Die drei Emigrationen der Sonja Berg

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Oft mieteten wir eine Datscha gemeinsam mit Beckers oder den Brüdern meines Vaters. So hatten wir Gesellschaft. Die Kinder von Beckers waren etwa gleich alt mit meinen Brüdern. Meine Cousinen väterlicherseits, Nora und Eva Hackel, waren ungefähr in meinem Alter.

Wir suchten zusammen Blaubeeren und Pilze. In Terijoki brachten uns die finnischen Fischer jeden Tag frischen Fisch ins Haus. Für unsere Lebensmittel wurde in einem Hügel neben dem Haus eine seitliche Vertiefung ausgegraben. Die wurde mit Eisbarren ausgelegt, die man hin und wieder erneuern musste. Das war der sogenannte Lednik, unser Kühlschrank.

Während unsere Familie die Sommermonate auf der Datscha verlebte, musste mein Vater meist arbeiten, dennoch versuchte er, so viel Zeit wie möglich bei uns zu verbringen. Oft fuhr er von der Datscha aus täglich in die Stadt. Das muss ziemlich anstrengend für ihn gewesen sein. Nach Terijoki dauerte es pro Strecke über zwei Stunden. Während der Zeit der ›weißen Nächte‹ gingen wir Kinder abends oft zur Bahnstation und holten ihn ab.

So unbeschwert die Sommer in Finnland und unser Familienleben im Alltag auch waren – die Zeiten, in denen wir lebten, waren politisch unruhig. Meine Eltern nahmen das aufmerksam wahr. Mein Vater war ein leidenschaftlicher Zeitungsleser und über russische und internationale Politik immer bestens informiert. Mit Sicherheit war ihm klar, wie desolat das Zarenregime war. Aber er war auch ein glühender russischer Patriot. Meine Mutter erzählte mir später, dass er in Tränen ausgebrochen sei, als er von der schweren Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg 1904 erfuhr. Meine Mutter hatte zu den Verhältnissen in Russland eine wesentlich distanziertere Haltung. In ihren Briefen an Jenny äußerte sie oft, sie hätte es lieber gesehen, wenn ihre Kinder in Deutschland aufgewachsen wären. Sie fürchtete um unsere Zukunft in diesem instabilen und zutiefst rückständigen Land. St. Petersburg mit all seiner Pracht war zwar eine europäisch geprägte Stadt, die sich in mancher Hinsicht mit London oder Paris messen konnte. Aber Regierung und Verwaltung waren korrupt und unfähig. Alle paar Jahre brachen Epidemien aus, Cholera oder Ruhr. Das muss man sich in so einer Großstadt mal vorstellen. Dann waren die Schulen und die meisten öffentlichen Einrichtungen wochen- oder monatelang geschlossen, jeder Kontakt mit Menschen konnte lebensgefährlich sein. Wir mussten zu Hause alles Wasser abkochen, manchmal auch das über Monate hinweg. Meine Mutter erzählte besonders von einer der Cholera-Epidemien. Sie konnte von Sommer 1908 bis März 1909 nicht unter Kontrolle gebracht werden. Mir ist davon im Gedächtnis geblieben – ich aß zum Frühstück immer am liebsten Obst –, dass dies plötzlich zu meinem großen Verdruss streng verboten war wegen der Keime, was ich nicht begreifen wollte.

Trotz solcher Misslichkeiten ging es uns im Grunde sehr gut. Die starken Gegensätze, die Russland seit jeher prägten, zeigten sich auch in Petersburg. Die Stadt war erst 1703 gegründet worden. Peter der Große hatte Tausende von Leibeigenen gezwungen, ihm diese neue Hauptstadt zu bauen. Mitten in einem Sumpf, hoch im Norden, unter unvorstellbar harten Bedingungen. Zustände ähnlich der Sklaverei! Die Leibeigenschaft wurde erst 1861 abgeschafft. Und auch zu unserer Zeit noch war die soziale Lage der ärmeren Bevölkerungsschichten katastrophal. Die Menschen wohnten in unbeschreiblichen Elendsquartieren, viele hatten nicht einmal ein eigenes Bett. Die berüchtigten Kellerwohnungen wurden regelmäßig vom Hochwasser überschwemmt. Man hätte schon lange an bestimmten Stellen Dämme gegen das Wasser bauen müssen, aber die Regierung verschleppte es immer wieder.

