Paulus und die Anfänge der Kirche

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2.1.3.4
Bilanz

Gewiss lassen sich manche der aufgelisteten Unterschiede auch durch die zeitliche Distanz oder durch die eigenständigen theologischen Überzeugungen des Lukas erklären. Und gewiss gibt es mehr Übereinstimmungen zwischen der Apostelgeschichte und den Paulusbriefen, als man es in gewissen Phasen der neutestamentlichen Forschung wahrhaben wollte.66 Doch lassen schon die genannten Unterschiede sowie die nicht abzustreitende zeitliche Distanz eine Paulusbegleiterschaft des Lukas fraglich erscheinen, so dass es insgesamt |54| nach wie vor als wahrscheinlicher gelten muss, dass der Verfasser der Apostelgeschichte kein Begleiter des Paulus war.

Dazu kommt, dass die «Wir»-Berichte nicht per se für eine Paulusbegleiterschaft des Verfassers sprechen müssen. Vielmehr könnten sie ebenso lediglich ein Stilmittel der historiografischen Darstellung sein, das vom Verfasser bewusst eingesetzt wurde, um die Glaubwürdigkeit seiner Darstellung zu erhöhen.67

Schliesslich ist die Frage der historischen Zuverlässigkeit auch dann zu stellen, wenn der Verfasser der Apostelgeschichte als ein Augenzeuge eines Teils der Geschehnisse verstanden wird. Denn selbst dann ist damit zu rechnen, dass er auch mit den Erlebnissen interpretierend oder ordnend verfährt, dass er Aspekte hinzufügt oder weglässt, um seinen eigenen Darstellungsabsichten gerecht zu werden.

Das heisst: In der Apostelgeschichte liegt eine bedeutende und höchst interessante Paulusdarstellung vor, die jedoch in ihrem historischen Quellenwert von Fall zu Fall kritisch geprüft werden muss. Dazu gehören Vergleiche mit den paulinischen Briefen, wobei hier ebenfalls zu beachten ist, dass auch Paulus nicht frei von Darstellungsinteressen ist und daher auch er manche Ereignisse in einem bestimmten Licht erscheinen lassen möchte. Und nicht alles, was die Apostelgeschichte erzählt, worüber die Paulusbriefe aber schweigen, muss deshalb gleich als historisch unwahrscheinlich gelten.68 Das bedeutet, dass die Apostelgeschichte trotz aller berechtigter Anfragen einen wertvollen Beitrag zum Verständnis des Paulus leistet und dass – auch wenn ein sorgfältiger Umgang mit dieser Quelle unabdingbar ist – keine Paulusdarstellung ohne die Stimme der Apostelgeschichte auskommen kann.

2.2
|55| Paulus, sein Leben und seine Arbeit – Spuren und Konturen
2.2.1
Paulus, der Jude – Lebensdaten, Herkunft, Bildung und Erziehung
2.2.1.1
Ein leidenschaftlicher Kämpfer für die Tora: Hinweise in den Briefen des Paulus

Einen ersten Zugang zur Person des Paulus eröffnet ein Blick auf seinen Lebensweg. Allerdings stossen wir dabei sogleich an Grenzen; denn Paulus selbst gibt in seinen Briefen nur wenig Einblick in biografische Einzelheiten seines Lebens. Seine Briefe antworten ja zumeist auf Fragestellungen, die sich in den Gemeinden in der täglichen Auseinandersetzung mit dem Glauben an Jesus Christus im Kontext ihrer Lebenswirklichkeiten ergeben hatten. Deshalb stehen in den Briefen nicht die Person des Paulus im Mittelpunkt, sondern Fragen des Glaubens, des Gemeindelebens und der praktischen Lebensgestaltung im Sinne Jesu. Biografische Angaben lässt Paulus nur dort einfliessen, wo sie seiner Argumentation dienen können. Deshalb erhalten wir in seinen Briefen weder über seinen Herkunftsort noch über seine Familie noch über seinen genauen Werdegang genauere Auskunft.

