Fehl- und totgeborene Kinder

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„So lässt auch ein Spontanabort in den ersten Schwangerschaftswochen oder eine Fehlgeburt überwiegend noch keine bzw. eine – gemessen am Todesfall eines schon als selbständige Person heranwachsenden Kindes – relativ abstrakte Trauer aufkommen; oft ist auch derselbe Kinderwunsch mit dem nächsten ‚Versuch‘, mit einer möglichen nächsten Schwangerschaft realisierbar …“49

Der während der Schwangerschaft immer dominierender werdende Eigenwert des Kindes kommt ihm im Sinne dieser Aussagen schließlich mit der Abnabelung sowie der selbstständigen Aufnahme „eigenmächtiger“ Funktionen zu. Und doch finden sich auch schon im Umfeld dieser Gedanken Reflexionen wie solche: Obgleich es eine Verpflichtung der Gesellschaft gibt, jeden möglichen Menschen zu schützen und zu fördern, sind es zunächst allein die Eltern die dieses Prinzip erst wirklich wirksam werden lassen, weil sie durch ihr Denken an ihn, ihre Hoffnung und ihre Anliegen für ihn, ihr „bejahendes Wollen und Wünschen“50, ermöglichen, dass der Embryo seinen Wert erhält.51

„Embryonales menschliches Leben ist noch kein absoluter Wert, wie ihn das Leben jedes Geborenen und zu elementaren Formen des Menschseins Befähigten darstellt.“52 Aber „[…] soweit es Wert ist, ist es wertvoll in erster Linie dadurch, dass es der Gesellschaft und bestimmten Menschen etwas bedeutet.“53

1.1.3 Konsequenzen für den Umgang mit Fehl- und Totgeburten

Versucht man, diese Aussagen zum beginnenden menschlichen Leben, wie sie im Gesetz und in der Literatur der DDR zu finden sind, zusammenzufassen, um sie anschließend zu reflektieren, bleibt zu resümieren: Wie anfangs geschrieben, begann das Nachdenken zu diesem Thema mit der Festlegung, der Neudefinition, von „Fehlgeburt“, „Totgeburt“ und „Lebendgeburt“ 1961. Nach der Promulgation des Gesetzes zur Schwangerschaftsunterbrechung 1972 begann zudem – wenn auch nur vereinzelt und immer denselben Personenkreis betreffend – das gezielte Fragen nach dem Status und der Anerkennung des vorgeburtlichen Menschen, wobei an dieser Stelle bereits die erste Differenz zu einem naturrechtlichen Denken der Kirche und auch zu den noch darzustellenden Ansätzen in der Bundesrepublik auszumachen ist; geht es nach führenden Medizinern in der DDR, dann war es eine unumstößliche Grundposition, dass der pränatale Mensch (noch) gar kein Mensch war.

Erst wenn, postnatal, mehrere gesetzlich festgelegte Kriterien erfüllt waren, sprach man von „menschlichem Leben“. Und das heißt auch: Bei während, oder kurz nach der Geburt verstorbenen Kindern war die Rede von menschlichen Leichen, so sie denn mindestens fünfunddreißig Zentimeter groß waren oder, ab 1978, mindestens 1000 Gramm wogen. Vorher sprach man von sich entwickelnden bzw. bei Eintritt des Todes von abortierten „Früchten“. Somit war auch der Schwangerschaftsabbruch (bzw., im Sprachgebrauch der DDR, die Schwangerschaftsunterbrechung) keine Tötung oder Vernichtung menschlichen Lebens. Das Menschsein, so ist es festzuhalten, wurde nicht als Vorgabe betrachtet, sondern zugeschrieben.

Diese Zuschreibung des Menschseins wurde als eine gesellschaftliche, im weitesten Sinne ethische Entscheidung verstanden. Mit dem biologischen Lebensbeginn ging so für diese Gedankenwelt noch keine Schutzwürdigkeit einher – aus dem biologischen Lebensbeginn folgte erst unter Berücksichtigung bestimmter sozialer Kriterien eine Schutzwürdigkeit. Diese sozialen Kriterien wiederum bemaßen sich an sozialökonomischen und sozialpolitischen Bedingungen.

Nimmt man eine solche Auffassung ernst, so kam man im Ergebnis zu keinem moralischen, sondern einem gesellschaftlichen Schutzprinzip, das allerdings schon nach diesem Bewusstsein in Bezug auf das Kind letztlich erst durch die Eltern, ihr bejahendes Wollen und Wünschen, wirklich wirksam wurde.

