Fehl- und totgeborene Kinder

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1. STATUS UND WERT DES VORGEBURTLICHEN MENSCHEN UND DER UMGANG MIT FEHL- UND TOTGEBORENEN ZU ZEITEN DES GETEILTEN UND WIEDERVEREINIGTEN DEUTSCHLANDS

Eltern erfahren sich durch ihre Kinder schon in der Schwangerschaft unbedingt beansprucht. Es ist genau diese Erfahrung der Beanspruchung, welche den Ausgangspunkt jeder wirklich angemessenen und ethisch verantwortlichen Beschreibung des Status des vorgeburtlichen Menschen ausmacht. Denn was sonst als die wirkliche lebensmäßige Erfahrung könnte eine Hilfe sein, um dem Geheimnis des Menschen in dieser frühen Zeit auf die Spur zu kommen? Die vorliegende Untersuchung will deshalb versuchen, genau diesen Erfahrungskontext aufzuspüren und zu beschreiben. Sie versucht es – vor aller Auseinandersetzung mit wissenschaftlicher Theologie in philosophischen Theoremen, fachlichen Kontroversen und spezialisierten Kommentaren – durch die Beschreibung der Ausdrucksweisen und Sprachformen, mit denen die Gesellschaft selbst die Wirklichkeit des Menschen in der Schwangerschaft in Worte fasst. Dabei ist es eine Art negativer Hermeneutik, die hier als Ansatzpunkt gewählt wird: Im Spiegel der glücklosen Schwangerschaft, dort, wo Kinder vor der Geburt sterben müssen, soll die eigene Sensibilität im Umgang mit dem Status des vorgeburtlichen Menschen erfasst werden. Das heißt: Jenseits voraussetzungsreicher Gegensätze – etwa wenn es um Rechte der Mutter und des Kindes im Schwangerschaftskonflikt und bei der Abtreibung geht – jenseits auch von entwicklungsbiologischen oder entwicklungspsychologischen Wissensständen und Vermutungen – etwa zum vorgeburtlichen Empfinden des Kindes, seiner körperlichen und psychischen, der geistigen Reife – muss das Faktum der existenziellen Realität des Kindes gerade im Paradox seines Verlustes, seiner Nichtigkeit, eben seines Todes, der es in die Nichtexistenz, Gegenständlichkeit bloßer biologischer Materie abzudrängen droht, anschaulich werden.

Nachfolgend soll gezeigt werden, dass der Kontrast zwischen der materialistisch-sozialistischen Beschreibung von Fehl- und Totgeburt auf der einen Seite und der durch das Erleben von Eltern veränderte rechtliche Rahmen des Personenstandsrechts in der Bundesrepublik auf der anderen diesen Ansatzpunkt der theologisch-ethischen Hermeneutik des vorgeburtlichen Menschen zugänglich macht.

1.1 Der vorgeburtliche Mensch? Theorie und Praxis in der ehemaligen DDR

Das Nachdenken über den Status des vorgeburtlichen Menschen setzte in der DDR erst spät, im Kontext des Erlassens des „Gesetzes über die Unterbrechung der Schwangerschaft“ 1972, ein. Heute finden sich nur noch wenige Publikationen, in denen sich, ausnahmslos regierungsnahe, wichtige Personen des Gesundheitssystems der DDR zu diesem Thema äußern. Es gibt keine Hinweise auf einen größeren, öffentlichen Diskurs; dabei gab es bereits elf Jahre vor diesem Gesetz eine eminent wichtige Änderung: Die (Neu-)Definition von „Lebendgeburt“, „Totgeburt“ und „Fehlgeburt“ bzw. von „Mensch“ und „Abort“.