2.2.1.1.1
Das Alter

Nicht einmal das Geburtsjahr des Paulus kann präzise bestimmt werden. Ein Hinweis auf sein Alter könnte vielleicht in Phlm 9 enthalten sein, wenn Paulus sich hier als «alten Mann» (presbytes) bezeichnet. Nach den Angaben eines etwas älteren Zeitgenossen des Paulus, des jüdischen Gelehrten Philo von Alexandria, habe der Arzt Hippokrates dieses Wort für Menschen im Alter zwischen 49 und 56 Jahren verwendet.69 Vielleicht bezog Paulus seine Selbstbezeichnung als presbytes aber nur in etwas allgemeinerer Weise auf sein persönlich gefühltes Älterwerden, oder er wollte in der Streitfrage des Philemonbriefes seiner eigenen Stimme durch diesen Hinweis auf sein Alter mehr Autorität verleihen. Dann |56| müsste seine Angabe unter Umständen nicht streng auf genau jenes Altersspektrum bezogen werden, sondern könnte allgemeiner verstanden werden, so dass sein Alter zu diesem Zeitpunkt auch unter 49 Jahren gelegen haben könnte. Dazu kommt, dass auch die zeitliche Ansetzung des Philemonbriefes keineswegs eindeutig ist, sondern die Vorschläge zur Entstehungszeit von der Mitte der 50er Jahre bis zum Beginn der 60er Jahre70 reichen. Diese verschiedenen Unsicherheiten der Datierung haben zur Folge, dass auch das Geburtsjahr des Paulus in einer Spannbreite von der Zeitenwende bis etwa 10 n. Chr. angesetzt werden kann.

2.2.1.1.2
Die jüdische Herkunft

Was Paulus aber an verschiedenen Stellen seiner Briefe betont, sind seine jüdische Herkunft und seine pharisäische Prägung. So schreibt er in seinem Brief nach Philippi über sich selbst:

«Ich wurde am achten Tag beschnitten, bin aus dem Volk Israel, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, lebte als Pharisäer nach dem Gesetz, verfolgte voll Eifer die Kirche und war untadelig in der Gerechtigkeit, wie sie das Gesetz vorschreibt.» (Phil 3,5–6; vgl. auch Röm 11,1)

Demnach stammte Paulus aus einer toratreuen jüdischen Familie und wurde in der jüdischen Tradition erzogen. Ob die Selbstcharakterisierung als «Hebräer von Hebräern» darauf hindeutet, dass er oder seine Familie ursprünglich aus Palästina stammten und daher die aramäische und/oder die hebräische Sprache pflegten, wie dies bisweilen vermutet wird, ist kaum zu klären. Denn die Sprache der paulinischen Briefe lässt nicht erkennen, dass eine andere Sprache als Griechisch die Muttersprache des Paulus gewesen wäre, und auch die alttestamentlichen Zitate sind nicht dem Hebräischen Alten Testament entnommen, sondern seiner antiken griechischen Übersetzung, der Septuaginta (LXX).71

2.2.1.1.3
Der Pharisäer

|57| Bemerkenswert ist die paulinische Selbstbezeichnung als Pharisäer. Damit stellt er sich in eine Glaubenstradition, die im damaligen Judentum keineswegs marginal, sondern von grosser Bedeutung war. Durch die Art und Weise, wie er über seine eigene Praxis des Jüdischseins spricht, wird darüber hinaus deutlich, wie sehr er sich darin engagiert und ernsthaft mit einer Tradition identifizierte, die sich um die Einhaltung und Auslegung der Tora bemühte. In Phil 3,6 hebt er die Untadeligkeit seines Lebens gemäss der Tora hervor, und nach Gal 1,13 f. stellt er sich diesbezüglich sogar über die meisten seiner Altersgenossen. Neben dieser Vorbildlichkeit und Untadeligkeit prägte vor allem ein weiterer Aspekt das Jüdischsein seiner frühen Jahre: sein Eifer, seine Leidenschaftlichkeit für die Tora.

