sei, der mittels Hypnose die Blutungen des Jungen habe stoppen können. Dadurch gewann er großen Einfluss auf die Zarin Alexandra Fjodorowna. Es hieß, Rasputin hypnotisiere auch sie. Er muss unglaubliche Augen gehabt haben! Ihm wurden allerlei magische Kräfte zugeschrieben. Wahrscheinlich war das Hokuspokus, aber im damaligen Russland war Aberglaube sehr verbreitet. Weil er Macht über die Zarenfamilie hatte, machte Rasputin sich viele Feinde. Je schlechter die Lage wurde, umso mehr glaubte man, er habe die Zaren verhext. Eine Gruppe von Adligen überlegte sich, Rasputin zu beseitigen. Zum Jahresende 1916 organisierten sie eine Verschwörung, in einem Haus gleich in unserer Nachbarschaft. Man lud Rasputin dort zu einem Bankett ein, wo man ihn mit vergiftetem Nachtisch umbringen wollte. Der Plan schlug aber fehl23 und Rasputin entkam ins Freie. Die Verschwörer liefen ihm hinterher, erschossen ihn schließlich auf der Straße – die Schießerei konnten wir zu Hause hören – und steckten ihn anschließend in ein Eisloch, um sicherzugehen, dass der Teufelskerl auch wirklich tot war.

Kurz nach der Sache mit Rasputin wurde in der Februarrevolution 1917 der Zar abgesetzt. Kerenski24 von der Partei der gemäßigten Sozialrevolutionäre wurde Regierungschef. Aber Russland steckte da schon so tief im Schlamassel, dass er sich nicht lange halten konnte. Schuld daran war letztlich die deutsche Regierung. Sie hatte die Idee, Lenin nach Russland einzuschleusen, um das Chaos beim Kriegsgegner noch größer zu machen. Eigentlich war damals schon klar, dass Deutschland den Krieg verlieren würde. Um aber noch etwas herauszuschlagen, holten die Deutschen Lenin aus seinem Exil in der Schweiz, setzten ihn in einen verplombten Eisenbahnwagen, fuhren ihn durch halb Europa über Finnland nach St. Petersburg – diese Geschichte ist ja bekannt. Damit begann dann die Oktoberrevolution. Die Schüsse, die vom Panzerkreuzer Aurora das Startsignal dazu gaben, konnten wir ebenfalls zu Hause hören.

Als die Bolschewiki die Macht übernahmen, hat kaum einer sie richtig ernst genommen. Mein Vater sagte immer: ›In ein paar Wochen ist der Spuk vorbei‹ – na ja, diese Erwartung hat sich bekanntlich nicht erfüllt. Die Lage war sowieso schon chaotisch, aber es wurde nur noch schlimmer. Es gab nichts mehr zu kaufen – höchstens auf dem Schwarzmarkt für astronomische Preise. Die Menschen hungerten, auf den Straßen ging es gewalttätig zu. Das waren die Vorboten des Bürgerkriegs, der im Sommer 1918 ausbrach. Irgendwann in dieser Zeit wurden dann sämtliche Geschäfte, Fabriken usw. enteignet. Alle Geschäftsleute, so auch mein Vater, verloren ihre Existenzgrundlage.

Ob dies den Anlass gab oder etwas anderes, weiß ich nicht – meine Eltern sprachen über solche Dinge nicht mit mir –, aber im Oktober 1918, ein Jahr nach der Revolution, beschlossen sie ziemlich plötzlich, dass wir jetzt fliehen müssten. Ich erinnere mich, dass das für mich überraschend kam. Meine Eltern hatten so gut es ging versucht, die Schrecken der Zeit von mir fernzuhalten. Auf einmal musste alles ganz schnell gehen. Wir packten eilig zusammen, was wir tragen konnten, und verließen die Wohnung. Es hieß, dass die Abriegelung der Grenze kurz bevorstehe. Meinem Vater war es gelungen, Fahrkarten für den letzten Zug zu ergattern, der noch die Grenze passieren durfte. Damit es nicht so sehr nach Flucht aussah, gaben wir die Reise als Fahrt zur Datscha unserer Verwandten aus. Das stimmte fürs Erste sogar. Unser Ziel war die Datscha von Beckers in Libau25, südlich von Riga an der Ostseeküste. Viele Menschen fuhren damals aufs Land, um sich besser versorgen zu können. Es kann sein, dass meine Eltern zu diesem Zeitpunkt ahnten, dass wir vielleicht nicht mehr zurückkehren könnten, aber das hielten sie vor mir verborgen.