Am 9. Januar 1905 kam es zu einer Massendemonstration für Reformen – Verfassung, Wahlrecht, Achtstundentag. Auslöser waren die sozialen Missstände im Land, die sich nach dem verlorenen Russisch-Japanischen Krieg verschärft hatten. Vor dem Winterpalais, dem Wohnsitz des Zaren, eröffnete die Armee ohne Ankündigung das Feuer auf die friedlichen, eigentlich zarentreuen Demonstranten, weit über 100 Menschen starben. Meine Mutter hätte in diesem Moment am liebsten die Koffer gepackt und wäre mit uns nach Deutschland gefahren. Nach diesem als ›Blutsonntag‹ in die Geschichte eingegangenen Datum kam es zu revolutionsartigen Unruhen, die das ganze Jahr über anhielten. Die Regierung konnte Pressezensur und Versammlungsverbote nicht mehr durchsetzen, sodass große Demonstrationen und Protestversammlungen stattfanden. Erstmals gab es in Russland eine ›kritische Öffentlichkeit‹. Die Schulen wurden geschlossen und das öffentliche Leben durch einen Generalstreik der Arbeiterbewegung lahmgelegt.

Gegen Ende des Jahres wurde der Volksaufstand gewaltsam beendet. Meine Eltern waren einerseits erleichtert, dass die damit verbundene Gefahr vorüber war. Andererseits waren sie, was die politische Zukunft Russlands betraf, sehr unzufrieden. Die dringend nötigen Reformen schienen in weite Ferne gerückt und spätere Wiederholungen revolutionärer Unruhen wohl unvermeidlich.

Auch der Antisemitismus flackerte in diesen Jahren wieder auf, es kam in vielen russischen Städten zu mörderischen Judenpogromen, angeheizt von der Geheimpolizei. Meine Eltern wollten um jeden Preis, dass uns Nachteile im Zusammenhang mit der jüdischen Herkunft unserer Familie erspart blieben.

Meine Mutter war bereits kurz nach ihrer Geburt in Berlin evangelisch getauft worden, mein Vater war bei seiner Übersiedelung nach Petersburg konvertiert. Mit der jüdischen Familienherkunft identifizierten sich meine Eltern in kultureller Hinsicht, und dieses Bewusstsein gaben sie auch an uns weiter. Aber religiös hatten sie mit dem Judentum keine Berührungspunkte mehr. Wir Kinder wurden alle gleich nach der Geburt getauft, allerdings auch das ohne rechte Begeisterung meiner Eltern. Die Umstände waren reichlich kurios, denn es musste jedes Mal in der französisch-reformierten Gemeinde geschehen. Der dortige Pfarrer war der Einzige, der bereit war, konvertierte Juden und deren Angehörige zu taufen – auf Französisch, sodass kaum jemand ein Wort verstand.

Ob die Taufe, unser nicht jüdisch klingender Familienname und unser so gar nicht jüdisch-religiöser Lebensstil ausreichend sein würden, uns vor dem Antisemitismus zu schützen, daran kamen meiner Mutter angesichts der Ereignisse immer neue Zweifel. Sie machte sich Sorgen, dass wir ›zu jüdisch‹ aussehen könnten und freute sich, dass ich als kleines Mädchen blond und blauäugig war – na ja, das gab sich dann später.

Trotz aller düsteren Vorahnungen und politischen Unruhen war unsere Kindheit in St. Petersburg eine herrliche Zeit, die meine Brüder und mich für unser ganzes Leben geprägt hat. Die Erinnerung daran, an die Stimmung in dieser herrlichen Stadt und unser behütetes und inspirierendes Elternhaus hat uns später über vieles getröstet.«

Spurensuche, Berlin 2017

Sonjas Erzählung klingt mir nach drei Jahrzehnten noch gut im Ohr, aber ich bin doch etwas skeptisch gegenüber meiner eigenen Erinnerung und zugleich neugierig darauf, mehr herauszufinden über Personen und Orte der Geschichte.