Die große Last der Entscheidung wurde deshalb bei der Mutter gesehen. Im Vergleich zum Kind war sie für das Denken des Sozialismus bereits ein persönlichselbstverwirklichtes Gegenüber und es stand in ihrer Macht, das werdende Leben zu opfern – zu Gunsten ihrer selbst, denn das „Nein“ zum Kind, so wurde es interpretiert, war das „Ja“ zum Leben der Mutter. So wurde im sozialistischen Konsens der Frau mit der Entscheidung auch die höchstmögliche Freiheit gegeben, die Freiheit, die Annahme des Kindes zu verweigern. Der Arzt durfte – es ist wichtig diese Charakteristik der beratenden Rolle genau zu verstehen – bei dieser Entscheidung nur medizinisch beraten, nicht aber eine persönliche oder gar ethische Meinung vertreten.

In den Texten wird dabei betont, dass die gesetzlichen Regulierungen das Ziel hatten, den Arzt zu entlasten. Das Bedenken sollte gemindert und der Arzt selbst beruhigt werden, etwa indem formuliert wurde, dass der Arzt, rechtlich betrachtet, kein menschliches Leben vernichtet. Dennoch sollte er den medizinischen Eingriff im Rahmen einer „Schwangerschaftsunterbrechung“ als Ultima Ratio verstehen und durfte die Bedeutung dessen nicht mit anderen medizinischen Eingriffen, etwa dem Entfernen eines Blinddarms, vergleichen.

Die innere Logik einer solchen Argumentationsweise lässt sich vielleicht in diesem Sinne auf den Punkt bringen: Der ganze Diskurs wurde deshalb als für so wenig ethisch bedenklich angesehen, weil der werdende Mensch im Mutterleib ja zu jedem Zeitpunkt als „anonym“ galt. Zu diesem Schluss kam man unter der Berücksichtigung, dass das Kind im Mutterleib weder Selbstbewusstsein besitze, noch für andere tätig werden könnte, noch in irgendeiner Weise kommunizieren könne. So, diese Annahme wurde selbstverständlich vertreten, würde auch ein unter oder bei der Geburt verstorbenes Kind nur eine abstrakte Trauer hervorrufen, da derselbe Kinderwunsch ja bereits mit der nächsten Schwangerschaft, zeitnah, realisiert werden könnte.

Die sich daraus ergebenden, praktischen Konsequenzen, der Umgang mit den Gebärenden durch das Personal der Geburtshilfe, sowie der Umgang mit dem toten Kind und der Trauer der Betroffenen werden zu einem späteren Zeitpunkt (vgl. 2.2.3.8) in diesem Sinne noch intensiv thematisiert.

1.2 Wann ist das Kind ein Kind? Theorie und Praxis der Bundesrepublik Deutschland

1.2.1 Begriffliche Differenzierungen in der Bundesrepublik Deutschland

Liest man nun im Vergleich zu diesen Entwicklungen in der DDR diejenigen der Bundesrepublik Deutschland, dann ergibt sich folgendes Bild: Das Personenstandsrecht in der Bundesrepublik wurde 1957 reformiert. Der Gesetzgeber verabschiedete sich auch in der Bundesrepublik von der seit 1938 geltenden Regelung, nach der ein Kind dann als „Lebendgeburt“ zu bezeichnen ist, wenn die natürliche Lungenatmung postnatal einsetzt. Auch diese Änderung fand im Hinblick auf die Empfehlung der WHO statt (siehe 1.1.1). Im Gegensatz zum geltenden Recht der DDR hielt sich die Legislative in der Bundesrepublik aber insofern an diese Empfehlung, als dass ein Lebensmerkmal (Herzschlag, Lungenatmung, Pulsieren der Nabelschnur, Muskelbewegung) ausreichte, um das Kind als „Lebendgeburt“ zu bezeichnen. Allerding erkannte der Gesetzgeber nur die ersten drei Lebensmerkmale an, da eine Muskelbewegung, etwa wenn sie willkürlich auftrat oder nur einmal auftrat oder nur ein Geburtshelfer glaubte sie gesehen zu haben, als zu unsicheres Merkmal des Lebens galt. Dieser augenscheinlich kleine Unterschied in der Gesetzgebung hat allerdings – das gilt es auch hier festzuhalten – einen erheblichen Einfluss, zum Beispiel auf die ebenfalls in Bezug auf die DDR schon genannte Säuglings- und Perinatalsterblichkeitsstatistik.54

