Kamikaze Mozart

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Zweiter Brief

Nagasaki, den 2. Oktober 1942

Sehr verehrtes Fräulein Fumika,

meine liebe, teure Verlobte!

Ihre Mutter hat die meine davon unterrichtet, dass Ihnen das gleiche entsetzliche Schicksal widerfahren ist wie unseren 130 000 einstigen Landsleuten, die heute in den Vereinigten Staaten von Amerika leben. Ich habe Seine Majestät unseren Kaiser im Radio gegen diesen Affront protestieren hören. Dürfte ich meinen persönlichen Angelegenheiten, also Ihnen, mehr als nur eine halbe Stunde täglich widmen, würde ich mir gewiss größte Sorgen machen. Aber ich habe mit der Wartung unserer Flugzeuge solchen Ärger, dass sie mich zum Glück von morgens bis abends und teilweise auch nachts in Anspruch nimmt. Wegen des Pazifikkrieges herrscht Benzinmangel, weshalb wir eigene Treibstoffmischungen herstellen müssen, die leider nicht immer gelingen. Schlimm wird es, wenn nach einem Sturzflug, bei dem der Flugzeugmotor abgestellt wird, dieser nicht mehr anspringt. Kürzlich sind zwei meiner Kameraden nach dem Durchfliegen einer Wolke abgestürzt. Wegen einer verstopften Düse.

Solange ich nichts von Ihnen persönlich höre, wird mir Ihr Schicksal, sehr verehrtes Fräulein Fumika, weiterhin Sorgen bereiten. Angeblich hat man Sie und all unsere übrigen Landsleute in Stadien, auf Rennbahnen, in Pferdeställen und sogar in zu Gefängnissen umfunktionierten Badeanstalten interniert. Am besten wäre es, Sie fänden eine Möglichkeit, zu fliehen und abermals den Pazifik zu überqueren. Unser Ausbilder ist der Meinung, wir sollten die Vereinigten Staaten überfallen, um Sie zu befreien. Sollte ein solches Unternehmen beschlossen werden, so seien Sie versichert, dass ich mich freiwillig melden werde, um zurückzuerobern, was mir gehört. Manchmal male ich mir am Steuerknüppel meines Jagdfliegers Zero folgende Szene aus: Sie sind in einem Turm gefangen, in dem Sie Tag und Nacht Mozartsonaten spielen, und plötzlich hören Sie ein Flugzeug näher kommen und gehen ans Fenster. Wir erkennen einander, Sie springen neben mich, und ich bringe Sie zurück nach Nagasaki. Ich hoffe, Sie vertrauen darauf, dass Ihr zukünftiger Gatte Sie aus den Klauen dieser Ungeheuer befreien wird.

Ich verstehe sehr gut, dass Sie angesichts Ihrer Gefangenschaft noch nicht auf meinen ersten Brief antworten konnten. Doch ich kann mir auch vorstellen, dass Sie froh sind, bald einen Ehemann zu bekommen, den Ihre Familie zu einem guten Preis ausgewählt hat. Das Foto, das ich Ihnen geschickt habe, wird Ihnen helfen, sich an meine Gegenwart zu gewöhnen, so wie ich mich an die Ihre. Kürzlich habe ich mein Offizierspatent erworben, ich werde also ab Ende nächster Woche eine neue Uniform tragen. An der Hose ändert sich nichts, nur an Jacke und Mütze. Da unsere Ausgangszeiten gekürzt wurden, wird der Fotograf in die Kaserne kommen, um unseren Jahrgang abzulichten. Auf das Ergebnis müssen wir drei Wochen warten. Dann erhalten Sie ein Foto, mit dem das alte hinfällig wird. Es dürfte einen noch besseren Eindruck auf Sie machen. Die Offiziersuniform werde ich auch bei unserer Hochzeit im September tragen. Natürlich hoffe ich, dass Sie schon früher wieder in der Heimat sein werden.

Habe ich mich eigentlich klar genug ausgedrückt, als ich Ihnen bezüglich der Musik schrieb? Da Sie nach Ihrem Diplom für Orchesterreife das Musikstudium fortgesetzt haben, werden die Erziehung unserer Kinder und das Maschineschreiben etwas ganz Neues für Sie sein. Ich selbst habe damals, als ich meine Geige weglegte, geglaubt, nicht so leicht darauf verzichten zu können. Aber der Wille ist alles, die Gefühle müssen folgen. Fast hätten mich die von der Musik ausgelösten Emotionen daran gehindert, ein guter Soldat zu werden. Doch glücklicherweise hat die Kaserne statt eines Musikers einen Mann aus mir gemacht.