1.1.1 Zur Ausgangslage: Definition von „Lebendgeburt“, „Totgeburt “ und „Fehlgeburt“ 1961

Seit 1938 galt in der DDR wie auch in der Bundesrepublik eine Definition von „Lebendgeburt“, wonach von einer solchen zu sprechen ist, wenn das Kind postnatal natürlich atmete. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) legte allen Staatsregierungen 1950 nahe, von einer „Lebendgeburt“ zu sprechen, wenn mindestens eines der Lebensmerkmale: natürliche Lungenatmung, Herzschlag, Pulsation der Nabelschnur und/oder Muskelbewegung bei dem Neugeborenen feststellbar war. Die Bundesrepublik änderte die gesetzliche Definition von „Lebendgeburt“, indem sie die ersten drei Lebensmerkmale in eine Alternativregelung übernahm; eine Muskelbewegung, so der Gesetzgeber, kann auch willkürlich sein und wurde nicht als sicheres Lebenszeichen verstanden (siehe 1.2.1). Auch in der DDR reichte ein Lebenszeichen aus, um das Kind als „Lebendgeburt“ zu klassifizieren. Mit der Neufassung der „Anordnung über die ärztliche Leichenschau“ (LSchAO) von 1961 wurde die Regelung jedoch überraschend zu einer Kumulativregelung geändert; fortan musste das Kind zwei Lebenszeichen, nicht irgendwelche, sondern vom Gesetzgeber festgelegte, Lungenatmung und Herzschlag, aufweisen, um als Lebendgeborenes zu gelten.3

Man kann nun mit Stephan Mallik die Frage stellen, wie es dazu kam. Der Analyse bietet sich ein komplexes Bild: Ab 1950 gewährte die DDR Müttern ab der dritten Geburt finanzielle Hilfe, die 1958 aufgestockt und von nun an bereits ab der ersten Geburt gezahlt wurde. Anspruchsgrundlage war die „Geburt“ eines Kindes, was nicht nur die Lebendgeborenen einschließt. Dies war zwar intendiert, scheiterte aber in der praktischen Umsetzung daran, dass es keine offizielle Definition von der „Geburt“ (als Anspruchsgrundlage) gab und so Partikularregelungen galten, die sich, dem Gesundheitsministerium der DDR im September 1961 zu Folge, „[…] sowohl für den Staatshaushalt der DDR als auch für die Statistik nachteilig auswirkten.“4 Für 1962 war in der DDR eine Neuauflage der Totenscheine vorgesehen. Dies nahm man zum Anlass, die LSchAO mit der Zielsetzung einer gesetzlichen Definition und Differenzierung von „Fehl-, Tod- und Lebendgeburten“ zu überarbeiten. Die offizielle Begründung des stellvertretenden Gesundheitsministers Marcusson war das Erreichen einer besseren Auswertbarkeit der Totenscheine in Bezug auf die Todesursache, getrennt für Kinder, die im ersten Lebensjahr verstarben und Kinder, die später5 verstarben.6

Bereits der erste Entwurf enthielt eine Zwei-Lebenszeichen-Regelung und den Vorschlag zur Senkung der Mindestkörperlänge auf dreißig Zentimeter, um Fehlund Totgeburten zu unterscheiden. Mit der Zwei-Lebenszeichen-Regelung wies man so den Vorschlag der WHO (ein Lebenszeichen) als zu unsicher zurück; es reiche nicht aus, einen Herzschlag ohne Atmung oder eine Atmung ohne Herzschlag festzustellen, um das Kind als Lebendgeborenes zu bezeichnen, da nur beide Lebenszeichen zusammen das Leben ermöglichten7. Ferner dürfe, in Bezug auf die Lebenszeichen, nicht nur der Zeitpunkt der Geburt berücksichtigt werden, geht es doch um eine dauerhafte Lebensfähigkeit. Auf eine, in anderen Ländern übliche, Formulierung, nach der das Kind mindestens vierundzwanzig Stunden überleben müsse um als Lebendgeborenes zu gelten, verzichtete man jedoch ebenso wie auf eine Mindestgröße oder ein Mindestgewicht für Lebendgeburten. Im finalen Entwurf der LSchAO vom November 1961 fand sich dann oben genannte Zwei-Lebenszeichen-Regelung. Die Körpergröße zur Abgrenzung von Fehl- und Totgeburt beließ man bei fünfunddreißig Zentimetern, so dass sich, kurz darauf gesetzlich festgeschrieben, folgende Einteilung ergab:

Lagen bei der Geburt Atmung und Herzschlag als Lebenszeichen beim Neugeborenen vor, galt es als „Lebendgeburt“, unabhängig von Größe und Gewicht. Besaß das Kind keines oder nur eines der beiden Lebenszeichen, wies aber eine Körperlänge von mindestens fünfunddreißig Zentimetern auf, wurde es als „Totgeburt“ registriert. Wies das Kind keines oder nur eines der beiden Lebenszeichen auf und war dabei kleiner als fünfunddreißig Zentimeter, galt es als nichtregisterpflichtige „abortierte Frucht“ bzw. „Fehlgeburt“. Die Fünfunddreißig-Zentimeter-Grenze wurde 1978 durch eine 1000-Gramm-Grenze ersetzt. Bei einer Totgeburt und einer nach der Geburt verstorbenen Lebendgeburt handelte es sich nach dem Gesetz ferner um eine menschliche Leiche. Das Fehlgeborene galt nach dem Gesetz nicht als menschliche Leiche.8

Diese Neufassung wirft einige Fragen auf: Was geschah mit den Kindern, die ein Lebenszeichen aufwiesen? Wurden sie dem Tod überlassen? Warum hat man es mit der Neudefinition so viel schwieriger gemacht, als „Lebendgeburt“ zu gelten?