Für die Unterscheidung von Fehl- und Totgeburten war nach bundesdeutschem Gesetz bis zum 30. Juni 1979 eine bestimmte Körperlänge maßgebend; wenn keines der aufgeführten Lebensmerkmale feststellbar war und das Kind kleiner war als fünfunddreißig Zentimeter, sprach man von einer „Fehlgeburt“, die nicht in den Personenstandsbüchern beurkundet wurde. War das Kind mindestens so groß, wurde es als „Totgeburt“ deklariert und musste angezeigt werden, um sie im Sterbebuch (nicht im Geburtenbuch!) einzutragen. Für während der Geburt verstorbene Kinder galt dies entsprechend. Ab dem 01. Juli 1979 galt anstatt dieser, die Körperlänge des Kindes anführenden Grenze eine das Gewicht des Kindes betreffende – fortan musste das Kind nach der Geburt mindestens 1000 Gramm aufweisen, um als Totgeburt zu gelten.55

Das Strafrecht der Bundesrepublik grenzte außerdem die Begriffe „Leibesfrucht“ und „Mensch“ nüchtern und unreflektiert als zwei verschiedene „rechtliche Qualifikationen“ ab; von der Zeugung (Nidation) bis zum Geburtsbeginn galt das Kind als „Leibesfrucht“, während und nach der Geburt bis zum Eintritt des Todes als „Mensch“. Diese, biologisch ungenaue, Unterscheidung war auch nur von strafrechtlicher Relevanz; außerhalb des juristischen Diskurses wurde sie nicht vorgenommen. So wurde aber das Lebendgeborene im Hinblick auf aktive oder passive Tötung von Anfang an mit einer erwachsenen Person gleichgestellt.56

1.2.2 Die von Petitionen ausgehenden, schrittweisen gesetzlichen Änderungen zum Personenstand tot geborener Kinder von 1988 bis 2013

Was sich im Kontext der DDR nicht findet, aber in der weiteren Entwicklung der Rechtsvorstellungen der Bundesrepublik Deutschland einen Einfluss gewann, ist die Initiative Betroffener. So geht der neuerlichen Anpassung des Personenstandsrechtsänderungsgesetzes 2013 im Hinblick auf fehl- und totgeborene Kinder eine Rechtsgeschichte voraus, die von immer wieder neu eingereichten Petitionen Betroffener bestimmt ist. Im Besondern ist dabei einzugehen auf die Gesuche der Jahre 1988 und 1992, angestoßen von der „Initiative Regenbogen“ bzw. ihrer Gründerin sowie zuletzt 2009 durch betroffene Eltern. Dabei ist die genaue Analyse der Petitionen von Bedeutung.

 

1.2.2.1 Petition von 1988

Die 1988 eingereichte Petition vertrat zwei Anliegen; einerseits sollte das Gewicht zur Abgrenzung von fehl- und totgeborenen Kindern, welches bis zu diesem Zeitpunkt durch die Personenstandsverordnung von 1978 auf 1000 Gramm festgeschrieben war, auf 500 Gramm abgesenkt, der Begriff der Totgeburt also erweitert werden. Andererseits ersuchte man den Gesetzgeber es zu ermöglichen, auch fehl- und totgeborene Kinder mit Vor- und Familiennamen in die personenstandsrechtlich maßgeblichen Bücher (Geburten-, Sterbe- und Familienbuch) eintragen lassen zu können. In seinem Tätigkeitsbericht vom 19. Mai 198957 weist der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages darauf hin, dass er die von der Petentin festgestellte „Unmenschlichkeit“ der seinerzeit gültigen gesetzlichen Regelung in Bezug auf die Eintragungen in die Personenstandsbücher nicht als gegeben ansieht. Er ist, so schreibt er weiter, nicht in der Lage, das Anliegen zu unterstützen.