Wenn dieser Brief Sie erreicht, so antworten Sie mir doch bitte auch auf die beiden Fragen, die ich jetzt noch ansprechen möchte. Zum einen geht es um die Anwesenheit der Brüder Ihres Vaters bei unserer Hochzeit. Da Ihr Vater beim Erdbeben von 1923 ums Leben kam und Ihre Mutter nicht wieder geheiratet hat, findet meine Mutter, es gehöre sich, auch Ihre beiden Onkel mit deren Familien einzuladen. Das ist eine finanzielle Frage, zu der mich Ihre Meinung interessieren würde.

Die zweite Frage betrifft die musikalische Darbietung während des Empfangs, der vor der Trauung stattfinden soll. Es ist ausgeschlossen, dass ich selbst die Tartinisonaten spiele, wie es sich meine Großmutter väterlicherseits wünscht. Wären Sie damit einverstanden, wenn der Vater eines meiner Freunde, ein Bankdirektor aus Nagasaki, dies übernimmt? Es handelt sich um einen gewissen Herrn Hirota. Ich möchte Sie vorwarnen, er ist kein sehr guter Geiger, aber ein Mann mit einer durchaus vorteilhaften Position, die uns bei der Aufnahme des Darlehens, das wir für die Ausstattung meiner radiologischen Praxis benötigen werden, zugutekommen könnte.

Ich kann mich einer Vorfreude auf Ihre Antworten auf meine beiden Fragen kaum erwehren. Ich wünsche Ihnen, dass Sie trotz der schwierigen Lage, in der uns unsere Feinde meinen halten zu müssen, weder den Mut noch den Glauben daran verlieren, dass uns Seine Majestät unser Kaiser den Sieg bringen wird. Ich erflehe Seinen Segen für Sie, in der Gewissheit, dass meine patriotischen Gedanken ihren Weg zu Ihrem Herzen finden werden.

Ihr Verlobter, Tetsuo Tsutsui

5

Der Zug der Evakuierten

Die Soldaten postieren sich in einer Reihe entlang des Zugs, um zu verhindern, dass Gefangene ihr Gepäck auf dem Bahnsteig zurücklassen und fliehen. Fumika findet sie komisch mit ihren Helmen, die wie über den Kopf gestülpte Suppenschüsseln aussehen. Beim Anblick ihrer müden Arme und gemächlichen Bewegungen wird ihr klar: zu schwere Gewehre und viel zu viele Patronen.

Angeblich haben manche von ihnen Frauen, die auf der anderen Seite des Kontinents leben und auf Briefe warten, die nicht kommen. Wenn der Zug abgefahren ist, haben die Soldaten vielleicht den Rest des Tages frei. Dann können sie wenigstens eine Postkarte schreiben, können Grüße und einen Kuss an ihre Frauen oder ihre Töchter schicken. Die bekommen bestimmt gerne mal Post, während sie auf das Ende des Krieges warten.

Fumikas Blick fällt auf die Himmelsgebilde über dem Gefangenenzug. Mehrere Wolkenfamilien sind zur Abfahrt versammelt. Kleine runde Federwolken und etwas tiefer ein zusammenhängendes Band aus weißen Haufenwolken, die dem Blau nur hier und da ein bisschen Platz lassen. Die winzige senkrechte Wolke, die den Federwolken als Lokomotive dient, kann einem solchen Aufgebot an gigantischen Exemplaren nicht Paroli bieten.

Die Fahrt vom Sammelzentrum zum Internierungslager mit der Santa-Fe-Eisenbahn wird voraussichtlich nicht länger als achtundvierzig Stunden dauern. Fumika ist in einen Waggon Dritter Klasse eingesperrt, dessen Fenster außen mit Eisenstäben gesichert sind. Laut den Zahlenangaben auf einem Emailschild gibt es hier neunzehn Raucher- und siebenundzwanzig Nichtraucherplätze, also sechsundvierzig Sitzplätze insgesamt. Aber die Militärs haben sich nicht danach gerichtet. Oder sie können nicht zählen. Deshalb muss Fumika sich auf den Fußboden setzen und an die schmale Toilettentür lehnen. Andauernd steht sie auf, um den Durchgang freizumachen. Und hier riecht es noch übler als in den Ställen.

Wenn sie die Augen schließt, ist sie im Hafen von Nagasaki. Neben dem Fukusai-ji-Tempel ein am Kai vor Anker liegender Flugzeugträger, die Reihe der Giebeldächer, die verschiedenen Ebenen des Parks, in dem Tante Yu ihr die Namen der Bäume und der in bläulicher Ferne liegenden, verschwommenen Berge beigebracht hat. Sie hört das Plätschern der Wellen, in denen die in der Morgendämmerung heimgekehrten Fischerboote hin und her schaukeln. Die Luft riecht nach Gischt. Und auf der Zunge liegt der Geschmack von rohem Seeigel.