«In der Treue zur Tora übertraf ich die meisten Altersgenossen in meinem Volk, und mit dem grössten Eifer setzte ich mich für die Überlieferungen meiner Väter ein.» (Gal 1,14)

Es ist zweifellos diese Leidenschaft für die Tora Gottes, die ihn zu einem ebenso engagierten wie unerbittlichen Gegner der jungen christusgläubigen Bewegung machte. Sowohl in Phil 3 als auch in Gal 1,13 stellt er diesen Zusammenhang her und bezeichnet sich selbst als einen «masslosen» Verfolger dieser messianischen Gemeinden (vgl. auch 1 Kor 15,9). Es ist also ein Eifer, der für andere, in diesem Falle messiasgläubige Jüdinnen und Juden, bedrohlich wurde.72

2.2.1.1.4
Und die Bildung?

Während Paulus diese jüdische Prägung und die pharisäische Bildung explizit zur Sprache bringt, tut er dies im Blick auf eine griechisch-hellenistische Bildung nicht. Doch verraten Sprache, Denk- und Argumentationsweisen seiner Briefe, dass Paulus auch mit der hellenisierten Welt rund um das Mittelmeer vertraut war und einige rhetorische Bildung genossen haben muss.73 Allerdings lassen seine Briefe – im |58| Unterschied etwa zu den Schriften seines Zeitgenossen Philo von Alexandria – auf keine expliziten Kenntnisse griechischer Philosophie oder griechischer Klassiker schliessen, vielleicht mit der Ausnahme von 1 Kor 15,33, wo Paulus eine Sentenz aufgreift, die auf Euripides zurück geht und in Menanders Komödie Thais aufgenommen wurde.

2.2.1.2
Ein römischer Bürger aus Tarsus in Kilikien: Was die Apostelgeschichte erzählt

Allein der Apostelgeschichte verdanken wir den Hinweis auf den Geburtsort des Paulus: Tarsus im kleinasiatischen Kilikien. So stellt sich der lukanische Paulus dem römischen Befehlshaber anlässlich seiner Verhaftung in Jerusalem mit folgenden Worten vor:

«Ich bin ein Jude aus Tarsus in Kilikien, Bürger [polites] einer nicht unbedeutenden Stadt» (Apg 21,39).74

2.2.1.2.1
Die Herkunft aus Tarsus in Kilikien

Die Lage der Stadt Tarsus an der östlichen Südküste Kleinasiens positioniert sie im Schnittbereich griechischer und orientalischer Kultur.75 66 v. Chr. wurde Tarsus von Pompeius zur Hauptstadt der römischen Provinz Cilicia erhoben, als deren Statthalter im Jahr 51/50 v. Chr. auch Cicero (106–43 v. Chr.) fungierte. Obgleich die Provinz bereits wenige Zeit später in dieser Form nicht weiter bestand, sondern zum Teil an Syrien und zum Teil an lokale Klientelkönige aufgeteilt wurde, blieb Tarsus ein bedeutendes Zentrum der Region, bis es 72 n. Chr. wiederum zur Hauptstadt der neu eingerichteten Provinz Cilicia und zum Ort des Provinziallandtages, zum Zentralort des Kaiserkultes und nicht zuletzt zum Austragungsort bedeutender Spiele wurde. Der aus Kleinasien stammende Historiker und Geograf Strabon († nach 23 n. Chr.) charakterisiert |59| die Stadt als «volkreich und überaus mächtig, so dass sie die Stellung einer Hauptstadt einnimmt.»76

 