Zu einer möglichen Absenkung des Mindestgewichts für Totgeburten heißt es, knapp formuliert:

„In Übereinstimmung mit dem BMI [Bundesministerium des Inneren; DB] und der Arbeitsgemeinschaft der Leitenden Medizinalbeamten der Länder sprach er [der Petitionsausschuss; DB] sich für eine Beibehaltung der geltenden Unterscheidungsmerkmale für Tot- und Fehlgeburten aus.“58

Auch die Begründung umfasst lediglich einen Satz, der absurd anmutet:

„Dem lag die Erwägung zugrunde, dass die Festsetzung eines neuen Grenzwertes von z. B. 500 g unzweckmäßig wäre, weil bereits abzusehen sei, dass auch diese neue Grenze infolge des Fortschritts in der Geburtshilfe alsbald überholt sein werde.“59

Ohne also die klare Ablehnung von irgendwie gegebenen Veränderungen beiseiteschieben zu wollen, lässt sich aus diesem Befund allerdings doch auch schließen, dass der Fortschritt durchaus erkannt wurde und man auch das Anliegen grundsätzlich für berechtigt befindet. Lediglich eine sich im Gesetz niederschlagende Konsequenz, wie gefordert, wird ebenso grundsätzlich abgewiesen. Es ist ein paradoxer Eindruck, der hier zurückbleibt: Obgleich erkannt wird, dass Kinder mit einem immer niedrigeren Geburtsgewicht lebensfähig sind und Eltern, augenscheinlich, zunehmend auch zu diesen Kindern einen immer intensiveren emotionalen Kontakt herstellen, dem mit der Namensgebung Rechnung getragen werden soll, entscheidet man sich dagegen, dieser Bitte statt zu geben, das heißt auch, ihr in einer politischen Diskussion Raum zu geben.

Ganz im Sinne dieser Zurückweisung fällt die Antwort auf die zweite Forderung der Petentin negativ aus:

„Der von der Petentin begehrten Eintragung einer Totgeburt steht […] Sinn und Zweck der Personenstandsbuchführung entgegen. Das Geburtenbuch dient der Beurkundung des rechtsfähigen Menschen. Ein totgeborenes Kind ist jedoch gem. §1 Bürgerliches Gesetzbuch nicht rechtsfähig geworden, hat keinen Personenstand erworben und ihm kann auch kein Name erteilt werden. Mit der von der Petentin begehrten Eintragung würden Tatsachen beurkundet, die nicht vorliegen. Eine solche Eintragung würde voraussetzen, dass das Kind nach Vollendung der Geburt gelebt hat und erst dann gestorben ist.“60

Diese nüchtern wirkende Absage lässt vermuten, dass die Intention der Petentin nicht hinreichend hinterfragt wurde. Vielleicht verrät eine solche Reaktion auch eine gewisse Mühe um irgendwie gewahrte Distanz. Zumindest lässt sich die vorliegende emotionslose Begründung auf eine doch sehr emotional motivierte Anfrage so deuten.

Es ist bezeichnend, dass aber nur wenige Jahre später und von derselben Initiatorin nahezu dieselben Anliegen vorgetragen wurden, das Ergebnis, das heißt die Antwort des Petitionsausschusses, zu diesem Zeitpunkt jedoch jetzt gänzlich anders ausfiel.

1.2.2.2 Petition von 1992

Das Gesuch hatte, so geht es aus dem Bericht des Petitionsausschusses vom 20. April 199461 hervor, drei Anliegen, die vom Ausschuss getrennt voneinander geprüft wurden. Zum einen sollte es fortan möglich sein, eine Geburtsurkunde für Totgeburten zu erstellen, die die Eltern erhalten können, falls sie dies wünschen. Außerdem schwächte die Petition eine Forderung von 1988 ab und begehrte nun, dass auch Totgeburten mit Namen nur in das Sterbebuch eingetragen werden (zuvor forderte man noch eine Eintragung sowohl in das Sterbebuch als auch in das Geburten- und Familienbuch). Gleichwohl wurde des Weiteren die Bitte erneuert, die Gewichtsgrenze, die eine Fehlgeburt von einer Totgeburt unterscheidet, herabzusetzen.

Der Petitionsausschuss, in einer anderen personellen Zusammensetzung gegenüber der von 1988, da sich der Deutsche Bundestag mittlerweile in der zwölften Wahlperiode befand62, nahm nun differenziert Stellung. Im Hinblick auf das erste Anliegen zeigt sich eine gewisse Kontinuität.