Das Knarren einer Bodenplanke im Waggon versetzt sie zurück nach Hause. Sie ist wieder in dem Zimmer in Nagasaki, in dem sie allabendlich ihre Tatami ausrollt. Die papierbespannten Schiebewände gleiten schabend durch ihre Führungsschienen. Jetzt taucht eine noch ältere Erinnerung auf, aus dem hübschen Haus in Osaka, in dem sie vor dem Erdbeben geboren wurde. Ihre Mutter singt ihr ein Wiegenlied. Ihr erschöpfter Vater schnarcht schon. Er ist für den großen Tempel verantwortlich und muss daher immer sehr früh aufstehen.

Der Zug hält oft, immer auf freiem Feld. Dann steht er lange, und die Passagiere bekommen Angst, dass man sie in der Wüste vergessen hat, dass sie verdursten werden. Hat die Lokomotive vielleicht eine Panne? Oder wurde sie abgehängt? Wenn der Zug sich wieder in Bewegung setzt, behaupten die, die eine Katastrophe kommen sahen, das sei nur eine Atempause vor der Hinrichtung gewesen.

Wenn ihre Mutter sie nur sehen könnte. Und ihre Cousins sie hören. Wenn Tante Yu nur hier wäre. Und ihr Klavierlehrer. Wenn nur, denkt sie. Aber sie weiß ja, dass die Menschen zu Hause alle Hände voll zu tun haben mit dem Krieg, dem Kochen und dem Fegen der Bürgersteige vor dem Haus. Ihr Vater ist seit fünfzehn Jahren tot, sein Leib schwebt über den Wolken.

Im Waggon wird die Frage, wer für diese Situation verantwortlich ist, immer heftiger diskutiert. Laut einem Japaner der ersten Generation sind die der zweiten Generation daran schuld, weil sie den amerikanischen Kontinent übervölkert haben. Im Gegenteil, meint ein weißhaariger Herr mit schriller Stimme, die Schuld liege ausschließlich beim Präsidenten der Vereinigten Staaten, der durch seine allzu nachgiebige Politik gegenüber China Seine Majestät unseren Kaiser in den Krieg getrieben habe.

Ein dicker, verschwitzter Koch führt andere Gründe an. Er glaubt zu wissen, dass Hitler mit den Sowjets vereinbart hat, Japan zu umzingeln. Man werde die Auslandsjapaner als menschliche Schutzschilde benutzen, um eine Invasion der Vereinigten Staaten von Amerika durch Japan zu verhindern. Jemand sagt:

 

«Glauben Sie wirklich, das interessiert uns?»

«Treiben Sie lieber irgendwo Wasser auf.»

«Oder Musik.»

«Legen Sie uns eine Platte von Wolfgang auf.»

«He, Kleine, du bist doch Musikerin.»

«Ich habe in Berkeley Klavier studiert.»

«Gegen den Krieg ist dein Mozart nicht der Rede wert.»

Fumika protestiert. Diese Leute haben ja keine Ahnung von ihrem Wolfgang. Es würde reichen, wenn jeder sich von einer Sonate für Pianoforte und Violine wiegen ließe. Die Ereignisse in der Welt würden zu bloßen Zwischenfällen schrumpfen. Die Essenz des Lebens liegt ganz und gar im mittleren Adagio. Der dicke Koch kichert albern. Fumika schweigt, sie weiß, dass sie recht hat.

Was sie an der Musik so liebt: Musik benötigt keine Worte, um Gefühle auszulösen. Man weint, ohne dass Mozart irgendwelche Geschichten von verlassenen Kindern zu erzählen bräuchte. Man lächelt, auch wenn es gar kein Happy End gibt. Alles geschieht jenseits von Worten und ihrer Bedeutung. Manchmal gibt der Komponist seinen Melodien einen Titel. Im Nachhinein, nur damit man darüber reden kann, nicht weil es da eine Geschichte gäbe, die man kennen müsste, um die Musik zu begreifen. Wenn er die Partitur mit Ah, vous dirai-je, maman überschreibt, kann Fumika sich auch Ah, vous dirai-je, papa vorstellen. Es funktioniert genauso, es tröstet einen. Noch mehr sogar. Der dicke Koch bittet um Stille im Namen derer, die sich ausruhen wollen. Als wäre einer der Evakuierten schuld an den quietschenden Bremsen.