Da ist zunächst Sonjas Vater Gustav Hackel und seine jüdisch-orthodoxe Familie aus Mitau, heute Jelgava in Lettland.3 Vor meinem inneren Auge stelle ich mir, wenn Sonja von der ärmlichen Herkunft ihres Vaters und der Wanderschaft des Großvaters erzählte4, ein ostjüdisches Schtetl vor. Im Laufe meiner Recherche muss ich dieses Bild revidieren. Auf alten AufnahmenI ähnelt Mitau – mit herzoglichem Schloss, humanistischem Gymnasium und baumbestandenem Marktplatz mit klassizistischen Fassaden – eher einer deutschen Provinzstadt.5

Im Mitauer Adressbuch von 1892 finde ich den Eintrag J. M. Hackel, Große Straße 39. J. M. könnte für Jacob Moses stehen, so hieß Gustavs Vater – vielleicht wurde seine Mutter Leah, geb. Lewiss, noch unter dem Namen ihres (damals bereits lange verstorbenen6) Mannes geführt? Hier ist diese Spur leider zu Ende. Es müssen außer Gustavs Mutter noch weitere Verwandte in Mitau gelebt haben, denn Flora erwähnt in einem Brief aus dem Jahr 1905: »… haben unseren Neffen aus Mitau zu Besuch, der eben sein Abiturium macht und unsere Jungen während der Sommermonate beschäftigen soll.« Dies muss ein Sohn von Gustavs einziger Schwester sein, denn seine drei Brüder lebten alle inzwischen in St. Petersburg. Leider wird sein Name nicht angegeben, wie auch von Gustavs Schwester in den Familienannalen weder Name7 noch Geburtsdatum je erwähnt werdenII. All dies sind wohl Indizien, dass die Beziehung nach Mitau nicht allzu eng war, wenn nicht sogar von bewusster Distanz geprägt. Ich erinnere mich nicht, dass Sonja je erzählt hätte, sie sei in Mitau gewesen, noch findet sich in Floras umfangreichen Aufzeichnung irgendein Hinweis darauf. Vielleicht ist hier ein – damals unter assimilierten Juden durchaus verbreitetes – Verhaltensmuster erkennbar, die als rückständig empfundenen Wurzeln abzustreifen.III

Auch über die von Sonja – dann doch mit etwas Stolz – erwähnten Vorfahren der Hackels, die Rabbiner wurden, kann ich nichts Gesichertes herausfinden. Offenbar muss diese Tradition bereits mindestens zwei Generationen zurückgelegen haben.8 IV Gustav und seine Geschwister wuchsen jedenfalls bereits in einem Milieu auf, das stark von bürgerlich-weltlichen Einflüssen geprägt war. Seine drei jüngeren Brüder machten alle am Mitauer Gymnasium Abitur. Die beiden jüngeren, Ludwig und Arthur9, besuchten jeweils für ein Jahr die Universität in Dorpat und eröffneten 1895 in St. Petersburg gemeinsam eine Apotheke.V JeannotVI, der zweitälteste, schloss in Dorpat ein Medizinstudium ab und wurde Arzt, ebenfalls in Petersburg.10 Seine 1891 abgeschlossene Doktorarbeit ›Ein Beitrag zum Erhängungs- und Erstickungstode im engern Sinn‹ finde ich in der Staatsbibliothek Berlin. Die Universität Dorpat war die einzige deutschsprachige Universität im zaristischen Russland. Die Beibehaltung von Deutsch als Lehrsprache gehörte zu den Privilegien, die Russland den Provinzen Kurland und Livland gewährt hatte, als diese Teil des russischen Reiches wurden. In den 1880er-Jahren fand eine umfangreiche Russifizierung statt, von der die auf Deutsch abgefasste Dissertation von Jeannot Hackel jedoch noch nicht betroffen gewesen zu sein scheint. Auf dem Vorblatt steht: ›Meinem Vetter Doctor Edward Lewiss aus Petersburg in Liebe und Dankbarkeit gewidmet.‹ Wahrscheinlich hatte dieser Verwandte mütterlicherseits ihn während seiner Ausbildung finanziell unterstützt. Offenbar beruhte dies auf einer umfassenderen Abmachung der Familien Lewiss und Hackel. Flora berichtet in ihren Erinnerungen, Gustav habe ihre Mitgift benötigt, um seinem Bruder Jeannot die ›Kaltwasserheilanstalt von Dr. Lewiss‹ zu kaufen.