Die Fahrt mit dem Zug dauerte viele Stunden. Es war Krieg, und entsprechend waren die Verhältnisse. An irgendeiner Stelle war die Bahnlinie unterbrochen, dort lag die militärische Demarkationslinie. Wir mussten alle aus dem Zug aussteigen und in einen anderen, der auf der anderen Seite wartete, wieder hinein. Es war natürlich ein gewaltiges Durcheinander. Hunderte von Leuten liefen hin und her. Mein Vater ging mit mir und einem Teil der Koffer schon vor, suchte mir in dem wartenden Zug einen Platz, und befahl mir, gut auf das Gepäck aufzupassen. Dann ging er noch einmal los, um meine Mutter zu holen, die bei den restlichen Koffern geblieben war. Aber kaum, dass ich in diesem Zug saß, fuhr der plötzlich los. Ohne meine Eltern. Da saß ich nun mutterseelenallein in einem Zug, von dem ich nicht mal genau wusste, wo er hinfuhr. Ich war noch nie allein verreist und wusste nicht, was ich tun sollte. Nach dem ersten Schreck sagte ich mir: ›Na ja, heulen nützt ja nu nüscht!‹26 Und ich begann, die Butterbrote aufzuessen. Die waren in einer der Taschen, die ich bewachen sollte. Irgendwann kam der Zug an der Endstation an. Ich stieg aus, setzte mich auf die Koffer und wartete.

Wer weiß, was aus mir geworden wäre. In Russland und halb Europa war Krieg. Massen von Flüchtlingen waren unterwegs, und es war keine Seltenheit, dass Familien auseinandergerissen wurden und schreckliche Flüchtlingsschicksale ihren Anfang nahmen.

So saß ich ganz allein auf einem fremden Bahnsteig auf den Koffern und wusste nicht, was als Nächstes geschehen würde. Nun – tatsächlich kamen nach einigen Stunden meine Eltern. Das war ein ziemliches Wunder, denn ich hatte ja eigentlich in dem Zug gesessen, der als letzter aus Russland herausgelassen werden sollte. Wie dem auch sei: da waren meine Eltern, auch das Gepäck hatten sie bei sich. Ich erwartete natürlich, dass sie als Erstes zu mir sagen würden: ›Kind, gut, dass du wohlbehalten hier bist‹ oder so etwas. Stattdessen sagten sie: ›Was hast du mit den Butterbroten gemacht?‹ Ich erwiderte schuldbewusst: ›Die habe ich aufgegessen‹, und dachte, das könnten sie mir ja wohl kaum vorwerfen, denn ich hatte lange warten müssen. Aber meine Eltern fragten eilig weiter: ›… und was hast du mit den Tüten gemacht, wo sind die Tüten?‹ Auch darüber wunderte ich mich, denn solcher Art Sparsamkeit war bisher nicht die Hauptsorge meiner Eltern gewesen. Ich weiß nicht warum: die Tüten hatte ich ordentlich glatt gestrichen und aufgehoben. Es hätte genauso gut sein können, dass ich sie weggeworfen hätte. Aber die Tüten waren da. ›Na, Gott sei Dank!‹ – meinen Eltern fiel hörbar ein Stein vom Herzen. In den doppelten Böden der Tüten hatten sie Bargeld versteckt, das sie vor der Flucht noch hatten zusammenkratzen können. Man hätte es uns sonst an der Grenze abgenommen. Und als dieser Schreck vorbei war, wurde ich von ihnen richtig begrüßt, wie ich’s am Anfang erwartet hatte.


Der ›Propusk‹, ausgestellt am 8. Oktober 1918

Meinen Eltern war inzwischen Folgendes geschehen: Nachdem der Zug, in dem ich saß, weggefahren war, wandte sich mein Vater verzweifelt an die Soldaten, die die Bahnstation und die russische Grenze kontrollierten. Sie hatten den Befehl, niemanden mehr durchzulassen. Er lief überall hin und sagte, seine minderjährige Tochter sei allein in diesem Zug, und er müsse doch zu ihr. Nichts zu machen. Aber irgendwann gelang es meinem Vater, einen ranghöheren Befehlshaber27 zu überzeugen, dass er unbedingt durchgelassen werden müsse. Der Mann hörte ihm widerwillig zu, dann riss er schließlich eine Seite aus seinem Notizbuch und kritzelte ein paar Sätze darauf.

Was er da schrieb, nannte man in Russland einen Propusk, das bedeutet Passierschein – das Wort hat aber eine viel weiter gefasste Bedeutung als auf Deutsch. Es heißt auch Genehmigung und vieles mehr. In Russland brauchte man für alles Mögliche einen Propusk, damals wie heute. Ohne diesen improvisierten Propusk hätte ich meine Eltern vielleicht nie wiedergesehen, und was dann aus mir geworden wäre, wissen die Götter. Ich habe große Hochachtung vor diesem Kommissar, denn er hat aus reiner Menschlichkeit gegen seine Weisung gehandelt. Bestochen haben konnte mein Vater ihn nicht, das Geld war in den Butterbrottüten, und die hatte ich. Den Zettel habe ich noch heute – Heinz, gib mir doch mal das Fotoalbum! Hier siehst du, was für ein kleines Zettelchen das ist. Ich hüte es wie einen Talisman. Sinngemäß steht dort, dass man meine Eltern mit einem Güterzug noch durchfahren lassen soll, weil ich allein vorausgefahren bin.