Auf dem Waggonboden sitzend, streckt Fumika einen Finger nach dem anderen aus. Dann in der umgekehrten Reihenfolge. Die Fingerglieder lockern. Der Anschlag ist alles. Dann kommt der Rhythmus, im Dienst der Gefühle. Ihre Finger laufen über eingebildete Tasten. Eine Hand springt über die andere, erstürmt die hohen Töne, läuft über die weißen Tasten zurück, wirft sich auf zwei schwarze, schlägt einen Akkord an, hält gemeinsam mit der anderen Hand inne. So würde der zweite Satz enden, den das kleine Genie zum ersten Mal gespielt hat, als es sein Vater Leopold am Hof eines griesgrämigen Königs dem Publikum präsentierte. Sie stellt sich vor, wie der erste Wolfgang seine Darbietung mit einer Verbeugung abschließt, während hübsche Fürstinnen zu ihm eilen, um ihm über die Wangen zu streichen.

In einer Kurve fährt der Zug wieder an. Am immer blauer werdenden Himmel zieht sich, vom Fenster eingerahmt, der Dampf der Lokomotive in die Länge. Weil die Luft trocken ist, sagt der alte Herr. Es gibt für alles eine Erklärung, das Blau am Firmament ist kein Wunder. An der Brust einer Nachbarin hat ein Säugling seine Milch ausgespuckt. Fumika singt ihm leise ein Wiegenlied. In dem Alter verstehen Kinder noch kein Englisch.

Gegen Abend hält der Zug abermals mitten in der Wüste. Kein Lebenszeichen außer Telefonmasten, die wohl ein Wutausbruch des Himmels aus dem Boden gerissen hat. Soldaten mit Hunden, wie aus dem Nichts aufgetaucht, öffnen die Türen und brüllen: «Sanitätskontrolle!» Einer von ihnen steigt in den Waggon. Er trägt eine Stoffmaske vor Mund und Nase, fragt, ob es Notfälle gebe, Leute mit Fieber. Niemand meldet sich. Wäre jemand krank, müsste er in Kauf nehmen, von seiner Familie getrennt zu werden. Die alte Dame, die vorhin gejammert hat, sie werde sterben, hütet sich tunlichst, den Sanitäter auf sich aufmerksam zu machen. Die Tür wird von außen wieder verriegelt. In der von den vergitterten Fenstern in Scheiben geschnittenen Abendröte bellen die Hunde. «Abendrot, Gutwetterbot», hat Tante Yu immer gesagt.

Die ganze Nacht bleibt im Waggon das Licht an. Aber mehr noch raubt einem das plötzliche Ruckeln den Schlaf, der sich ständig ändernde Rhythmus. Ein Witzbold meint, Pearl Harbor liege nun schon ein Jahr zurück, und wie man höre, sei der Krieg jetzt pazifistisch, wegen besagtem Ozean. Niemand lacht, der Witz ist zu abgedroschen.

Der Zug rollt gen Westen, meidet die bewohnten Gegenden. Man könnte glauben, die Vereinigten Staaten seien nichts als eine weite, kakteenbewachsene und mit ausgeblichenen Skeletten einstiger Haustiere verzierte Steinwüste. Vielleicht werden sie bei ihrer Ankunft alle erschossen. Auch egal, Hauptsache, es ist vorbei, sagt eine junge Mutter, deren Kind pausenlos fragt: «Mama, wann kommen wir an?»

Der weißhaarige Herr mit der hohen Stimme erzählt, dass er 1917 in einer Kupfermine in Compton, Arizona, gearbeitet hat. Zu Tausenden hätten sie gestreikt. Man habe sie in Viehwaggons gepfercht und tausend Meilen weg von zu Hause gebracht. Es sollte ihnen eine Lehre sein. Jemand bittet ihn, zu schweigen und lieber etwas von seinem restlichen Wasser abzugeben.

Zwar haben alle die im Sammelzentrum ausgehängten Anweisungen befolgt und vorgesorgt, aber inzwischen sind sämtliche Getränkebehälter leer. Mit den Lebensmitteln sieht es kaum besser aus. Als der Zug hält, hört man lautes Klagen aus einem der Nachbarwaggons. Eine Frau scheint die Nerven zu verlieren. «Wasser, Wasser! Macht auf!», schreit sie. Niemand beruhigt sie, da sie im Namen aller klagt.

6

La Chaux-de-Fonds

Wolfgang Steinamhirsch wird am 1. März 1917 in La Chaux-de-Fonds geboren. Alljährlich feiern die Einwohner an diesem Tag ihren Aufstand gegen den preußischen König. Dann schließen die wenigen Aristokraten, die ihr Adelsprädikat behalten haben, zum Zeichen der Trauer ihre Fensterläden und gehen den ganzen Tag nicht aus dem Haus. Daher lässt auch der Arzt, ein gewisser de Rougemont, an diesem Tag Gebärende mit der Hebamme allein. An einem 1. März wird nicht entbunden, damit das klar ist.