Zur Klärung der Motivation ist zunächst zu untersuchen, was oben bereits angedeutet wurde – der Einfluss der Kostenfrage. Grundsätzlich ist zunächst festzuhalten, dass die Ausgaben im Rahmen der der finanziellen Unterstützung von Familien, Müttern und gezielter Geburtenhilfe in der DDR stetig stiegen – im Zeitraum von 1957 bis 1961 auf insgesamt 160 Millionen Mark. In der Analyse des Staatshaushaltsplans des Finanzministeriums wird ausdrücklich die staatlich gewährte Geburtenhilfe, nur eine von vielen Leistungen, als Grund für „Planüberschreitungen des Sozialwesens“ identifiziert9.

Die „staatliche Geburtenbeihilfe“ war eine finanzielle Beihilfe, die vom Jahr 1950 an gewährt wurde. Zunächst war ab dem dritten Kind eine Unterstützung in Höhe von 100 Mark vorgesehen. 1958 wurde der auf 500 Mark erhöhte Betrag bereits von der Geburt des ersten Kindes an ausgezahlt. 1972 stockte man diesen Betrag noch einmal auf 1000 Mark auf. Die Zahlung erfolgte in Raten; den Betrag von 1000 Mark zu Grunde legend stellte es sich so dar: Bei der Vorstellung der Schwangeren innerhalb der ersten sechzehn Wochen waren 100 Mark fällig. Mit der zweiten Vorstellung in der Schwangerenberatungsstelle wurden noch einmal 50 Mark ausgezahlt. Für den Nachweis der Geburt erhielt die Mutter 750 Mark; bis zu diesem Zeitpunkt zusammen 900 von insgesamt 1000 Mark. Stellte sich die Mutter postnatal noch viermal in den ersten vier Lebensmonaten in der zuständigen Mütterberatungsstelle vor, bekam sie dafür jeweils weitere 25 Mark, also insgesamt noch einmal 100 Mark. Steht am Ende der Schwangerschaft eine Fehlgeburt, nach Definition der DDR, so erhielt die Mutter dennoch 150 Mark – dies entspricht den beiden ersten Raten. Bei einer Totgeburt und bei einer Lebendgeburt wurde der volle Betrag ausgezahlt (bei einer Totgeburt wurde der gesamte Restbetrag als Einmalzahlung zur Verfügung gestellt).10

 

Ein weiteres eindrucksvolles Beispiel im Hinblick auf die Frage nach den Kosten ist die „Verordnung über die Gewährung von Krediten zu vergünstigten Bedingungen an junge Eheleute“. Im fünften Paragraphen ist geregelt, dass eben diesen jungen Eheleuten bei der Geburt eines oder mehrerer Kinder ein teilweiser Krediterlass (mindestens 1000 Mark) zu Gute kommt. Ohne Festlegung, dass mit „Geburt“ eine „Lebendgeburt“ gemeint ist und ohne Definition, was eine „Lebendgeburt“ kennzeichnet, würde der Staatshaushalt, so das Ministerium für Gesundheit, an dieser Stelle unnötig belastet, da er den Eheleuten auch dann einen finanziellen Vorteil verschaffen würde, wenn diese, bei einer Fehl- oder Totgeburt, gar kein Kind großzuziehen und zu versorgen hätten.11

Im Übrigen führte das Gesundheitsministerium das „Kostenproblem“ auf die eigenen Mitarbeiter zurück: So geht aus einer hausinternen Mitteilung der Sektion „Gesundheitsschutz für Mutter und Kind“ vom Mai 1959 hervor, dass man dem eigenen Personal misstraute. Geburtshelfer seien beim Fehlen klarer Regelungen geneigt, im Interesse der Frau zu entscheiden und so „[…] in Zweifelsfällen die Frucht eher als eine Lebendgeburt, denn als Abort zu bezeichnen.“12 Das war der Fall, wenn die Geburtshelfer sich nicht sicher waren (oder sein konnten), ob das Kind nicht doch einen Atemzug machte oder das Herz nicht nach der Geburt doch noch für einen Moment schlug. Eine solche Handlungsweise der Geburtshelfer erhöhe einerseits die Werte der Statistik zur Säuglingssterblichkeit und koste andererseits Geld.