„Hinsichtlich des im September 1992 vorgetragenen Anliegens der Petentin auf Ausstellung von Geburtsurkunden für totgeborene Kinder hielt der Ausschuss an seiner früheren Beschlussempfehlung fest. Der Gesetzgeber habe sich im Hinblick auf Sinn und Zweck der Personenstandsbuchführung dafür entschieden, im Geburtenbuch nur die Beurkundung der Lebendgeburt vorzusehen […]. Dem berechtigten Interesse der Eltern eines totgeborenen Kindes an der Ausstellung einer Personenstandsurkunde werde zudem bereits dadurch Rechnung getragen, dass diese eine beglaubigte Abschrift aus dem Sterbebuch erhalten könnten. Da der Ausschuss diese Regelung für hinreichend hielt, empfahl er insoweit, das Petitionsverfahren abzuschlie-

ßen.“63

Diese Absage an die Petentin ist zumindest logisch nachvollziehbar. Sie lässt aber zugleich erkennen, dass die hinter der Petition stehende Absicht erkannt wurde, obwohl die Entscheidung selbst negativ, das heißt nicht neu ist. Und so erstaunt es nicht, dass sich im Blick auf die anderen Forderungen der Petition das Urteil wandelt. Es geht nun um die Forderung, Totgeburten mit Namen in das Sterberegister einzutragen (aus dem die Eltern, wie oben erwähnt, eine Abschrift verlangen können). Hier formuliert der Petitionsausschuss das klare Desiderat einer Veränderung.

„Die bestehende Regelung sei den stark belasteten Eltern nur schwerlich verständlich zu machen. Es sei nachvollziehbar, dass es nach der ersten Enttäuschung und dem Schmerz über das totgeborene Kind für die Eltern ein zweites Mal sehr schmerzlich sein könne, wenn diese bei der Eintragung in das Sterbebuch den Eindruck gewinnen müssten, ihr totgeborenes oder in der Geburt verstorbenes Kind werde nicht als menschliches Wesen anerkannt. Im Hinblick auf diese Thematik habe bereits eine Sensibilisierung der politisch Handelnden stattgefunden […]. Der Ausschuss befürwortete daher die Bitte, Namen totgeborener Kinder im Sterbebuch einzutragen […].“64

Gewichtet man diese Nuance ganz explizit, so muss man sagen: Allein sprachlich ist in diesen Drucksachen, die, was das Datum ihrer Anfertigung betrifft, nur fünf Jahre auseinanderliegen, ein großer Unterschied feststellbar. Auch das Ergebnis ist ein gänzlich anderes; noch im selben Jahr wurde eine entsprechende Gesetzesänderung verabschiedet, die am 01.07.1998 in Kraft trat. Fortan konnten Totgeburten in das Geburtenbuch (Personenstandsregister) eingetragen werden und zwar, wenn die Eltern dies wünschten, mit Vor- und Nachnamen. Auch in das Stammbuch der Familie konnte das Kind nun mit Namen eingetragen werden. Der Gesetzgeber ließ dabei innerhalb dieser Veränderung außerdem rückwirkende Anträge zu: bis zum 31.03.1994 verstorbene Kinder konnten, wenn sie ein Mindestgewicht von 1000 Gramm aufwiesen, auf dem Standesamt registriert werden.65

Es ist eine nicht zu unterschätzende Neuerung, die sich damit in der Bundesrepublik vollzog: Demnach war es in der Folge, kurz gesagt, also möglich, Totgeburten einen vollständigen Namen zu geben, der so in die personenstandsrechtlich relevanten Dokumente eingetragen und aus denen den Eltern eine beglaubigte Abschrift ausgestellt, das heißt auch: mit nach Hause gegeben werden konnte.

Deshalb verwundert eine weitere Folge nicht, nämlich dass durch diese Änderung die letzte Forderung dieser Petition – die Absenkung des Mindestgewichts für Totgeburten – noch mehr in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Der Ausschuss betont dabei, dass dieses Anliegen mehrfach an ihn herangetragen worden sei und erläutert noch einmal das bis dahin geltende Recht, auf die die Ablehnung des Petitionsausschusses in der vorhergehenden Wahlperiode verweisend66. Doch dann heißt es:

„An dieser Entscheidung hielt der Ausschuss nach erneuter Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht mehr fest. Er vertrat vielmehr die Auffassung, dass die Gewichtsgrenze von 1000 g neu überdacht und eine Herabsetzung auf 500 g ernsthaft erwogen werden solle.“67