Wolfgangs Vater ist der Besitzer der Buchhandlung Librairie du Progrès. Seine Mutter hat auf eine Karriere als Pianistin verzichtet, um vier Kinder zur Welt zu bringen. Erst Wolfgang, dann drei Mädchen, die nach dem Willen des Vaters Alpha, Beta und Gamma genannt werden. Die Mutter ist nur stolz auf ihren Ältesten, will einen Dirigenten aus ihm machen. Deshalb lernt er neben Latein, Griechisch und Englisch auch Geige. Das Konservatorium übernimmt es, sein musikalisches Talent zu fördern. Er lässt nicht gerne starke Gefühle zu. Sein Geigenlehrer regt sich auf: «Mehr Inbrunst, weniger Technik, lass dich mitreißen, Wolfgang, verflixt nochmal!»

Schon als Kind begeistert er sich für die Wissenschaft, liest keine Romane, weil darin erfundene Geschichten erzählt werden. Die Wahrheit steht in wissenschaftlichen Handbüchern.Physikbücher zum Beispiel erklären, warum Körper fallen. Wäre ein Roman je in der Lage, die Anziehungskraft des Kerns auf die Elektronen zu erforschen? Jedes Jahr zu Weihnachten dürfen die Kinder sich im väterlichen Geschäft ein Buch aussuchen. Die drei Mädchen begnügen sich mit Heidis Abenteuern in den Alpen. Ihr Bruder bevorzugt eine Logarithmentafel oder das Periodensystem der Elemente, zur Not eine Gelehrtenbiografie.

Eines Tages liest er ein Buch über das beispielhafte Leben von Edison, dem Vordenker, der die Menschheit mit Hilfe des Gesetzes des geringsten Widerstands um mehrere erhellende Erfindungen bereichert hat. Dem jungen Edison ist es gelungen, ohne die Wärme einer Henne Eier auszubrüten, Wolfgang macht es ihm nach. Bei einer Bäuerin, die jeden Montag auf dem Marktplatz steht, besorgt er sich zwei frische Eier. Er versteckt sie unter seiner Bettdecke und sorgt dafür, dass sie dort in gleich bleibender Wärme liegen. Tagsüber wickelt er jedes Ei in eine Socke und steckt sie sich in die Taschen. Seinen Berechnungen zufolge müssten die Küken am Sonntag schlüpfen. Er wird also ausgiebig Zeit haben, ihnen dabei zuzusehen. Leider besteht die Mutter am Samstag darauf, dass er kurze Hosen ohne Taschen trägt, sodass es den Eiern an Wärme fehlt. Den Mangel meint er ausgleichen zu können, indem er sie eine Zeit lang in heißes Wasser legt, im Glauben, die doppelte Temperatur in der halben Zeit führe zum gleichen Ergebnis. Resultat: Weder am Sonntag noch an den folgenden Tagen schlüpfen die Küken aus ihrer Schale. Wie hat Edison das bloß geschafft?

Wolfgang macht weitere Experimente zum Flug von Fledermäusen, die er tagsüber weckt, mit unsichtbarer Tinte, mit dem zweiten Hauptsatz der Wärmelehre. Er kommt zu vorhersehbaren Ergebnissen, zu Variationen über ein gegebenes Thema, macht jedoch keine Entdeckung. «Nichts Neues unter der Sonne», bestätigt seine Mutter. Worauf ihr Mann zu ergänzen wagt: «Außer dem Fortschritt, mein Schatz.» Trotz aller Bewunderung für seine Mutter weiß Wolfgang, dass sie kaum an die Erzeugung eines Kükens fern der Wärme einer Glucke glaubt. Er möchte für sie etwas Neues erfinden oder entdecken, dann würden sie gemeinsam den Nobelpreis in Stockholm abholen.

Seine erste Freundin lernt Wolfgang auf dem Jahresabschlussfest kennen. Heidi, die älteste Tochter des Pfarrers, trägt denselben Namen wie das kleine Waisenmädchen, das immer krank wird, wenn es seinen Großvater und die Alpenluft verlassen muss. Wie im Bilderbuch seiner Schwestern hat auch diese Heidi schöne blonde Zöpfe, aber wenig Talent zum Lernen. Einmal in der Woche verabredet Wolfgang sich nach seiner Geigenstunde mit ihr im Cafè Moreau an der Avenue Lèopold-Robert. Dort setzen sie sich nebeneinander, um die Passanten besser beobachten zu können, benoten deren Aussehen und dichten ihnen eine Biografie an. Aber es fehlt ihnen an Fantasie, außer bei Paaren, bei denen sie rasch einen möglichen Trennungsgrund ausmachen.

