Mit schwarzen Flügeln

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4

Die Luft roch nach Karamell und weißer Schokolade. Köstlich und verführerisch wie die feinste Süßigkeit, welche ihn lockte, fort – weit fort – von der Welt. Weg von dem Grau, der Kälte, der Pein des Lebens. Er schwebte davon, hinein in ein glänzendes, warmes Licht. Friede umschloss sein Herz und er wusste, dass das Kämpfen ein Ende hatte. Hier konnte er in Ruhe verweilen.

Und doch ...

Ein Traum. Ein Trugbild seines Geistes.

Dieser Ort war reines Sehnen. Es gab ihn nicht.

Zach öffnete die Augen und fühlte, wie die Tränen rannen. Heiß tropften sie auf das weiche weiße Kissen unter ihm und so sehr die Matratze ihn auch gemütlich bettete, sein Rücken schrie im Moment des Erwachens schmerzlichst auf.

Als wenn das nicht reichte, grüßte ihn eine alte Freundin, die Migräne. Sie fraß an seiner linken Schläfe wie eine Ratte am Stromkabel und für einen kurzen Moment wusste Zach nicht, was ihm mehr wehtat. Er war chronisch reif für den Müll.

Morgens war es immer am schlimmsten.

Seit er denken konnte, begleiteten ihn diese körperlichen Leiden, nur waren sie zu seiner Jugendzeit nicht so stark ausgeprägt. Da hatte er es noch überspielen können, wenn es etwas in seinem Kopf oder Kreuz zwickte, aber mit knapp fünfzehn nahmen die Schmerzen dermaßen zu, dass er mit Anfang zwanzig bereits zu kämpfen hatte, überhaupt aufrecht zu stehen. Gegen Nachmittag flauten die Qualen für gewöhnlich ab, jedoch waren sie stets bei ihm.

Wie seine Depression.

Jeden neuen Tag fühlte er sich noch elender als in der Nacht. Traurig und frustriert.

Wenn er dann diese Träume hatte, wo alles viel schöner und besser war als hier – dann war er kurz davor, sich in den nächstbesten Tod zu stürzen und allem Elend ein Ende zu setzen. Wie oft schon hatte er es satt?

Konnte er nicht friedlich schlafen wie die Frau neben ihn im Bett? Die schien noch nicht einmal ein Bombenhagel wecken zu können, so tief war sie im Traumland versunken. Nackt – wie er selbst – lag sie unter der dicken Daunendecke und ihr langes, rostrotes Haar war ganz wirr. Anscheinend war sie völlig fertig von ihm.

Zach setzte sich gezwungenermaßen auf und stöhnte leise, während er versuchte, die wichtigsten Dinge in seinem Kopf zu organisieren.

Wo war er? Offensichtlich im Hafen, in einer bekannten Dachwohnung.

Wer war bei ihm? Alicia, die er noch für die Nacht bezahlen musste. Dass sie ihren Job gut gemacht hatte, stand außer Frage.

Was hatte er getan? Gearbeitet, definitiv.

Der gestrige Abend war ertragreich gewesen und beim Kartenspiel hatte er viel verdient. Das Geld der Teenager vermehrte sich mit dem der Matrosen, dass hinterrücks gemunkelt wurde, es ginge mit dem Teufel zu.

Was sollte er machen? Er war ein guter Spieler, der fast nie eine Partie verlor – außer, er wollte es so, war unkonzentriert oder vom Alkohol zu stark benebelt. Er riskierte den Einsatz nie zu hoch und wusste mit einer Art inneren Kompass, wann jemand bluffte oder wirklich ein starkes Blatt besaß. Sein Gefühl beriet ihm meist richtig zum Mitgehen, Aussteigen oder All In – fast so, als besäße Zach einen sechsten Sinn für das Pokern.

Weiter im Text ...

Hatte er Ärger gemacht? Dazu war es nicht gekommen. Die Seemänner waren nicht begeistert über ihren Verlust, aber sie suchten auch keinen großen Streit.

Was wurde aus dem Geld? Er hatte es teils versoffen, wie immer. Und da von der Summe noch etwas abfiel und Alicia gerade mal anwesend war, klopfte er bei ihr an und wurde nicht enttäuscht.

Sein Verhältnis zu Frauen stand unter einem ähnlichen Glücksstern wie sein Geschick beim Poker.