Nun ergibt sich durch die Neuregelung allerdings ein nur geringes Einsparpotenzial – bei einer Fehl- oder Totgeburt, gemäß der Definition der DDR, musste das nur in Raten ausgezahlte Geld nicht zurückgezahlt werden. Eine Änderung dieser Regelung wäre ein echtes Einsparpotenzial gewesen, wesentlich bequemer und unauffälliger als etwa eine generelle Senkung der Geburtenhilfe, die ja – im Gegenteil – elf Jahre nach den Neudefinitionen, 1972, noch einmal verdoppelt wurde und die, besonders im deutschsprachigen Ausland, zur Profilierung der Sozial- und Gesundheitspolitik beitrug.13

So verdichtet sich die Fragestellung der Analyse noch einmal: Lag die Motivation daher eher bei einem anderen, ebenfalls bereits angedeuteten Aspekt – der Senkung statistischer Werte in Bezug auf die Säuglingssterblichkeit? Die DDR war sehr bemüht um diese Statistik, immerhin bedeutete, davon war man überzeugt, eine niedrige Säuglingssterblichkeit Kinderliebe und galt als Zeichen des humanitären Fortschritts einer Gesellschaft. Die stets betonte Kinderfreundlichkeit der DDR und die besondere Fürsorge für Schwangere und Kinder sollten sich in den Zahlen widerspiegeln. Das Ziel war dabei nicht nur die Mortalitätsrate bei Säuglingen und Müttern möglichst gering zu halten, sondern auch ein vergleichsweise besserer (d.h. geringerer) Wert im direkten Vergleich zur BRD.14

Zu dieser Statistik äußerte sich Gert Henning, einer der führenden Gynäkologen an der früheren Frauenklinik der Karl-Marx-Universität Leipzig 1984:

„Die Senkung der Mütter-, Säuglings- und Kindersterblichkeit ist […] in erster Linie ein soziales Problem und erst in zweiter Linie abhängig vom wissenschaftlichen Erkenntnisstand der Medizin oder vom Grad der apparativen und technischen Ausrüstung der einzelnen Kliniken und Einrichtungen. Entscheidend ist, wie diese Mittel und Erkenntnisse nutzbringend für alle Menschen in einer Gesellschaftsformation angewendet werden. Der medizinische und wissenschaftliche Erkenntnisstand sowie die technischen Ausrüstungen der Kliniken und medizinischen Einrichtungen sind in der BRD zum Beispiel denen in der DDR vergleichbar. Trotzdem hat die DDR seit Jahren eine geringere Säuglings- und Müttersterblichkeit als die BRD.

Die höheren Werte der Säuglingssterblichkeit in der BRD haben ihre Ursachen in Problemen bei der Organisation des Gesundheitswesens und in sozialen Bedingungen der BRD.“15

Henning sagt damit einerseits, dass die Statistik eine wichtige Kennzahl der Gesellschaft ist, andererseits, dass diese Kennzahl weniger von technischen Möglichkeiten und medizinischen Erkenntnissen abhängig ist, sondern wiederum von der Gesellschaft. Zum Ende hin suggeriert er, der medizinische Standard in der DDR sei dem der BRD vergleichbar. Für Sabine Gries, die sich schwerpunktartig mit verschiedenen Formen von Kindesmisshandlung in der DDR beschäftigt hat, ist diese Behauptung nicht haltbar. Ein wahrer Grund sei vielmehr die geänderte Definition. Wies ein schwaches Frühgeborenes, mit nur einer geringen Überlebenschance, nur ein Lebenszeichen auf, wurde dasselbe Kind in der BRD als Lebendgeburt, in der DDR hingegen als Totgeburt klassifiziert. Starb das Kind dann in der BRD, verschlechterte es deren statistische Werte. Dieser Unterschied in der Deklaration schönte die Statistik, so Gries und verhinderte außerdem Kosten beim Aufziehen eventuell bleibend geschädigter Neugeborener16.