Wolfgang hat keinen Freund. Er hat das Gefühl, nur junge Mädchen könnten ihm eine angenehme Gesellschaft leisten, sie verstehen das Innere der Dinge. Will man wissen, um wie viel Uhr ein Zug abfährt, ist das Geschlecht des Auskunft Erteilenden ziemlich egal, geht es aber um Stimmungen, um Gefühle und vor allem um Unsagbares, wendet man sich lieber an eine Frau. Nur Frauen stellen sich dieselben Fragen wie er: Wo ende ich, und wo beginnt die Welt?

Bei Heidi weiß er nicht so recht weiter. Ausgerechnet über ein Thema kann er nicht mit ihr sprechen, nämlich: Sollte man seine Liebe gleich zu Beginn offenbaren? Oder macht man sich damit lächerlich? Und dann diese tausendmal gewälzte Frage: Wird die Liebe die Freundschaft töten?

Da er beides noch nie erlebt hat, sind seine Sorgen rein theoretischer Natur. Für den Fall, dass eines Tages die Wirklichkeit ins Spiel kommen sollte, macht er sich jetzt schon auf Schwierigkeiten gefasst. Seine Mutter ist ihm dabei keine Hilfe. Anfangs, als sie noch nicht weiß, dass ihr Sohn sich auf eine ernsthafte Beziehung vorbereitet, fragt sie ihn, ob er nicht ein wenig, wie soll man sagen, den Jungen zugeneigt sei. Wolfgang errötet, gerät ins Stottern und beflügelt den mütterlichen Verdacht nur umso mehr.

Sein erster Versuch ist also Heidi. Mit ihr will er vorbeugend sämtliche Regeln für Treue, Lüge und Eifersucht festlegen. Sie versteht all diese Fragen nicht, die, solange er ihr nicht seine Liebe gestanden hat, ohne Inhalt bleiben. Eine Sache, die ihn bei der Planung seines Liebeslebens ganz besonders bewegt, ereignet sich, als er mit Heidi zur Geburtstagsfeier eines Klassenkameraden verabredet ist. Er holt sie zu Hause ab.

«Gefalle ich dir so, Wolfgang?»

«Du hättest dir deine Zöpfe nicht abschneiden sollen.»

«Das wolltest du doch.»

«Und diese knallroten Lippen.»

«Das wolltest du doch.»

«So hohe Absätze.»

«Du wolltest es, Wolfgang.»

Das trifft ihn doppelt. Erstens, weil sie ihm ohne Zöpfe und ohne ihre blassen Lippen nicht mehr gefällt. Und zweitens, weil sie ihm einen unwiderlegbaren Beweis ihrer Liebe gibt. Er verkneift sich weitere Bemerkungen, schmollt jedoch den restlichen Abend, ohne sich zu trauen, ihr zu erklären, warum. Seine Schlussfolgerung: Niemals Liebesbeweise verlangen, sondern sich damit begnügen, welche zu bekommen.

Wenig später versucht er in einem von einem Freund überlassenen Dienstbotenzimmer, wo eine Matratze auf dem Boden die Umarmungen abfedert, Heidi zu seiner Geliebten zu machen. Am nächsten Tag schickt er ihr glühende Liebesschwüre. Da es in seinen Zeilen auch um Krieg und einen eifersüchtigen Ehemann geht, bittet Heidi um Aufklärung. Er ist so ehrlich, ihr ein Exemplar von Stürmische Jugend zu schenken, auf dessen Seiten er die Sätze unterstrichen hat, die er sich für seinen Brief entliehen hat.

Eines Tages wird Wolfgangs Mathematiklehrer Enoch Laplace auf seinen Schüler aufmerksam, als es zu beweisen gilt, dass jede beliebige Zahl den Wert eins annimmt, wenn man sie mit null potenziert. Wolfgang braucht zwei Minuten, um den Beweis zu formulieren. Eine Stunde später haben seine Klassenkameraden den Kniff immer noch nicht heraus. Enoch Laplace beglückwünscht ihn und nimmt ihn mit nach Zürich ins Büro des großen Kernphysikers Professor Scherrer. Der fragt Wolfgang, ob er glaube, die Physik werde alle Menschheitsprobleme lösen. Der Sechzehnjährige antwortete altklug: «Die Physik, jawohl, in Verbindung mit Intelligenz.» Professor Scherrer klopft ihm kräftig auf die Schulter: «Enoch, der Junge gefällt mir.»

 

Während der Bahnfahrt zurück nach La Chaux-de-Fonds lässt Enoch Laplace sich zu einigen Vertraulichkeiten hinreißen: Ach, wäre er doch noch einmal sechzehn, läge doch das Leben noch vor ihm, er würde es der theoretischen Physik widmen. Und wie zu sich selbst sagt er mehrmals: «Armer kleiner Enoch, armer kleiner Enoch.» Sein Schüler schließt daraus, dass ihm das dritte Bier im Zürcher Bahnhofbuffet zu Kopf gestiegen ist.