Nicht zuletzt, weil er für sein Alter noch ziemlich unverbraucht oder gar gesagt hübsch aussah, gab es keine Hure, die ihn abgewiesen hätte, selbst wenn er nicht ihren Preis zahlen konnte. Seine Qualitäten standen in der Damenwelt des Hafens nicht zur Debatte. Früher wollte Zach einmal Buch führen über die Namen seine Liebschaften, doch als die Liste anfing, sich alphabetisch vorwärts wie rückwärts zu wiederholen, gab er das Unterfangen auf und nahm die Frauen, wie sie kamen.

Die letzte Frage: Wo waren seine Klamotten? Im Raum verteilt.

Seufzend wischte Zach sich über das Gesicht und rieb die müden Augen. Jetzt, wo alles wieder klarer wurde, musste er an Dinge denken, die ihn real beschäftigten, bevor seine Tiefseestimmung die Oberhand gewann, sonst würde er erneut in Tränen ausbrechen. Vor Alicia wollte er diese Schwäche ungern zeigen.

Was sagte das Wetter?

Das kleine Fenster seitlich vom Bett berichtete ihm, dass es noch dunkel draußen war. Leichter Schneegriesel fiel. Der Wind pfiff heulend über das Dach und außerhalb des warmen Bettes herrschte die Kälte.

Ein normaler Mann hätte sich wieder hingelegt, die Frau in die Arme genommen, sie geküsst und zu einer weiteren Runde Zweisamkeit verführt – und Alicia hätte sicher nicht nein gesagt.

Doch er war nicht normal.

Zach stand zähneknirschend auf, suchte nach seiner Unterhose und der schwarzen Wildlederhose und zog beides an. Als er sein Unterhemd und den dunkelgrauen Pullover überzog, warf er einen genaueren Blick über die Stadt.

Der frühe Tag dämmerte blau im Osten. Bald würde die Sonne aufgehen. Das Hafengebiet lag still und schlafend unter einer dünnen Schneeschicht, der Himmel war fast klar und die Sterne verblassten langsam. Knapp über dem Mond leuchtete der Morgenstern.

Die Zeit schätzte Zach auf ungefähr fünf Uhr. Die Stunde null war lange um und die Geister der Dunkelheit zogen sich zurück. Er hob seinen Gürtel mit dem Messer vom Boden auf und legte es sicher an.

Alicia drehte ihren kurvenreichen Körper im Schlaf.

Er legte einige Scheine für sie auf die Kommode, klaute drei Zigaretten aus ihrer Schachtel und verließ so leise wie es ihm seine Stiefel erlaubten das Zimmer.

Mit hochgeschlagenem Kragen trotzte er dem Frost der Nacht. Die Flocken verdichteten sich und die Wolken zogen den Himmel zu. Das gewohnte Wetterbild der Nordstadt.

Der Weg nach Hause dauerte seine Zeit. Alicia wohnte nicht gerade in seiner Nähe, weswegen er sonst selten mit ihr anbändelte, egal, wie schön sie war.

Zach stoppte. Seine Augen wurden groß.

Vor ihm auf der Straße bewegte sich etwas. Ein Tier.

Ein Hund. Ein Streuner auf Futtersuche.

Rasch öffnete Zach seinen Mantel und zog das Messer. Den Griff hielt er fest, damit er seinen zitternden Fingern nicht entglitt.

Der Hund trottete zottig und hager an ihm vorbei, mit hängendem Kopf und sicherem Abstand.

Vielleicht hatte der verlauste Köter mehr Furcht vor ihm als Zach, dennoch war dem der Schrecken tief in die Knochen gefahren, dass er sogar seine Schmerzen vergaß. In seiner kindlichen Angst hatte er schon die Hörner wachsen sehen.

Er schaute dem Streuner nach, bis dieser in der Dunkelheit verschwand. Ein ganz normaler alter Hund, der irgendwann an Hunger krepieren würde – nichts weiter.

Durchatmend löste sich Zach von seiner Anspannung und steckte das Messer weg. Zog den Mantel zu.

„Blödes Vieh“, murrte er halblaut, mit einem leichten Zittern in der Stimme, dem Hund nach und wandte sich ab, um seinen Weg fortzusetzen.

„Verdammter Eisengrind“, fluchte er derber und trat zornig gegen eine Schneewehe, „lass mich endlich in Ruhe!“

Seine Nachbarn weckten ihn. Erstaunlicherweise mit ... Liebe.

Das rhythmische Gestöhne kannte er zwar, allerdings war er wenig begeistert, in die Rolle des ungewollten Voyeurs gepresst zu werden. Stille war ihm wesentlich angenehmer und er mochte diese albernen Anspornsprüche nicht.