„Der sozialistische Staat DDR, der sich seiner Kinderliebe stets rühmte, hatte es aber in erster Linie auf gesunde, zumindest aber auf lebenstüchtige Nachkommen abgesehen, die den Sozialismus durch ihre Arbeitskraft und ihre Überzeugung unterstützen konnten.“17

Gries liest daraus, dass die DDR offensichtlich keinen Platz für eventuell pflegebedürftige Kinder hatte, was die Frage aufwirft, was mit den Kindern, die nur ein Lebenszeichen aufwiesen, geschah. In diesem Zusammenhang erwähnt sie zwei Methoden: Das Liegenlassen des Kindes, bis es verstorben war, sowie das aktive Töten des Kindes im Wassereimer – sie unterstellt also Maßnahmen von der Verletzung der ärztlichen Ethik über Totschlag und sogar Mord. So habe es Bezirke gegeben, in denen offiziell gar keine Kinder unter 1000 Gramm Gewicht geboren wurden, eine „künstliche Zahlendiskrepanz“, die darauf hinweist, dass es einen Arzt gab, der im Einzelfall für sein Territorium entschied, ob in diesem unreife Frühgeborene versorgt oder als Fehl- bzw. Totgeburt deklariert wurden.18

Hier bietet sich nicht der angemessene Raum, solchen Beschreibungen der Praxis in der DDR detailliert nachzugehen. Es bleibt zu konstatieren, dass sowohl die Ziele als auch die Auswirkungen der Gesetzesänderung nicht zweifelsfrei feststellbar sind. Allerdings steht es, bedenkt man die Aussagen des Gesundheitsministeriums, außer Frage, dass eine positive Auswirkung auf sowohl die Kosten als auch auf die Statistik willkommen waren. Die Adressaten der Gesetzesänderung waren die in der Geburtshilfe Tätigen; die Neuregelung sollte Einfluss, nicht konkret auf ihr Handeln, sondern auf die gestellte Diagnose, die Deklarierung der Neugeborenen nehmen, unter anderem, weil man Missbrauch vermutete. Die Regulierung der Kosten für die Geburtenhilfe wog dabei als Motivation wohl schwerer als der begrenzte, positive Effekt in der Statistik.19

Letztlich ist aber auch Sabine Gries zuzustimmen, wenn sie in einem Fazit schreibt:

„Wenn es auch keine offizielle Anweisung gab, aus Propaganda- und Kostengründen Kinder, deren gesundes Aufwachsen zweifelhaft erschien, als Totgeburten zu deklarieren und nicht zu versorgen, so kam die Gesetzgebung der DDR einem solchen Handeln doch sehr entgegen.“20

Bei der Durchsicht stößt man deshalb wohl auch auf Texte wie den, der am Ende dieses Abschnitts ohne umfassende Bewertung hier einfach wiedergegeben wird und in dem eine Betroffene zu Wort kommt. Eine verwaiste Mutter, die eine Totgeburt in der DDR erlitten hat, ihre Geschichte in einzelnen Tagebucheinträgen dokumentiert und schließlich im Jahr 2008 veröffentlicht hat. Neben ihren Erfahrungen schreibt sie auch über das Gesundheitssystem der DDR, welches sie, nach allen Erlebnissen, mit den Worten beschreibt: „Der Kindstod ist so alt wie die Menschheit. In unserem sozialistischen Gesundheitswesen ging es – bei all seinen Leistungen – um Geburtenzahlen, nicht um Todesfälle und Schicksale.“21

1.1.2 Das Nachdenken über Status und Wert pränatalen menschlichen Lebens, besonders im Zuge des Gesetzes zur Unterbrechung der Schwangerschaft

Als das Gesetz zur Unterbrechung der Schwangerschaft verabschiedet wurde, begann in der DDR, das soll nachfolgend aufgezeigt werden, das Nachdenken über den Status des vorgeburtlichen Menschen. Obwohl Helmut Kraatz, Leiter des Lehrstuhls für Gynäkologie an der Akademie für ärztliche Fortbildung in der DDR und Uwe Körner, Mitarbeiter an dieser Akademie, das Kind bei der „Schwangerschaftsunterbrechung“ nicht als unmittelbar betroffen ansehen, sprechen sie von einer gewissen Notwendigkeit, über den Status dieser Form menschlichen Lebens nachzudenken. Obgleich sie das Gesetz als entscheidende „Errungenschaft in der Verwirklichung der sozialen Gleichberechtigung der Frau“22 und „umfassende Voraussetzung für eine verantwortungsbewusste Familienplanung“ ansehen, registrieren sie, dass dieses Gesetz nicht nur Gegenstand weltanschaulich motivierter Kritik ist, sondern auch das eigene ethische Verständnis „nicht in jeder Hinsicht eindeutig“ ist.