 

Gustav Hackel, St. Petersburg, um 1910

Bei meiner Recherche finde ich einen weiteren Hinweis zur kulturellen Sonderrolle Kurlands. Aus den Privilegien, die der kurländischen Bevölkerung bei der Einverleibung ins Zarenreich zugestanden wurden, ergab sich auch innerhalb des Ostjudentums eine Sonderstellung: Ein ›Kurischer‹ war kulturell nach Deutschland ausgerichtet und hatte üblicherweise eine deutsche Schulbildung erhalten, der Gebrauch des Jiddischen war auf dem Rückzug. Zugleich fühlten sich die kurischen Juden Russland besonders verbunden, als Treuebezeugung für die relative Unabhängigkeit innerhalb Kurlands – oder als Schutzmechanismus, um angesichts des erstarkenden Nationalismus den Vorwurf des ›vaterlandslosen Gesellen‹ zu entkräften, der den Juden in Zeiten der Verfolgung immer wieder gemacht wurde.VII

Sonja charakterisiert ihren Vater so: seines kulturellen jüdischen Hintergrundes bewusst, dabei stark in der deutschen Sprache und Kultur verwurzelt, zugleich glühender russischer Patriot – vielleicht hätten seine Zeitgenossen Gustav als typisches Beispiel für einen ›Kurischen‹ angesehen.

Zum Schluss frage ich mich, was aus möglichen in Mitau verbliebenen Verwandten geworden sein mag. Im Mitauer Adressbuch finde ich den Eintrag: ›Hebräischer Friedhof, an der Ruhenthal-Bauska-Straße, 4 Werst von der Stadt, vis-à-vis der Strautneek-Buschwächterei‹. Es gibt in Lettland ein Projekt zur Abschrift jüdischer Grabsteine. Aber Jelgava/Mitau ist aus irgendeinem Grund nicht dabei. Schließlich finde ich eine Quelle, die Aufschluss gibt: Beim Einmarsch der Deutschen nach Lettland 1941 war Mitau einer der ersten Orte, an denen die jüdische Bevölkerung zusammengetrieben und an Ort und Stelle von Erschießungskommandos getötet wurde. Dies geschah unter anderem auf dem jüdischen Friedhof, der anschließend vernichtet wurde.VIII Die Welt der Mitauer Hackels und Gittelsohns existiert nicht mehr.

Einfacher als bei Gustav Hackel stellt sich die Quellenlage bei Sonjas Mutter dar. Hunderte von ihr verfasste Briefe finden sich in Sonjas Nachlass, ebenso ein langer Text, in dem sie für ihre Kinder und Enkel Erinnerungen an ihre Jugend in Berlin festhält. Sie erzählt darin auch von ihrer im Kindbett verstorbenen Mutter und dem Vater, der kurz danach die Familie verließ und der erst wiederauftauchte, als sie erwachsen war:

Meine Mutter war 1830 geboren, sie war 27 Jahre alt, als sie heiratete. Zart, feinknochig und feinnervig, mit wunderschönen Händen und einem hübschen Gesicht, welches durch das gescheitelte über die Ohren frisierte Haar noch schmaler erscheint, muss sie nach damaligen Ansprüchen »charmant« gewesen sein. Die Handschrift hatte absolut Sophiechen von ihr geerbt. Wir hatten als einziges Andenken von ihr ein Poesiealbum, in denen Goethesche und Heinesche Gedichte in der Mehrzahl waren.

Es war nicht zu ihrem Glücke, dass sie den Schlossermeister Isidor Blumenthal heiratete. Zwar war er durchaus nicht das, was man sich unter einem Schlossermeister vorstellte. Doch war es durchaus charakteristisch für ihn, dass er gerade dieses Metier erwählt hatte. Als die Eltern (in Friedeberg in der Neumark) sich seinem glühenden Wunsch zu studieren, widersetzten und einen Kaufmann aus ihm machen wollten, erklärte er trotzig, er wolle Handwerker werden und zwar das schwerste Handwerk erlernen. Das war in damaliger Zeit für jüdische Begriffe ein Rückschritt in niedere Sphären! Er selbst erzählte aber später mit Freude und Humor von seinen Wanderjahren als sangesfroher Geselle, und wenn wir im Harz oder Thüringen waren, knüpfte er mit jedem Handwerksburschen teilnehmende Gespräche an.

An einer anderen Stelle ihrer Memoiren skizziert Flora das Umfeld in der Berliner Holzmarktstraße 61, wo sie gemeinsam mit ihrer Schwester Sophie im Haus ihrer Tante Bertha aufwuchs:

Unsere Wohnung lag im Parterre, einige Stufen hoch, darunter ein an einen Sattler vermieteter Keller. Aus einem kleinen Entree kam man in ein zweifenstriges Wohnzimmer, ein Tritt am Fenster mit Stuhl und Nähtisch darauf, war Tantes Lieblingsplatz. Nach hinten war ein einfenstriges Schlafzimmer, wo Tante mit uns schlief, und dann eine geräumige Küche, wo auch das Mädchen [Hausmädchen] schlief. Unser liebster Aufenthalt waren der sehr große Hausflur und der geräumige Hof, und ich meine noch Tante Berthas, »Töni« genannt, – Stimme zu hören, wenn sie immer wieder zu den Mahlzeiten rief und wir uns doch von den Spielen nicht trennen konnten.