Schnaufend verdrehte Zach die Augen. Er brüllte mal nicht los. War ja nur menschlich und immer noch besser als ihre Streiterei.

Er hätte es auch so haben können, aber nein. Lieber versuchte er allein vergeblich in seinem Loch von Zuhause etwas zu finden, was es nirgends in dieser Welt gab. Wenn jemand dieses Gesuchte beim Namen nennen könnte, wäre ihm besser geholfen gewesen. Es war halt eben bloß das Gefühl, dass etwas fehlte.

Eine Leere im Herzen.

Zach stand von der Matratze auf, warf seinen Mantel über und verließ das Haus.

Für die Kneipentour war der Tag noch zu jung.

Dabei fühlte er sich so alt, wie nach jeder durchzechten Nacht.

Sein verquerter Schlafzyklus machte ihn müde und schlaff, unkonzentriert und leichtsinnig. Das Rückgrat schmerzte zwar nicht mehr in der Form wie noch am Morgen, doch spürte er die Verspannung – besonders hartnäckig im rechten Schulterblatt. Wegen der Migräne taumelte sein Gleichgewicht und Zach wankte wie trunken durch die Gassen.

Bis zur Nacht musste er seinen Körper in den Griff bekommen, sonst wäre er leichte Beute für die Aasgeier des Hafens.

Hungrig holte er für seinen Magen zwei schnelle Bockwürste mit Brötchen auf die Hand bei einem fahrenden Händler und ein Starkbier zum Wachwerden bei Roxane im Getränkedepot bei Dock Vier. Dort traf er einige bekannte Gesichter an.

Die Dox-Brothers waren fünf immer zusammenhängende, bullig gebaute Kerle und Schläger für jede Gelegenheit. Die Werften heuerten sie gelegentlich für ihre Raufereien an. Er grüßte sie knapp mit einem Nicken und sie gaben es ebenso knapp zurück.

Lili Kit-Cat galt als Saufnutte und hatte ellenlang Kredit bei Roxi – sie war quasi schon Inventar. Sie zu grüßen hatte keinen Sinn. Ihr schwammiges Gedächtnis würde eh nicht mehr wissen, wer er war.

 

Walther war ein Halsabschneider, den Zach verachtete. Um des Friedens willen ignorierten sich beide.

Wenn es doch zu einer Schlägerei käme, würden ihm dann die Dox helfen? Bestimmt nicht, er hatte nicht für sie gezahlt.

In schlechten Zeiten merkte man doch angeblich, wer seine echten Freunde waren. Freunde in der Not, wo waren sie sein Leben lang geblieben?

Wohl in der Gerüchteküche eingekocht, denn diese Illusion von Freundschaft oder Liebe gehörte in die Welt der Kindermärchen, um ihnen noch etwas Hoffnung zu schenken, dass alles einmal besser werden könnte. Kleine Kinder glauben daran und stellen später fest, dass jeder Mensch im Grunde allein war. In diesem Moment starb die Unschuld.

Was soll’s ... allein war er am besten dran.

Zach entkronte sein Bier und nahm einen kräftigen Schluck, um gleich danach an seiner brennenden Zigarette zu ziehen.

Ja, das Alleinsein und -bleiben hatte er gut gelernt, danke an seine Zieheltern. Wenigstens etwas Nützliches hatten sie ihm beigebracht.

Er nahm noch einen Schluck. Betäubte sein Hirn, bevor es wieder zu viel nachdachte.

„Royal Flush“, offenbarte Zach am Abend seine Karten in einer anderen Destille.

Die Seemänner am Tisch machten große Augen und der letzte Matrose, der seinen Einsatz gehalten hatte, warf derb fluchend seine „Straße“ in die Luft.

Die Karten segelten zu Boden wie draußen die Schneeflocken.

„Das ist doch nicht möglich, verdammt! Nicht schon wieder! Wie viel Glück kannst du verlauster Hurensohn eigentlich haben, hä?“, brüllte der Schiffer durch den Raum, dass umstehende Gäste der Bar anfingen, sich für die Szene zu interessieren.

Zach steckte die gewonnenen Scheine ein und zuckte lässig die Schultern. „Willst du behaupten, ich betrüge?“

„Ja, das tu ich! Du Schweinehund hast mir entschieden zu oft ein gutes Blatt!“

„Was bin ich für ein Glückspilz“, war er von der Aggression seines Gegenübers wenig beeindruckt.