Durch ihre günstige Verkehrsanbindung avancierte Tarsus zu einer bedeutenden Handelsstadt: Am schiffbaren Unterlauf des Flusses Kydnos gelegen und mit einem Hafen ausgestattet, standen die Schiffswege über das Mittelmeer offen. Aber auch die Strassenverbindungen waren vorteilhaft. So führte von Tarsus aus eine Strasse durch die «Kilikische Pforte», den wichtigsten Pass über das Taurusgebirge, nach Norden und verband so die Südküste Kleinasiens mit Gebieten im Landesinneren bis hin zu den Hafenstädten am Schwarzen Meer. Auch in ost-westlicher Richtung verbanden Handelsstrassen die Metropole Antiochia in Syrien mit Städten an der Südküste Kleinasiens. Diese günstige Lage begründete die politische Bedeutung der Stadt ebenso wie ihre wirtschaftliche Prosperität.

Strabon rühmt überdies die in Tarsus blühende Philosophie sowie das Streben der Einwohnerinnen und Einwohner nach Bildung.77 Wie in den meisten grösseren Städten des Mittelmeerraumes muss es auch in Tarsus eine jüdische Gemeinde gegeben haben. Allerdings ist für Tarsus selbst die Apostelgeschichte mit ihren Hinweisen auf die Herkunft des Paulus der früheste Beleg für eine solche Diasporagemeinde. Die wenigen literarischen und epigrafischen Hinweise für eine jüdische Präsenz in Tarsus stammen erst aus späteren Jahrhunderten. Doch da es vielfältige literarische Hinweise auf eine bedeutende jüdische Präsenz in Kilikien bereits im ersten Jahrhundert gibt, kann auf dieser Grundlage auch auf eine jüdische Gemeinde in Tarsus geschlossen werden.78

Indem die Apostelgeschichte diese Stadt als Herkunftsort des Paulus nennt, entsteht das Bild eines Diasporajuden, der in einer hellenisierten Stadt aufgewachsen und mit der jüdischen wie auch mit der griechischen Kultur vertraut ist. Entsprechend trägt Paulus, wie dies für viele Diasporajuden seiner |60| Zeit üblich war, in der Apostelgeschichte zwei Namen: Während er zu Beginn des Erzählverlaufs den jüdischen Namen Saul (Scha’ul) trägt, wird er ab der ersten Missionsreise und der Begegnung mit dem Prokonsul Sergius auf Zypern mit dem gr./lat. Namen Paulos/Paulus benannt (vgl. Apg 13,9). Im Unterschied zu heute fast sprichwörtlich gewordenen Klischees («vom Saulus zu Paulus») macht die Apostelgeschichte die veränderte Bezeichnung also keineswegs an der Berufung des Paulus fest, sondern führt sie mit den ersten Erzählungen über die paulinische Verkündigung des Evangeliums an Nichtjuden ein, und es handelt sich auch nicht um einen eigentlichen Namenswechsel, sondern es wird deutlich, dass Paulus beide Namen trug: «Saulus, der auch Paulus heisst» (Apg 13,9).

2.2.1.2.2
Ausbildung auch in Jerusalem?

Als Diasporajude, so legt die Apostelgeschichte nahe, erhielt Paulus sowohl griechische wie auch jüdische Bildung. Dass Paulus ein sehr gutes und differenziertes Griechisch sprach, steht schon aufgrund seiner Briefe ausser Zweifel, und die Apostelgeschichte verstärkt dieses Bild. Nach Apg 17,28 zitiert Paulus sogar den aus Kilikien stammenden Dichter und Gelehrten Aratos. Die Apostelgeschichte legt darüber hinaus nahe, dass Paulus neben Griechisch auch Hebräisch sprach (vgl. Apg 21,40; 22,2), was sich aus seinen Briefen allerdings nicht erhärten lässt. Seine pharisäische Bildung bringt die Apg neben seiner Herkunft aus einer pharisäischen Familie (Apg 23,6) mit einem Studium in Jerusalem in Verbindung, nämlich bei dem berühmten Gelehrten Gamaliel:

«Ich bin ein Jude, geboren in Tarsus in Kilikien, hier in dieser Stadt [= Jerusalem] erzogen, zu Füssen Gamaliels genau nach dem Gesetz der Väter ausgebildet, ein Eiferer für Gott, wie ihr alle es heute seid.» (Apg 22,3)

Gemeint ist Gamaliel I., der ungefähr zwischen 25 und 50 in Jerusalem gewirkt hat. Ob er tatsächlich, wie dies häufig geschieht, der Schule Hillels zugerechnet werden kann, ist aufgrund der mangelhaften Quellenlage kaum zu verifizieren. Immerhin zeichnet ihn die Apostelgeschichte als ein pharisäisches Mitglied des Hohen Rates, das – im Unterschied |61| zu Paulus selbst – gegenüber den Aposteln und ihrer Verkündigungstätigkeit in Jerusalem eine gemässigte Position einnimmt (Apg 5,34–42).

Wenn die Apostelgeschichte das Studium des Paulus in Jerusalem lokalisiert, ergibt dies innerhalb ihrer Darstellung ein stimmiges Bild. Denn nach der Apostelgeschichte wirkt der junge Paulus in Jerusalem: Er ist bei der Steinigung des Stephanus anwesend (Apg 7,58), und er geht mit allen Mitteln gegen die junge christusgläubige Gemeinde von Jerusalem vor (Apg 8,3; 9,1 u. ö.). Dazu passen auch die familiären Verbindungen in Jerusalem, die in Apg 23,16–22 mit der Erwähnung einer Schwester des Paulus sowie eines Neffen vorausgesetzt werden.

Allerdings sind diese Angaben nicht leicht mit der Darstellung des Paulus selbst in Einklang zu bringen. Zwar spricht Paulus an einigen Stellen seiner Briefe davon, die Jesus-Gemeinschaften verfolgt zu haben, doch lokalisiert er diese an keiner Stelle in Jerusalem. Im Gegenteil: In Gal 1,22–24 betont er, dass er den judäischen Gemeinden nach seiner Berufung noch lange unbekannt geblieben sei, was schwer vorstellbar ist, wenn er zuvor so massiv gegen diese Gemeinden vorgegangen sein sollte. Zudem sagt er in Gal 1,17, dass er nach seiner Berufung zunächst nach Arabien gegangen und dann nach Damaskus «zurückgekehrt» sei, was bedeutet, dass er sich bereits zuvor dort aufgehalten haben muss. Zwar zielt Paulus in seinen Ausführungen in Gal 1,11–24 zweifellos darauf ab, seine Unabhängigkeit von Jerusalem und insbesondere von den dortigen Autoritäten aufzuweisen, so dass seine Darstellung durchaus kritisch zu betrachten ist. Doch ist auch die Darstellung der Apostelgeschichte nicht frei vom erzählerischen Interesse, die Anfänge der «Kirche» in Jerusalem zu verorten.

So spricht die Quellenlage insgesamt eher dafür, die Verfolgertätigkeit des Paulus nicht in Jerusalem, sondern in Damaskus anzusiedeln.79 Dies muss allerdings nicht automatisch bedeuten, auch die Ausbildung des Paulus in Jerusalem für unwahrscheinlich zu halten; denn diese Ausbildung |62| könnte er bereits vor dem Auftreten Jesu in Jerusalem absolviert haben, so dass er mit den Jesusanhängerinnen und -anhängern nicht unbedingt in Berührung gekommen sein müsste und sich von daher erklären könnte, wieso ihn die judäischen Gemeinden nicht persönlich kannten (Gal 1,22). Anderseits ist es durchaus vorstellbar, eine pharisäische Ausbildung auch ausserhalb von Jerusalem zu absolvieren,80 wenngleich die Quellenlage für Pharisäer in der Diaspora äusserst dürftig ist.81

So ist kaum eindeutig zu entscheiden, ob die Darstellung der Apostelgeschichte, wonach Paulus in Jerusalem ein Torastudium bei Gamaliel absolviert habe, historisch zutreffend ist.