Wir nahmen sowohl unter den Kindern des Vorderhauses wie unter den Handwerkskindern der Kleinwohnungen (24 Mieter waren es im Ganzen) als »Wirtskinder« eine besondere Stellung ein, alle – und wir mit – waren überzeugt, dass die Beutel mit harten Talern, das Ergebnis der Miete, zu unserem ureigensten Gebrauche da seien. Ich machte von unserer Vorzugsstellung wenig Gebrauch, Sophiechen aber war der »Führer« mit uneingeschränkter Macht und dem entsprechenden Despotismus. Ob Räuber und Prinzessin oder Theater gespielt wurde, wer die Hauptpersonen sein sollten, bestimmte nur sie, trotz freigiebig verteilter Ohrfeigen war sie aber beliebt, als »Emil« in der Straße bekannt, denn sie kletterte und sprang und war unternehmungslustig wie ein Junge. Ich war ihr zärtlich gehüteter Schützling, und vergalt’s ihr mit Liebe, Bewunderung und dem durch lange Jahre anhaltenden Wunsche, ihr zu gleichen.

Auch der Alltag der Petersburger Jahre, sie dauerten für Flora von ihrer Heirat 1890 bis zur Flucht 1918, ist bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges nahezu lückenlos durch das sogenannte Kindertagebuch (die Abschriften der Briefe, die sie an ihre Freundin Jenny Aron in Elbing schrieb) dokumentiert. Bemerkenswert ist ihr vollendeter Briefstil, aber auch ihre umfassende Bildung, ihr ausgeprägtes Selbstbewusstsein und ihre differenzierte Meinung zu den politischen Ereignissen der Zeit. Das Kindertagebuch beginnt damit, dass sie sich für eine verspätete Antwort entschuldigt und vage Andeutungen über ihre erste Schwangerschaft macht:

den 28. April 1891

Nicht böse sein bitte! Aber mir war nicht so recht in letzter Zeit.

Im nächsten Brief erzählt sie bereits ganz selbstverständlich, wie sie sich mit den Umständen arrangiert hat:

Einen Doktor oder eine ›sage femme‹ habe ich bisher nicht zu Rat gezogen und rechne mittels eigener Kombination, dass ›dat Würmchen‹ Ende October in die Erscheinung treten wird.

In Acht nehme ich mich nach Kräften, fahre so wenig wie möglich Iswostschik [Pferdedroschke, im Winter Schlitten], ängstige mich in schwarzen Stunden und freue mich wiederum unsäglich, dass auch dies Glück uns zuteil werden soll.


Flora und Sophiechen als Kinder, Berlin, um 1868

In den darauffolgenden Jahren beschreibt Flora anschaulich den Alltag mit ihren größer werdenden drei Jungen:

November 1902

In der Schule [war] Tanzabend für die großen Schüler von sechs bis zehn Uhr, und Bobby hat so lange gebettelt, bis er mitgenommen wurde. Bruno [ältester Sohn von Benno und Sophie Becker] der Arrangeur und wir Alten alle dabei. Sehr hübsch. Bobby sehr tanzlustig, aber leider in all den Tänzen nicht bewandert. Paul und Fredy waren im Tanzsaal nicht sichtbar, zogen es vor, sich in den Korridoren Schlachten zu liefern.

März 1903

Die Babyfrage ist wieder einmal bei uns auf die Tagesordnung gesetzt, und alles, was du in diesem Augenblicke denkst, denke ich schon seit Wochen. Ich hab einen ordentlichen Hass auf die Leute, die mir immer zu einem Mädel so freundschaftlich zugeredet haben, obgleich die sozusagen ja nicht die Schuld tragen. Gustav ist noch mehr außer sich wie ich, wir hatten uns das Altwerden schon so bequem zurechtgelegt, und nun sollen wir wieder jung werden. Sophiechen findet das sehr hübsch; ich bin einerseits zu träge dazu, andererseits tut mir das Baby leid, das unfehlbar verzogen werden wird. Bitte davon niemandem etwas verlauten zu lassen, ich liebe es nicht, wenn acht Monate vor der Geburt des Kindes von ihm schon die Rede ist.