Es ist ein erstaunlicher Wandel in so kurzer Zeit. Und man muss sich fragen: Wie kam es zu dieser (Um-)Entscheidung? Die Untersuchung verweist auf Entwicklungen der folgenden Art: Ein wichtiger Grund für den Gesinnungswandel des Petitionsausschusses war die vorangegangene, etwa zeitgleich mit Einreichen der Petition erfolgte Neubewertung des Sachverhalts aus medizinischer Sicht. Unter der Überschrift „Die perinatale und neonatale Mortalität und das Personenstandsgesetz in der Bundesrepublik“ erschien im Dezember 1993 ein Artikel des Würzburger Universitätsmediziners Hans-Burkhard von Stockhausen im Deutschen Ärzteblatt68, dem entscheidenden Medium der bundesdeutschen Ärzteschaft, welcher sowohl auf die aktuell geltenden rechtlichen Gegebenheiten, als auch auf die statistischen Fakten und ihre Entwicklung sowie die medizinisch-alltäglichen Erfahrungen einging. Er weist aus medizinischer Sicht auf die Probleme des bestehenden Personenstandsrechts hin und stellt stellvertretend für die Bereiche Geburtshilfe und Neonatologie eine Forderung auf, die eine Reform der Gesetzgebung zum Ziel hat.

„Geburtshelfer und Neonatologen sind sich einig, dass in der Bundesrepublik und allen EG-Ländern das Personenstandsgesetz an die Empfehlung der WHO angepasst werden muss. Das bedeutet, dass die Definition eines Lebendgeborenen unverändert bleibt, jedoch die Grenzen zur Dokumentation eines Totgeborenen von bisher 1000 g […] auf 500 g […] abgesenkt werden.“69

Der Verfasser führt vier Gründe auf, die seine Forderung stützen sollen.

1. Bei einer Überlebensrate von etwa 70 Prozent aller Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht zwischen 500 und 1000 g entfällt das bisherige Argument für den Fortbestand des jetzigen Personenstandsgesetzes, dass nur in Ausnahmefällen ein Kind dieser Gewichtsgruppe überlebt.

2. In Anbetracht des offensichtlich hohen Anteils extrem kleiner Frühgeborener an der perinatalen und neonatalen Mortalität ist eine objektive Bewertung und vor allem ein Vergleich perinataler und neonataler Statistiken nur möglich, wenn alle lebend- und totgeborenen Kinder erfasst werden.

3. Die vermeintlich absolute Zunahme kleiner Frühgeborener und noch mehr die zunehmenden Überlebensraten haben zu einem Versorgungsengpass auf neonatalen Intensivabteilungen geführt, was in manchen Regionen zu einem unverantwortlichen ‚Frühgeborenentourismus‘ geführt hat. Nur bei genauer Kenntnis der Geburtsraten aller untergewichtigen Kinder lässt sich ermitteln, ob die Zahl der Frühgeborenen tatsächlich zunimmt und wie viele Frühgeborenen-Intensivplätze innerhalb einer bestimmten Region in Zukunft notwendig sind.

4. Die Beibehaltung des bisherigen Personenstandsgesetzes würde jetzt und in Zukunft eine ernste ethische Konfliktsituation für Hebammen und Geburtshelfer darstellen, solange nicht genügend Perinatalzentren vorhanden sind und bei jeder Geburt ein erfahrener Neonatologe anwesend ist. Das Schicksal eines Frühgeborenen darf nicht von der zweifelhaften Alternative zwischen einem die Mortalitätsstatistik nicht beeinflussenden Abort und einer Überlebensrate von 70 Prozent abhängen.“70

Diese Einschätzung aus medizinischer Sicht muss zumindest dahingehend etwas verwundern, als dass hier doch ein Problemfeld beschrieben wird, das in Gänze nicht kurzfristig entstanden sein kann, sondern vielmehr auf eine Entwicklung verweist, die sich schon über eine längere Zeitspanne hinweg abgezeichnet haben muss. Verwundern deshalb, weil, wie bereits beschrieben, die „Arbeitsgemeinschaft der leitenden Medizinalbeamten der Länder“ die Problematik dieser Entwicklung fünf Jahre zuvor, zu dem Zeitpunkt, als die erste Petition eingereicht wurde und welche dieselbe Forderung enthielt, entweder noch gar nicht wahrgenommen oder unterschätzt hat.