Zuvor hatten sich bereits zwei führende Mediziner in der DDR, Gert Henning und Joachim Rothe, zu moralischen Problemen hinsichtlich des künstlich herbeigeführten Aborts geäußert und waren dabei auch auf die Frage nach dem Status des vorgeburtlichen Menschen eingegangen. Zunächst begrüßten und verteidigten sie die Neuregelung zur Deklarierung von Fehl-, Tot- und Lebendgeborenen von 1961; so bringe vor allem das Lebenszeichen „Atmung“ Klarheit über den Status des Lebens, da sich der Übergang zu diesem nirgends prägnanter manifestiert als beim Übergang von der Hydrosphäre in die Atmosphäre. Der Herzschlag als Ausdruck der Herztätigkeit kommt dabei am ehesten als akzessorisches Lebenszeichen in Frage. Eine künstliche Herbeiführung dieser Kriterien sei kein Lebenszeichen (Lungenbeatmung statt Lungenatmung).23

Beide kommen, diese gesetzliche Definition betrachtend, zu dem Schluss, dass mit ihr

„[…] die Festlegung getroffen [ist], von welchem Stadium der Entwicklung an der werdende Mensch zum Menschen zu erklären ist.“24

Damit, so Rothe und Henning weiter, kann es auch durch die Gesetzgebung der DDR zu keinem Zeitpunkt innerhalb der Schwangerschaftsunterbrechung zu einer Gefährdung menschlichen Lebens kommen, da dieses erst vorliegt, wenn das Kind geboren ist, selbstständig atmet und ein Herzschlag feststellbar ist25. Es kommt somit gar nicht in Frage, nach dem Status des vorgeburtlichen Menschen zu fragen; es geht für beide um das Verhalten gegenüber dem werdenden Menschen beziehungsweise, wenn man es im Sinne dieser Vorstellungen präzisiert ausdrücken möchte, gegenüber dem embryonal-menschlichen oder fetal-menschlichen Leben26. Sie begründen ihre Meinung damit, dass die Möglichkeit des werdenden Menschen, sich zu entwickeln, noch nicht mit der Realisierung gleichzusetzen ist27; vielmehr besteht eine, mit dem Fortschreiten der Embryogenese wachsende, Chance. Diesem prozessualen Charakter werde es nicht gerecht, schon von einem menschlichen Leben im Sinne eines menschlichen Individuums zu sprechen, bildet sich seine Individualität doch erst nach und nach heraus.28

Vor diesem Hintergrund halten sie fest:

„Die Verhaltensnormen müssen von der Verantwortung gegenüber Leben und Gesundheit der Frau und von Achtung und Ehrfurcht vor der sich im Mutterleib entwickelnden Frucht, vor den Fortpflanzungsvorgängen insgesamt, bestimmt sein.“29

Kraatz und Körner greifen wiederum ihrerseits genau diese Aussage von einer besonderen Ehrfurcht auf. Objekt der Achtung und Anerkennung ist dabei ausdrücklich nicht der Mensch, oder das menschliche Leben, sondern die sich entwickelnde Frucht. Die Autoren sehen es ebenfalls als notwendig an, den Begriff „menschliches Leben“ zu differenzieren, da dieser, ihrem Erachten nach, logisch nicht genau gefasst, ja hier eher verwirrend, ist. Der Realität würde es eher Rechnung tragen, wenn man entweder von embryonal-menschlichem Leben oder personalmenschlichem Leben spricht.30

Bei der Unterscheidung dieser beiden Begriffe greifen Kraatz und Körner auf einen früheren Aufsatz Körners zurück, der sich 1974, zwei Jahre nach der Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in der DDR, mit der Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens befasst hatte. Körner zufolge ist dieser an den Beginn der Individualentwicklung gekoppelt. Die Individualentwicklung wiederum beginne prinzipiell mit dem Entstehen der Zygote; auch die Keimzellen seien in diesem Sinne schon menschliches Leben. Bei der Frage, ob menschliches Leben in diesem Frühstadium bereits schutzwürdig sei, schränkt er allerdings ein.31

 