Sophiechen spielt im Schweiße ihres Angesichts Klavier, täglich 2 Stunden. Und ich? Lerne wieder Babys wickeln.

An dem Wohnungswechsel ist übrigens nicht Baby schuld, sondern in erster Linie Bobby, der uns im Schlafzimmer beschwerlich wird, obgleich er, wie aus dem Erfolg zu ersehen, das Eheleben nicht gestört hat.

Ich bin beeindruckt über die Offenheit, mit der Flora ihren Gefühlen hier freien Lauf lässt. Als Sonja dann glücklich auf der Welt ist, ist sie wieder mit dem Schicksal versöhnt:

Ihr glaubt gar nicht, wie einem zu Mute ist, wenn man den Berg hinter sich hat, und so ein kleines Wesen mit gesunden Gliedern vor sich. Das ist wirklich ein Wunder, so oft man es von neuem erlebt. Und wenn man dazu in guter Pflege ohne Zwischenfälle der Genesung entgegen geht, und der Gatte strahlend, wie er nur strahlen kann, sich mit Mutter und Kind freut, und wenn man die Tausend, vorläufig kleinen Sorgen und Mühen mit Feuereifer übernimmt, dann vergisst man schnell die ausgestandenen Beschwerden und wundert sich nur, dass man sich nicht schon neun Monate auf das Kind gefreut hat.


Paul, Fredy, Bobby, St. Petersburg, um 1900


Sonja, St. Petersburg, um 1912

Floras Ansichten über Erziehung sind wahrscheinlich geprägt von ihrer eigenen Kindheit, in der sie – für die damalige Zeit und die Gesellschaftsschicht, der sie angehörte – ungewöhnlich viel Freiheit besaß:

Ich genieße die Kinder ordentlich und finde sie interessanter als meinen sonstigen Verkehr. Dein Lob, dass ich mit den Kindern in gesunden Tagen nicht ängstlich bin, verdiene ich nur bedingt. Im innersten Herzen bin ich’s und zwar in der tollsten Weise, alle möglichen Ängste ausdenkend. Aber ich beschränke die Kinder deshalb nicht in ihrer Freiheit, wohl wissend, dass ihnen, wenn man sie an der Leine führt, auch alles Unglück zustoßen kann. Mit anderen Müttern aber herumzuunken, Krankheitsgeschichten auszutauschen et cetera, finde ich die größte der zahllosen Geschmacklosigkeiten, an denen unsere Gesellschaft so reich ist.

[…]

Wir hatten kürzlich ein Schulerlebnis; gottlob nicht mit unseren Kindern, sondern mit Franks [einer befreundeten Familie] ältestem, 14-jährigen. Der Junge hat unanständige Bilder in die Schule gebracht und ist ausgeschlossen worden. Zu streng nach unser aller Urteil, da er nicht, wie der Direktor annimmt, den Knaben damit etwas Neues gezeigt hat, vielmehr etwas, von dem sie alle wussten. Als wir unsere Jungen ins Gebet nahmen, zeigten sie sich sehr wohl unterrichtet und behaupteten ›es‹ zu wissen, seit sie die Schule besuchen. Ich sagte, ich wolle gar nicht wissen, was auf den Bildern gewesen, ich könne mir denken, es hänge damit zusammen, wie die Kinder geboren werden. Ja, wie es anfängt, lautete Fredys klassische Antwort.

 

[…]

Klavierunterricht der Kinder, [davor] graue ich mich umso mehr, als ich dabei gar nicht helfen kann, und die Lust meiner Söhne zum Spiel gewiss nicht größer sein wird als in anderen Häusern. Falls sich die Jungen als ganz talentlos oder ganz unlustig erweisen, gebe ich nach zweijähriger Probe das Spiel auf. Soviel Genuss die Musik bietet, hab ich doch nie verstanden, warum gerade sie zur Kunst für alle bestimmt sein soll, warum ein heranwachsender Mensch die wenigen freien Stunden, die ihm das Lernen lässt, gerade darauf verwenden muss.

Über eine Affäre, die Paul mit einer der Gouvernanten anfing, schreibt sie:

Mademoiselle est de retour, aber ich nehme sie nicht mehr wieder, ich glaube, ich schrieb dir schon, dass Paul ihr im vorigen Jahr hinter unserem Rücken Besuche gemacht hat. Große Frage: A-t-il déjà quelque chose à déclarer?11 Er sagt Nein.