Nachdem Wolfgang einen Studienplatz an der ETH, der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich bekommen hat, verlässt er seine Heimatstadt mit Bedauern. La Chaux-de-Fonds ist nicht irgendeine Stadt. Ein ganzes Regalbrett reserviert die Librairie du Progrès den lokalen Berühmtheiten. Wolfgangs Mutter ist sich sicher, dass auch ihr Sohn dort eines Tages seinen Platz finden wird. Einstweilen stehen hier Monografien zum Maler Lèopold Robert und zum Rennfahrer Louis Chevrolet, der gleich hinter dem Haus der Steinamhirschs geboren ist.

In Zürich wohnt Wolfgang bei seiner Tante, der Schwester seines Vaters, die in einen Flieger verliebt ist, jeden Sonntag zur Kirche geht und nie verheiratet war. Sie ist auch seine Gotte und schenkt ihm jedes Jahr einen Silberlöffel zum Geburtstag. Zu seinem zwanzigsten bekommt er von ihr sogar einen Jungfernflug ab dem Flugplatz Dübendorf.

Nach seinem ersten Ball an der ETH gibt Wolfgang Heidi den Laufpass. Seine Kommilitonen finden die junge Frau zu provinziell und eines Ingenieurs nicht würdig. Außerdem hat sein ehemaliger Lehrer Enoch Laplace sich in sie verliebt. Sie träfen sich heimlich, erzählt sie Wolfgang. Der ist erst gekränkt, dann traurig und betrinkt sich mehrere Samstage hintereinander. Als Heidi ihm schließlich schreibt, sie habe alles nur getan, um ihn eifersüchtig zu machen, ist es zu spät, die Liebe ist verflogen.

Einmal im Monat bekommt Wolfgang Besuch von seiner Mutter. Da er nun keine Freundin mehr hat, hakt sie sich schon am Bahnhof bei ihm unter. Gemeinsam, wie ein Liebespaar, bewundern sie den See und die große Brücke. Wolfgangs Mutter ist eine sehr schöne Frau, die ihr Ehemann nicht verdient hat. Der verbringt seine Zeit damit, seine drei Töchter zu verhätscheln. Hätte seine Frau nicht nach der dritten aufgehört, hätte die vierte Delta geheißen. Der Buchhändler mag aus dem Deutschen übersetzte Bücher. Seiner Jüngsten, Gamma, die sich in der psychiatrischen Anstalt von Val-de-Ruz befindet, bringt er jeden Sonntag eines mit.

Nur samstags, wenn angesehene Kunden sich etwas zu lesen kaufen, hilft Frau Steinamhirsch gern in der Buchhandlung aus. Dann schiebt sie die Verkäuferin Fräulein Degoumois zur Seite, um mit strahlendem Lächeln den Herrn Doktor, den Herrn Pfarrer oder den Herrn Bürgermeister zu begrüßen. Sie kommentiert die letzte Abonnementvorstellung, welche die Herren doch sicherlich genossen haben. Dann klagt sie über das Wetter, sagt, La Chaux-de-Fonds, das seien sechs Monate Winter und sechs Monate Steuern, und lässt keine Gelegenheit aus, die brillante Karriere ihres Sohnes in Zürich zu schildern. Sie fesselt ihre Zuhörer und hält sie so lang wie möglich auf, um den Augenblick hinauszuzögern, in dem sie sich nach dem gewünschten Buch erkundigen. Hierfür müssen sie sich an Fräulein Degoumois wenden.

Wolfgang neckt seine Mutter gern deswegen, wenn er Arm in Arm mit ihr am See spazieren geht, vorne die Schwäne, in der Ferne die verschneiten Berge. Dann unterhalten sie sich über Wolfgangs neue Leidenschaft, die Physik des unendlich Kleinen. Tut seine Mutter nur so, als verstünde sie, was er ihr erzählt? Oder begreift sie wirklich den Unterschied zwischen negativ geladenen Elektronen und Neutronen?

Wenn Professor Scherrer den großen Physikhörsaal betritt, müssen die Studenten sich erheben und so lange stehen bleiben, bis er seine dicke schwarze Ledermappe krachend aufs Pult geworfen hat. Er schreibt eine Formel an die Tafel und zeigt mit dem Finger auf einen der Studenten, der die Ziffern- und Buchstabenabfolge erklären soll. Eines Tages gerät Wolfgang an eine Gleichung von Max Planck und merkt im letzten Moment, dass Professor Scherrer ihm eine Falle stellt. Die Formel wurde widerlegt. Zitternd demonstriert er in drei Schritten den Irrtum der alten und den Triumph der neuen Wahrheit. Professor Scherrer lobt seine Scharfsicht:

«Schlau wie immer, unser kleiner Steinamhirsch aus La Chaux-de-Fonds.»