Aus einer solchen Position folgt natürliche keine maximale Ethik des Schutzes für den vorgeburtlichen Menschen. Gerade die Offenheit des Begriffs der Ehrfurcht, wie Kraatz und Körner später schreiben wenn sie sich auf Körner beziehen, lässt in dieser Semantik durchaus Raum für den Umgang mit dem menschlichen Leben vor der Geburt, der seine Begründung aus anderen als den der Achtung vor den biologischen Reifungsprozessen spezifisch menschlicher Existenz. „[…] Bestimmungen für den ‚Beginn‘ des unter allen Umständen mit allen verfügbaren Mitteln ärztlicher Kunst zu schützenden und zu erhaltenden Lebens […] resultieren [in diesem Sinne in allen solchen Überlegungen eindeutig erst; DB] wesentlich aus sozialen Kriterien und Auffassungen über das Wesen der Persönlichkeit.“32 Das aber heißt, reflektiert man die letzte Systematik, die hinter solchen Sprachformen und Vorstellungen steht, dass der biologische Lebensbeginn für die Schutzwürdigkeit des Kindes zunächst irrelevant ist; es sind vielmehr soziale Kriterien, die nach dieser Auffassung etwaige Grenzen festlegen. Der Unterschied zu wesensphilosophischen Traditionen ist offensichtlich: Es geht nicht um eine natürliche bzw. naturrechtliche Festlegung, sondern um eine soziale, d.h. staatsrechtliche. Noch verkürzter, aber auch prägnanter formuliert: Nicht die Biologie und deren philosophische Ausdeutung bestimmt den Beginn des menschlichen Lebens, sondern die Gesellschaft und der Gesetzgeber.

„Es geht […] um eine auf der Grundlage bestimmten Standes biomedizinischer Technik und Kenntnis naturwissenschaftlicher Fakten getroffene gesellschaftliche, im weitesten Sinne ethische Entscheidung, bei der, ausgehend von bestimmten sozialökonomischen und sozialpolitischen Bedingungen und Zielvorstellungen, bestimmte naturwissenschaftliche Messwerte und medizinisch-biologische Zustände des Individuums als zweckmäßige Kriterien erkannt und in gesellschaftlicher Übereinkunft, in Konventionen und in Gesetzen, als verbindliche Kriterien festgelegt werden.“33

Die Formulierung solcher Kriterien soll nach Körner dazu führen, dass Entscheidungsprobleme in Grenzfällen am Beginn des menschlichen Lebens ausgeschlossen werden. Dem Arzt soll durch eine genaue Definition eine sichere Anwendung ermöglicht werden.34

„Um die Belastung des Arztes beim Ausführen der Keimvernichtung zu mildern oder die Legalisierung der Schwangerschaftsunterbrechung gegenüber kirchlicher Argumentation zu rechtfertigen, wird gelegentlich das Bedürfnis nach einer Begründung dafür artikuliert, dass es sich bei der Keimtötung nicht um eine Vernichtung menschlichen Lebens handelt.“35

So wird als Motiv all dieser Überlegungen die moralische Entlastung ärztlichen Handelns einsichtig, die mit Hilfe der Definitionen und Kriterien zu Lebend- und Totgeburt gewonnen werden soll. Die Kriterien sind die bereits erörterten, 1961 vom Gesetzgeber festgeschriebenen perinatalen Lebenszeichen Atmung und Herzschlag. Da sie zum Zeitpunkt des Schwangerschaftsabbruchs noch nicht vorliegen, könne dem Arzt nicht vorgeworfen werden, menschliches Leben zu vernichten36. So resümiert Körner, dass hier deutlich werde,

„[…] wie wenig es sich bei der Problematik des ‚echten menschlichen‘ Lebens um Probleme einer naturwissenschaftlich gegebenen Grenze handelt.“37

Bei jeder ärztlichen Handlung innerhalb eines solchen „Grenzfalls“38 des Lebens gehe es vielmehr um die „soziale Bedeutung bestimmter biologisch-medizinischer Sachverhalte“39; speziell bei Schwangerschaftskonflikten gehe es darum,

„[…] unter welchen Bedingungen werdendes menschliches Leben im Interesse anderer Güter oder bestimmter Werte vernichtet werden kann und wann es als ‚vollwertiges’ menschliches Leben unter absoluten Schutz gestellt ist.“40

Damit ist ausdrücklich und explizit gesagt, dass das Problem aus dem naturwissenschaftlichen und „weitestgehend ethischen“ in einen sozialen Kontext gebracht wird. Und dies gilt, obgleich das Wort „Konflikt“ bereits deutlich macht, dass es sich, Kraatz und Körner halten das später fest, in jedem Fall auch um eine „moralische Konfliktsituation“41 handelt – immerhin müsse zwischen „zwei Übeln“42 gewählt werden:

„Werdendes Leben ist für uns allgemein ein hochgeschätzter Wert, und doch wird es unter bestimmten Bedingungen anderen Werten geopfert.“43

Die damit ausgedrückte Option lässt sich vielleicht so zusammenfassen: Lebensvernichtung bei einem Abort sei ein Übel, das Austragen der Schwangerschaft kann jedoch ein größeres Übel darstellen. So wird die vom Gesetzgeber geschaffene Lösung, in Verbindung mit der Definition, ab wann von einem Menschen zu sprechen ist, zunächst von Körner, dann von beiden, verteidigt:

„Unsere gesellschaftliche Lösung und gesetzliche Regelung bietet offensichtlich die der heutigen Menschheitsentwicklung angemessen [sic!] menschenwürdigste Form der Austragung dieses Konfliktes.“44

Um aber noch einmal grundsätzlicher anzusetzen, lässt sich die fundamentalere Frage, die für diese Arbeit entscheidend ist, nach diesen Aussagen noch gezielter fokussieren: Was sagen Kraatz und Körner nun, dies alles bedenkend, zum Wert des embryonal-menschlichen Lebens? Wie verstehen sie den auch immer wieder angedeuteten unabhängigen „Wert“ der menschlichen Leibesfrucht? Was ist mit der so betonten Achtung und Ehrfurcht, einer doch irgendwie gegebenen Schutzwürdigkeit gemeint? Also kurz gesagt: Gibt es eine Vorstellung vom Status auch der ganz frühen Stadien des Menschen? Wird sie letztlich im Kontext eines solchen Denkens schließlich ebenfalls so irrelevant, wie das Lebensrecht des Ungeborenen gegenüber der zur Tötung bereiten Gesellschaft und ihrer Definitionsmacht?

Der Gesetzgeber in der DDR legt die Zukunft des werdenden Menschen innerhalb eines festgelegten Zeitfensters in die Hände seiner Mutter. Sie kann die Schwangerschaft austragen, oder den möglichen Menschen negieren. Der so verstandene unerwünschte Embryo werde damit aber nicht wertlos, sondern hat weiterhin einen „besonderen Wert des potentiellen Menschseins“45 (freilich eben nur für kurze Zeit – bis zu seinem Tod). So kann auch in diesem Kontext davon gesprochen werden, dass der Konflikt eine wirkliche moralische Spannung in sich trägt: Die Frau muss ihre Entscheidung und ihre Motivation dabei vor ihrem eigenen Gewissen rechtfertigen; diese ist immer ein Einzelfall und begründet damit keine grundsätzliche Relativierung des Wertes des menschlichen Lebens.46

„Die grundsätzliche Überantwortung der Entscheidung für eine mögliche Vernichtung des menschlichen Embryos an die Frau bzw. potentielle Mutter steht grundsätzlich nicht in Konflikt mit der von Anbeginn bestehenden gesellschaftlichen Fürsorge und dem Schutz des gewünschten Lebens.“47

Es ist in diesem Sinne nicht einfach eine völlig undifferenzierte Vorstellungsweise, die hinter den Aussagen der zitierten Autoren schließlich zum Vorschein kommt. Sie erscheint voller Gegensätzlichkeit, Paradoxien und – bei all ihrer schließlich gegebenen eindeutigen Ausrichtung – komplex: So stellen die Autoren den „werdenden Menschen“ in Relation zum Leben der Mutter; sie kritisieren die kirchliche Lehrmeinung, die dem Leben des Kindes einen höheren Wert zumesse als dem Leben der Mutter, als „christliche Perversion“ und meinen umgekehrt, dass im Zweifel immer dem Leben der Mutter Vorrang gegeben werden muss; immerhin bleibt der werdende Mensch bis zu seiner Geburt „anonym“. Von den Dingen, die das Menschsein ausmachen – mitmenschliche Kommunikation, Selbst- und Fremdbewusstsein sowie die Tätigkeit für und gegen andere Menschen – findet sich gemäß dieser Argumentation beim Embryo nur das Fremdbewusstsein, das heißt, das fremde Bewusstsein um ihn. Wertvoll mache ihn nur die „vorgedachte mitmenschliche Existenz“ – die Wunschvorstellung, etwa der Eltern, die aber erst während der Entwicklung im Mutterleib zu einer „sicheren Möglichkeit“ wird.48