2.2.1.2.3
Ein römischer Bürger und Bürger der Stadt Tarsus?

Nach der Darstellung der Apostelgeschichte besass Paulus sowohl das Bürgerrecht der Stadt Tarsus als auch das reichsrömische Bürgerrecht. Auch dies sind Angaben, für die es keine Bestätigung in den Briefen des Paulus gibt.

Für die Diskussion ist zunächst zwischen dem tarsischen und dem römischen Bürgerrecht zu unterscheiden. Nach Apg 21,39 bezeichnet sich Paulus selbst als Bürger (polites) von Tarsus. Das Bürgerrecht einer hellenistischen Stadt ist allerdings mit einer Reihe von Rechten und Pflichten verbunden, die für gläubige Juden kaum wahrzunehmen waren; denn öffentliche Ereignisse wie Theaterveranstaltungen, Wettkämpfe oder Feste hatten ebenso wie politische Ämter stets auch religiöse Implikationen.82 So erscheint das tarsische Bürgerrecht im vollen rechtlichen Sinn für Paulus schon aus diesen Gründen als nicht wahrscheinlich.83 Wohl aber ist es gut möglich, dass die Bezeichnung polites in Apg 21,39 in einem allgemeineren Sinn für die Zugehörigkeit zu einer |63| Stadt gebraucht wird, ohne die vollen Rechte und Pflichten zu umfassen.84

Etwas anders stellt sich die Argumentationslage beim römischen Bürgerrecht dar.

Exkurs

Das römische Bürgerrecht konnte man auf verschiedenen Wegen erlangen: durch Geburt oder Adoption, nach Absolvierung des römischen Militärdienstes, durch Entlassung aus Kriegsgefangenschaft, durch Freilassung oder Freikauf aus dem Sklavenstand oder durch kollektive Bürgerrechtsverleihungen an Bewohner einer römischen Kolonie. Vor allem Angehörige gehobener Schichten konnten in seltenen Fällen das römische Bürgerrecht für besondere Verdienste verliehen bekommen. Käuflich war das römische Bürgerrecht zwar nicht direkt, wohl aber konnte die Verleihung vor allem zur Zeit des Kaisers Claudius durch Geldzahlungen vorangetrieben werden.85

Für Jüdinnen und Juden ist der Besitz des römischen Bürgerrechts sowohl prinzipiell vorstellbar als auch in historischen Quellen belegt.86 Bereits in der Zeit der römischen Republik hatte die jüdische Bevölkerung Rechte, die ihr ein Leben innerhalb des römischen Staates ermöglichten, ohne sie in Konflikt mit der Tora zu bringen. Diese Rechte wurden seit Julius Cäsar schriftlich fixiert, und unter Augustus wurden die historischen Privilegien sogar noch weiter ausgedehnt. Unter den Nachfolgern des Augustus wurde diese Politik grundsätzlich fortgesetzt; doch sind unter Tiberius und Claudius auch Konflikte und gewaltsame Übergriffe sowie disziplinarische Massnahmen der Behörden zur Eingrenzung und Zurückdrängung der jüdischen Religion – ebenso wie anderer östlicher Kulte – belegt. Dennoch ist davon auszugehen, dass die gewährten Rechte für die jüdische Bevölkerung grundsätzlich galten, und zwar sowohl für Juden, die das römische Bürgerrecht besassen, als auch für Nichtbürger.

|64| Grundsätzlich ist das römische Bürgerrecht also auch für toratreue Jüdinnen und Juden vorstellbar. Allerdings sind im dokumentierten Inschriftenbefund der Stadt Tarsus für die erste Hälfte des ersten Jahrhunderts überhaupt nur drei römische Bürger sicher nachgewiesen, was die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet Paulus als Jude dieses römische Bürgerrecht besessen haben sollte, um einiges reduziert. Zudem sind in den Inschriften aus ganz Kilikien zwar zahlreiche jüdische Namen belegt, darunter jedoch keine, die ein römisches Bürgerrecht besessen hätten.87