Flora sieht die Verhältnisse in Russland kritisch. 1903 schreibt sie:

Meine Jungen sind heute nicht in der Schule, und die Elektrizität brennt nicht, beides aus demselben Grund: Überschwemmung. Heute Morgen sah es schrecklich aus, die Straßen ganz überschwemmt. Seit mehr als 100 Jahren soll da Remedur geschaffen werden, aber der berühmte Schlendrian.

Und etwa um dieselbe Zeit:

Mir tut es leid, dass die Jungen Russen geworden sind, sie sind selbst aber sehr zufrieden damit. Wo soll’s auch herkommen? Bei jeder freien Meinungsäußerung heißt es von allen Seiten: um Gottes willen den Mund halten! Unsere Auslandsstudenten12 sind ganz anders. Was wird aus meinen kleinen Russen werden? Ich bin wie die törichte Else im Grimmschen Märchen und gräme mich jetzt schon um alles, was nicht aus ihnen werden kann.

Den Russisch-Japanischen Krieg 1904 sieht Flora schon als Vorboten weit schlimmerer Ereignisse, sie schreibt an Jenny:

Wer weiß, zu wessen höherer Ehre ich dereinst meine Jungen totschießen lassen muss!

Im gleichen Jahr, als Gustav in einer Lotterie eine größere Summe gewinnt und davon ein Bankkonto für Sonjas spätere Aussteuer anlegt, ist Flora strikt dagegen – sie blickt skeptisch in die Zukunft:

Ich bin eine schlechte Mutter, denn wenn ich das Geld gewonnen hätte, so hätte ich nicht für Sonetschka weggelegt, sondern zunächst einmal eine feine Reise gemacht, die wieder eine goldene Erinnerung fürs Leben hätte werden können und uns allen somit bessere Zinsen tragen könnte, als Sonja das schnöde Geld. Muss denn in 20 Jahren das Mädel auch noch eine Mitgift haben? Und wenn in Russland alles drunter und drüber geht, wird dies Geld gerade festliegen? Und wenn man das Geld hat, kriegt man darum einen besseren Mann?

Die Ereignisse der Revolution von 1905 kommentiert sie so:

26. Oktober 1905

Eben kommt Bobby nach Hause; die Kinder sind aus der Schule entlassen. ›Goworjat bunt‹13. Es wird ernst. Möchtest du gern in einer historischen Zeit leben? Hätte ich die Kinder im Ausland, zum Beispiel bei dir, dann glaube ich, wäre ich bereit, die Sache als historisch interessant zu betrachten. Danke! Aber schicken kann ich sie dir nicht, denn erstens geht keine Eisenbahn und zweitens geht überhaupt nichts. Meine Kinder hätte ich auch lieber nach deutschen Prinzipien in Deutschland erzogen, da sie nun einmal Russen sind, so heißt es doch damit fertig werden. Was aus dem Sturm der Bastille, des politischen Gefängnisses, das auf der Wyborger Seite14 ist, geworden ist, die für Nachmittag geplant war, weiß ich nicht. Gus ist mit den Jungen hingegangen, sich die Demonstrationen ansehen, ich wäre auch mitgegangen, aber Bob ist bettlägerig, und das Stubenmädchen hat eine starke Angina. Dass wir totgeschlagen werden, kann uns allen passieren. Und geschieht es uns, und Sophiechen dazu, dann empfehle ich dir unsere Kinder. Gus glaubt immer noch nicht an eine Gefahr, und das ist gut, sonst wäre es um meinen Mut noch schlechter bestellt. Paulchen sagt, er möchte jetzt in keinem Falle von Petersburg weg; und ich muss sagen, wenn ich die Kinder im Ausland hätte, und unser Geld dazu, würde ich recht ruhig die Sache mit ansehen.

14. November 1905

Seit drei Tagen gehen die Jungen wieder nicht in die Schule, obgleich unsere nicht mitstreikt. In den anderen verlangen die Schüler Rauchzimmer, Versammlungsfreiheit und beratende Stimme in den Lehrerkonferenzen. – Blub! – Paul macht noch nicht mit, trotzdem er seit gestern lange Hosen trägt. Ob Dir die Eisenbahn oder ein deutsches Minenboot diese Briefe zuführen wird? Grüßt herzlich. Sonja quatscht herzerquickend neben mir.