 

Neben von Stockhausen wandten sich auch die Deutsche Gesellschaft für Perinatalmedizin sowie die Deutsch-Österreichische Gesellschaft für Neonatologie und für Pädiatrische Intensivmedizin mit einer gemeinsamen Stellungnahme, die im Februar 1994 im Deutschen Ärzteblatt auszugsweise in einem Artikel von Petra Spielberg zitiert wurde, direkt an die politisch Verantwortlichen. Sie schreiben dort, dass es widersinnig sei,

„[…] Überlebende mit einem Geburtsgewicht unter 1000 Gramm selbstverständlich und berechtigterweise als Patienten und Mitmenschen mit allen verfassungsmäßigen Rechten zu respektieren, gleich schwere Kinder, die tot geboren wurden, jedoch als Abort-Material (Fehlgeburten) zu behandeln.“71

Auch diesen Medizinern geht es – das muss man freilich nüchtern sehen – primär um eine genaue, getrennte statistische Erfassung und Registrierung, von Fehl-, Tot- und Lebendgeborenen; insbesondere zur Verbesserung und Qualitätssicherung von Geburtshilfe und Neonatologie. Und doch finden sich hier auch grundsätzlich anders ausgerichtete Äußerungen und Wahrnehmungen. Spielberg denkt zum Beispiel bei all diesen Tendenzen und Fragestellungen hauptsächlich an die betroffenen Eltern, wenn sie schreibt:

„Eine Registrierung von totgeborenen Leibesfrüchten fördere außerdem das Bewusstsein, diesen sehr kleinen Kindern und ihren Eltern mit mehr Respekt zu begegnen. Dies betreffe einerseits die Anwendung von Reanimationsmaßnahmen. Heute würden unter Umständen Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht zwischen 500 und 999 Gramm als Abort gezählt, wenn sie bald nach der Geburt gestorben sind, obwohl ein Teil dieser Kinder erfolgreich behandelt werden könnte. Andererseits ginge es auch um die Art und Weise, wie Eltern Frühgeburtlichkeit und der Tod ihres Kindes vermittelt werde, bis hin zu den Modalitäten einer würdigen Bestattung.“72

Mit solchen Formulierungen wird aber – hält man mit der Untersuchung an diesem Punkt einmal bewusst inne – gerade eine nahezu revolutionäre Wende im Bewusstsein um den Status des vorgeburtlichen Menschen prononciert zum Ausdruck gebracht. Diese Gedanken erweisen sich nicht erst bei näherer Untersuchung als lebensnah und der seinerzeitigen Situation, soweit dies aus den Beschreibungen und Forderungen von Seiten der Eltern hervorgeht, Rechnung tragend.

Dieser Befund wird durch eine weitere Dynamik ergänzt: Auch der Ausschuss Prävention, Sozialmedizin und Gesundheitsberichterstattung der Arbeitsgemeinschaft der Leitenden Medizinalbeamtinnen und -beamten der Länder hat sich 1993 mit der Abgrenzung von Fehl- und Totgeburt auseinandergesetzt. Im November 1993 wurde schließlich der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) vorgeschlagen, die Grenze auf 500 Gramm abzusenken. Die GMK nahm dies an und wandte sich seinerzeit an das Bundesinnenministerium.73

Dabei zeigt sich, dass die Entwicklung hinsichtlich eines solchen neu sensibilisierten Bewusstseins durchaus nicht einsinnig und ohne Spannungen verlief. Der Bericht des Petitionsausschusses, um nun darauf zurück zu kommen, weist zum Beispiel in seiner Begründung74, das Absenken der Gewichtsgrenze für Totgeburten ernsthaft zu erwägen, auf keine Stellungnahme aus dem Bereich der Medizin oder der GMK hin, sondern geht, im Gegensatz zu dem Bericht von 1989, nur auf eine Auseinandersetzung mit dem Bundesinnenministerium ein, das weiter an der 1000-Gramm-Grenze festhalten wollte, dieses Mal jedoch mit einer anderen Begründung als vor wenigen Jahren. Demnach wollte das Ministerium an der bestehenden Regelung festhalten, weil es der Empfehlung der WHO entspräche. Die Entgegnung des Ausschusses nimmt dabei gerade die Fokussierung auf eine rein statistische Betrachtungsweise als problematisch wahr.