Die Apostelgeschichte kommt dreimal direkt auf das Bürgerrecht des Paulus zu sprechen (Apg 16,37 f.; 22,25–29; 23,27) und bringt es jedes Mal mit den zugehörigen Privilegien im Zusammenhang mit den Inhaftierungen des Paulus in Verbindung. Indirekt vorausgesetzt wird das römische Bürgerrecht bei der Darstellung seiner Appellation an den Kaiser nach seiner Inhaftierung in Jerusalem und Cäsarea (Apg 25,11; 26,31 f.; 28,19). Die Apostelgeschichte geht sogar davon aus, dass Paulus das römische Bürgerrecht von Geburt an besessen habe (Apg 22,28). Dies setzt voraus, dass bereits seine Eltern römische Bürger waren. Seit der Antike wird darüber spekuliert, dass diese das Bürgerrecht durch Freilassung aus Sklaverei oder Kriegsgefangenschaft erhalten hätten; dies vor allem, weil Hieronymus († 419) eine – ansonsten nicht belegte – Tradition überliefert, wonach die Familie ursprünglich aus Palästina stamme und erst in der Folge von Kriegsereignissen nach Tarsus gekommen sei.88

Das römische Bürgerrecht des Paulus wird trotz der Darstellung der Apostelgeschichte vor allem aus drei Gründen aus historischer Perspektive infrage gestellt: Erstens erwähnt er selbst an keiner Stelle dieses Bürgerrecht; zweitens wird er nach eigener Darstellung dreimal von römischen Behörden misshandelt (2 Kor 11,25), obwohl ihm das als römischen Bürger gar nicht hätte geschehen dürfen; drittens gibt die Form seines Namens keinen Hinweis darauf, dass er ein römischer Bürger war.

 

|65| Exkurs

Diese Argumente wiegen schwer. Betrachten wir sie genauer:

(1) Paulus schweigt über ein reales Bürgerrecht, kommt aber in seinem Brief nach Philippi, den er aus dem Gefängnis heraus schreibt, auf ein «himmlisches Bürgerrecht» zu sprechen (Phil 3,20). In dieser Situation als Gefangener hätte ihm ein reales römisches Bürgerrecht durchaus hilfreich sein können. Das scheint erklärungsbedürftig. Auch wäre es befremdlich, wenn er der Gemeinde gegenüber, in der sich zumindest einige Mitglieder in einer ähnlich bedrohlichen Situation befanden wie Paulus selbst (Phil 1,30), zwar auf ein «himmlisches Bürgerrecht» verwiesen, selbst aber die Sicherheit eines römischen Bürgerrechts besessen hätte.89 Dieses Schweigen des Paulus über sein römisches Bürgerrecht könnte allerdings – so das Gegenargument – damit erklärt werden, dass es im Argumentationskontext gegenüber den Gemeinden nicht von Belang war.90

(2) Tatsächlich schützten römische Gesetze die körperliche Unversehrtheit römischer Bürgerinnen und Bürger. Dazu passen die von Paulus erwähnten körperlichen Misshandlungen durch Vertreter römischer Behörden nicht. Anderseits zeigen historische Beispiele, dass sich römische Behörden durchaus über solche Gesetze hinweg setzten.91 Es könnte sich bei den Misshandlungen, von denen Paulus betroffen war, um unrechtmässige Übergriffe seitens der römischen Behörden gehandelt haben. Auch konnten römische Bürger «rechtmässig» mit Prügelstrafen belegt werden, vor allem beim Vorwurf der Störung der öffentlichen Ordnung.92 Zudem ist vorstellbar, dass Paulus gar keine Gelegenheit bekam, sich auf sein Bürgerrecht zu berufen, oder dass er sein Bürgerrecht nicht nachweisen konnte. Und schliesslich ist auch damit zu rechnen, dass er Verfolgungen auf sich nahm, um Jesus selbst im Leiden nachzufolgen (vgl. etwa Gal 6,17).93