Wie üblich zündet er sich eine dicke Zigarre an, bevor er die Vorlesung fortsetzt. Von Zeit zu Zeit macht er eine kurze Pause, um die Zigarre erneut anzuzünden. Dann herrscht jedes Mal eisige Stille auf den Rängen.

Im ersten Jahr vertieft Wolfgang seine Kenntnisse in Mathematik, anschließend in Chemie und Physik. Seine ersten Ferien verbringt er im Werkstofflabor, die nächsten mit dem Zusammenbauen von Hydraulikpumpen. Es zieht ihn zur theoretischen Physik, praktische Übungen reizen ihn wenig. In seiner Diplomarbeit befasst er sich mit der Heisenbergschen Unschärferelation, sperrt Schrödingers Katze ein und besiegelt das Schicksal der Transurane. Der hochzufriedene Professor Scherrer lädt ihn gemeinsam mit seinen Assistenten zu sich nach Hause ein, ein seltenes Privileg. Frau Scherrer, die schöne Ida, flüstert ihm auf Französisch zu:

«Mein Gatte setzt große Hoffnungen in Sie, mein Junge.»

Noch am selben Abend schreibt Wolfgang seiner Mutter, um ihr die gute Nachricht zu verkünden.

Von außen betrachtet, ist Wolfgang ein eher kühler, nicht besonders herzlicher junger Mann. Eine gewisse protestantische Strenge, gepaart mit Unbeholfenheit. Aber in seinem Innersten, jedenfalls so, wie er es begreift, sieht sich Wolfgang als eine empfindsame, leidenschaftliche, enthusiastische Person. Ständig ist er in irgendeine Frau verschossen. In eine Passantin, eine Studentin. Manchmal schwebt er gar in einem Zustand der Verliebtheit, ohne zu wissen, wem er seine Liebe erklären soll. Er verspürt ein Übermaß an Verlangen, das jedoch keinen Ort findet, um sich zu ergießen, fragt sich, wie er seinen Blick auf sich selbst mit einer anderen teilen kann. Nicht einmal Professor Scherrer vermag die philosophische Frage «Existiert die Welt außerhalb unserer selbst?» mit Sicherheit zu beantworten. Real ist vielleicht nur die Welt der Statistik und der Berechnungen. Die Sinnenwelt ist nichts als ein unfassbares Gebilde.

Und plötzlich zeigen sich wieder menschlichere Gefühle. Die Erinnerung an das erste Mal, als er Heidi geküsst hat, offenbart ihm erneut die Gewissheit, dass der andere existiert, doch jeder in seiner eigenen Welt. Schließlich findet er sich damit ab. Spät in der Nacht, während er an seiner Doktorarbeit schreibt, das Fenster vor dem Sternenhimmel geöffnet, beschließt er, diese ins Leere gehende Zärtlichkeit den Zustand der Einsamkeit zu nennen.

Ende 1938 eröffnet Professor Scherrer seinem Schützling, die nächste Station seiner Laufbahn sei Kalifornien. Er werde zu Professor Robert Oppenheimer nach Berkeley gehen. Zunächst aber schickt er ihn in einer Sondermission nach Stockholm.

An einem Novembermorgen in aller Frühe klopft seine Gotte an die Tür. Sofort malt Wolfgang sich das Schlimmste aus. In der Familie hat sich ein Unglücksfall ereignet, der ihm indes nicht wirklich nahegeht. Seine Schwester Gamma hat sich an ihrem sechzehnten Geburtstag das Leben genommen. Auf dem Friedhof von La Chaux-de-Fonds verabschiedet er sich von ihr und nutzt die Gelegenheit, um Familie und Heimatstadt Auf Wiedersehen zu sagen. Bald wird er im Zug sitzen und durch das Deutschland von Reichskanzler Hitler nach Schweden fahren. Die Avenue Lèopold-Robert versinkt schon im Schnee, das Cafè Moreau, Schauplatz seiner Rendezvous, kommt ihm recht armselig vor. Heidi Stähelin, die er bei der Beerdigung trifft, spricht ihm mit trauriger Miene ihr Beileid aus. Er nimmt es ohne innere Betroffenheit entgegen. Die Wege seiner beiden anderen Schwestern sind inzwischen vorgezeichnet. Alpha wird Lehrerin werden, Beta Krankenschwester. Sein Vater wird untröstlich bleiben und seine Mutter die Frau eines unglücklichen Provinzbuchhändlers, die sich ihren Sohn als Dirigenten oder notfalls als Physikprofessor an der Neuenburger Universität zurechtfantasiert.