„Der Ausschuss stellte hierzu fest, dass diese [gemeint ist die WHO; Anm. DB] lediglich für internationale Vergleichszwecke empfehle, eine Gewichtsgrenze von 1000 g zugrunde zu legen. Für nationale Statistiken lege diese WHO-Empfehlung dagegen nahe, auch Tot- und Neugeborene mit einem Geburtsgewicht zwischen 500 g und 1000 g in diese einzubeziehen.“75

Die Begründung des Innenministeriums für die ablehnende Haltung erscheint in diesem Sinne spätestens dann als ausgesprochen fragwürdig, wenn man sich vor Augen führt, dass auch andere europäische Staaten die Empfehlung der WHO, eine Grenze von 500 Gramm für die nationalen Vergleichszwecke festzuschreiben, bereits in ihr Recht aufgenommen haben, Deutschland sich also mit einer im europäischen Vergleich eher überholten Gesetzgebung präsentiert. So verwundert es nicht, dass der Petitionsausschuss eine Angleichung als „wünschenswert“ erachtet; außerdem weist der Ausschuss darauf hin, dass auch Kinder, die mit einem Gewicht von weniger als 1000 Gramm geboren werden, mittlerweile eine „reelle Überlebenschance“ hätten.76

„Schließlich ließ der Ausschuss auch den Hinweis auf die ausschließliche Kompetenz der Länder für die Ausgestaltung der Bestattungsregelungen nicht gelten. Bei dieser Argumentation sah er die Gefahr, dass die Länder bei der Frage der Bestattung von Fehlgeburten (unter 1000 g) ihrerseits auf die Bundeszuständigkeit für das Personenstandsrecht verweisen könnten.“77

Diese sehr kluge Beschreibung der Risiken im Dschungel der Zuständigkeiten von Bund und Ländern ist deshalb so wichtig, weil, wie angedeutet, die Personenstandsgesetzgebung Aufgabe des Bundes ist, die in diesem Fall damit verbundene Bestattungsgesetzgebung jedoch in der Hoheit der Bundesländer liegt. Ein Hin- und Herschieben der Kompetenz innerhalb dieser Problematik ließ der Petitionsausschuss von Anfang an nicht gelten.

Dem positiven Geschick der Petition war aber – das ist im Ergebnis festzuhalten – nun ein gewisser Weg geebnet. Nach den beschriebenen Klärungen von Seiten des Ausschusses wurde die Petition zunächst dem Bundesinnenministerium sowie den im Bundestag vertretenden Fraktionen, mit entsprechender Empfehlung, zur Erwägung übersandt. Zudem sollte es eine Anregung für eine parlamentarische Debatte sein. Auch aufgrund des Vorschlags der GMK lenkte das Innenministerium ein und brachte eine entsprechende Gesetzesänderung in den Bundesrat ein78, dieser wurde schlussendlich beschlossen und trat in den wichtigen Punkten am 1. April 1994 in Kraft.

Fasst man die damit nachgezeichnete Entwicklung in der Bundesrepublik zusammen, ist festzuhalten, dass, nachdem wenige Jahre zuvor sämtliche Anliegen einer solchen Praxis verworfen wurden, nun der Beschluss gefasst wurde, tot geborenen Kindern zwar weiterhin keine Geburtsurkunde auszustellen, sie aber fortan mit Namen in das Sterbebuch einzutragen, wenn sie bei der Geburt mindestens 500 Gramm wiegen. Für Fehlgeburten, das heißt für die Kinder, die dieses Gewicht nicht erreichten, änderte sich freilich auch mit solchem Umdenken nichts, sie blieben anonym – zumindest für den Gesetzgeber. Diese Kinder sind – und das galt in selbstverständlicher Kontinuität – rechtlich nicht existent und ihre Zahl wird auch weiterhin in keiner Statistik ausgewiesen.

Genau dieser Sachverhalt ist der Ausgangspunkt einer weiteren Petition, die fünfzehn Jahre später, im Jahr 2009, vorgelegt wurde.

1.2.2.3 Petition von 2009 und aktuelle Gesetzgebung

Initiatoren dieser dritten, hier relevanten Petition waren die selbst betroffenen Barbara und Mario Martin. Nachdem die Bundestagsabgeordneten die Petition am 07. Juli 2011 abschließend beraten hatte, übersandte er die Petition an die Bundesregierung und an die Fraktionen. In der Begründung wird die Ausgangslage wie folgt beschrieben:

„Das Schicksal einer späten Fehlgeburt widerfahre Eltern in ca. 10 bis 15 vom Hundert aller Schwangerschaften. Zwischen der 24. und 26. Schwangerschaftswoche hätten Kinder das Gewicht von 500 g erreicht. Ab der zwölften Woche sei aber ein Schwangerschaftsabbruch auf legalem Wege verboten, da hier eine ‚Straftat gegen das Leben‘ (§ 218 Strafgesetzbuch – StGB) begangen werde.

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