(3) Das römische Bürgerrecht kam auch in der Namensform zum Ausdruck. Ein vollständiger römischer Name bestand traditionell aus mindestens drei Teilen: dem praenomen (Vorname), dem gentilicium oder nomen (Geschlechtsname) sowie dem cognomen (Beiname). Im Falle des Paulus ist weder aus seinen Briefen noch aus der Apostelgeschichte ein vollständiger dreiteiliger Name bekannt. Paulus selbst benutzt in seinen Briefen die gräzisierte Form des lateinischen Namens Paulus: Paulos. Dieser ist nach Quellenlage sowohl als Vorname als auch als Beiname möglich, ist allerdings insgesamt selten und bei Juden gar nicht belegt.94 Die Apostelgeschichte belegt neben diesem römischen Namen |66| noch den hebr. Namen Scha’ul, der als ein zusätzlicher jüdischer Name zu deuten ist. Dieser Befund muss allerdings nicht unbedingt gegen ein römisches Bürgerrecht des Paulus sprechen; denn in der Praxis wurde, wie die Quellen zeigen, oftmals nur ein Namensteil benutzt, und zudem wurden diese Regeln der Namensgebung in der römischen Kaiserzeit zunehmend flexibel gehandhabt, so dass aus dem Fehlen eines dreiteiligen Namens nicht mehr unbedingt auf das Fehlen des Bürgerrechts geschlossen werden kann. Auch andere Personen wie der jüdische Historiker Flavius Josephus, dessen Bürgerrecht unumstritten ist, bezeichnen sich nicht mit dem vollständigen dreiteiligen Namen.95

Daneben wird in der neutestamentlichen Forschung in den Schriften und in der Handlungsweise des Paulus selbst nach Indizien gesucht, die Hinweise auf ein etwaiges Bürgerrecht des Paulus geben könnten. So könnte die Auswahl seiner Reiserouten darauf hindeuten, dass er sich an römischen Provinzen und ihren Hauptstädten orientierte und bevorzugt römische Kolonien ansteuerte. Aus seinen Reiseplänen nach Spanien sowie aus seiner Ausdrucksweise in Röm 13 und anderen Stellen wurden Lateinkenntnisse des Apostels abzuleiten versucht. Und schliesslich wurde aus Röm 13,1–7 auf ein affirmatives Verhältnis des Paulus zum römischen Staat geschlossen.96 Doch sind alle diese Hinweise alles andere als eindeutig und lassen nicht mit Sicherheit auf ein römisches Bürgerrecht schliessen.

So ist eine Entscheidung in dieser Frage nicht leicht zu treffen. Zwingend ist keines der Argumente, die zugunsten des römischen Bürgerrechts des Paulus ins Feld geführt werden. Doch lassen auch die Gegenargumente keinen eindeutigen Schluss zu, dass Paulus kein römischer Bürger war. Unter Berücksichtigung des Inschriftenbefundes in Tarsus, wonach in der fraglichen Zeit dort nur drei römische Bürger belegt sind, wiegen die Argumente gegen ein römisches Bürgerrecht des Paulus vielleicht eine Idee schwerer als die Argumente dafür. Vielleicht ist redlicherweise aber auch dem Fazit aus Jörg Freys Überlegungen zur Historizität der Apostelgeschichte zuzustimmen, das die Frage für nicht lösbar hält:

|67| «Trotz vieler guter Argumente wird sich die Frage nach dem römischen und tarsischen Bürgerrecht des Paulus mangels zusätzlicher Quellen nicht definitiv lösen lassen, und die Grundtendenz der Interpreten in der Einschätzung des lukanischen Werks gibt dann den Ausschlag zwischen Zutrauen und Skepsis.»97