4. Januar 1906

Und so kann ich nicht sagen, dass es schön bei uns wäre. Die Reaktion erhebt mächtig ihr Haupt, wir werden ganz nach altem Regime regiert15, und den Freiheitskampf werden wohl meine Jungens noch mitkämpfen. Hoffentlich fangen sie’s dann besser an wie die armen Verblendeten, die sich schon jetzt stark genug glaubten und im Herrn und Volk auf Beistand rechneten, der versagte. Schade um all die Jugend, die sich hinmorden ließ, schade um all unsere Hoffnungen, die wir nun wohl begraben müssen. Und doch können wir nur mit Freude die Wiederherstellung der Ordnung begrüßen.

22. Februar 1906

Genommen haben mir diese Zeiten etwas, nämlich das Vertrauen in die Zukunft. Wozu erziehe ich meine Söhne? Für die Lunte? Oder als Bombenopfer? An gedeihliche Entwicklung ist auf Jahre hinaus nicht zu denken. Und wie soll ich sie erziehen? Freiheitsdurstig, auf Menschenrecht gehend, oder mit dem Ideal der wohl bestallten Tschinowniks [Beamte] im Auge? Ja, erziehen wir denn überhaupt, erzieht sie nicht die Zeit, in der wir leben? Die allmächtige Zeit und das eherne Schicksal?

Als ich ihre Zeilen lese, bin ich beeindruckt von Floras scharfer Beobachtungsgabe. Nicht nur wegen der bevorstehenden Kriege, sondern auch mit Blick auf die Rolle, die der Antisemitismus im Leben ihrer Kinder noch spielen sollte. Bereits 1895, als Fredy, ihr Zweitgeborener, ein paar Monate alt ist, notiert sie:

Der kleine schwarze Alfred scheint weniger gut getauft, das Näschen zeigt keine Neigung nach oben, und das ist bedenklich. Oder glaubt ihr, dass bis zu seiner Großjährigkeit der Unterschied zwischen Jud’ und Christ vergessen sein wird?

Wenn man die späteren Erlebnisse der Familie Hackel bedenkt, kann man Flora fast hellseherische Fähigkeiten zusprechen!

Im Verlauf meiner Recherche fällt mir noch ein anderes Dokument aus Sonjas Nachlass in die Hände. Es sind Jugenderinnerungen von Sonjas Cousine Eva. Sie war die Tochter von Gustavs jüngerem Bruder, dem Apotheker Ludwig Hackel. Eva stand mit Sonja bis zu ihrem Lebensende in Briefkontakt. Sie schickte ihr die Aufzeichnungen in Erinnerung an die gemeinsame Kindheit. Eine Passage darin beschreibt die Sommerurlaube in Finnland, die Eva ganz ähnlich erlebt hat wie Sonja:

In unseren Sommerferien zog die ganze Familie für drei Monate aus der Stadt hinaus nach Finnland, um dem sehr ungesunden feuchten Klima von St. Petersburg zu entgehen.

Vater blieb zurück und kam nur an den Wochenenden, mit Ausnahme seiner drei Wochen Ferien. Wenn wir auf’s Land zogen nahmen wir buchstäblich alles mit: Blumentöpfe, Spielsachen, kleine Möbelstücke, alles wurde eingepackt und auf einem großen Pferdewagen transportiert. Unsere Köchin und das Kindermädchen fuhren gewöhnlich mit dem Wagen, sie liebten es, langsam zu Pferd unterwegs zu sein.

Die Familie inklusive der Haustiere fuhr mit dem Zug, wir nahmen Goldfische, Vögel und sogar Kaulquappen mit. Auf einer dieser Reisen zerbrach das Glas mit den Kaulquappen, und wir hatten keine andere Wahl, als die Kaulquappen zur Rettung in das Glas mit den Goldfischen zu tun. Ich erinnere mich noch, wie erschüttert ich war, als wir bei unserer Ankunft zwei Stunden später feststellten, dass die Kaulquappen von den Goldfischen verspeist worden waren.

Unsere drei Monate in Finnland waren immer unbeschreiblich glücklich, und ich habe die herrlichsten Erinnerungen daran, mit meinem Vater in den Wald zum Blaubeer- oder Preiselbeerpflücken oder zum Pilzesammeln zu gehen.

Er war Experte für Pflanzen und lehrte uns eine Menge, in dem er jede Pflanze benannte, die wir Kinder pflückten. Er gibt in Finnland zahlreiche Arten essbarer Pilze, und Vater bestand darauf, uns jede einzelne zu zeigen. Auf diese Weise lernten wir schnell zu erkennen, welche giftig waren.