Schon schob der Seebär mit einem kräftigen Ruck den Pokertisch beiseite und wollte nach Zach greifen, ihn mit geballter Rechten treffen, aber der war flink aus der Reichweite des Hitzkopfs entkommen.

Sein Messer ließ er stecken – bei so einer kleinen Kneipenfehde musste kein Blut fließen. Dennoch ging Zach zum Angriff über, packte das Handgelenk des Mannes, zog ihn zu sich und rammte seine Faust in dessen Magen.

Der Matrose keuchte auf, beugte sich vorn über, da traf Zach ihn hart mit seinem Ellenbogen im Nacken. Das schickte ihn auf die Planken.

„Noch jemand?“, fragte Zach in die Runde, jedoch muckte niemand auf. Die Schaulustigen drehten sich wieder ihrem Bier und Schnaps zu und die Seefahrer hoben ihren Kameraden vom Boden auf, um kleinlaut zu verschwinden. Auch der Wirt wetterte nicht über den Gewaltausbruch und wischte weiter ruhig seine Gläser blank.

Zach stellte den Tisch wieder an seine ordnungsgemäße Stelle und hob die Karten auf. Keiner beobachtete ihn dabei oder machte eine scherzhafte, geschweige denn abfällige Bemerkung.

Bald schon zeigte sich ihm ein einladender Busen und Carmen stand ihm gesellig zur Seite. Die schöne Blonde würde er heute Nacht mitnehmen.

Wiederholungsschleife.

Sein ganz normaler Alltag.

5

Noch zwei Nächte mussten geschlagen werden, bevor das Hafengesindel mit seinem Aberglauben und der Angst aufhörte und ruhiger in das neue Jahr einging. Noch zwei Nächte, in deren Schatten Dämonen lauerten.

Beim Gedanken daran seufzte Zach sehnsüchtig. Schließlich wurde es langweilig, sich nur auf die naheliegenden Bars zu spezialisieren. Irgendwann war die Kundschaft halt aufgebraucht und die Stammgäste hatten keine Lust mehr, ihr Geld an ihn zu verlieren.

Diese Nacht begann recht mager am Pokertisch, weswegen er schon beim Skat oder Black Jack miteinstieg, um etwas zu verdienen. Wie ein Fisch auf dem Trockenen wollte er nicht enden – der Schnaps zwinkerte ihm bereits aus dem Regal zu.

Gerade hatte er wieder ein kleineres Spiel gewonnen und ein paar Münzen erbeutet, da meinte ein Bekannter, ihm das Geschäft vermiesen zu müssen.

Ob beabsichtigt oder nicht, es war Linus, der Schnüffler. Dessen Arbeit lief wohl besser als seine, denn er war zu der frühen Stunde schon recht gut angetrunken. Mit einer offenen Flasche kam er zu ihm geschwankt und drückte ihn, als sei er sein allerbester Kumpel, wobei einige Tropfen Wein über die Tischplatte spritzten.

Fein, aber es war überflüssig, dass er halb vernuschelt laut brüllte: „Ey, Zachy, al’er Falschspieler! Kollege, ich freu mich, dich su seh’n! Wen hasste denn heut’ übern Tisch gezog’n?“

„Ich zieh dich gleich, Idiot!“, fluchte Zach ihn derb an und packte den Trunkenen am Kragen. „Versau mir gefälligst nicht meinen Ruf, Linus, ich spiele fair!“

„Oi joi“, lallte der Mann, „hast ’n schlechten Tag? Ich wollt ein’ mit dir trinken!“

Unter anderen Umständen wäre Zach darauf eingegangen, jedoch war seine Stimmung zu mies, um mit dem Kerl abzuhängen.

„Dann merk’s dir für ’nen anderen Tag, ich hab was gegen Schwätzer!“, blaffte er und stand auf. Wegen dem Spürhund musste er jetzt notgedrungen den Standort wechseln. Mit einem „Falschspieler“ würde sich hier und heute niemand mehr anlegen. Es blieb zu hoffen, dass morgen nach viel Alkohol keiner mehr davon wusste.

Linus fiel wie ein nasser Sack auf seinen Sitz und schmollte. „Bist ’n Arsch, Zachy. Ma will man su dir nett sein, weil du immer so traurig guckst und dann so was. Schieß in ’n Wind!“

Zach knirschte mit den Zähnen. Der Typ konnte froh sein, dass er dicht war, sonst hätte er ihm eine gelangt. Außerdem brauchte er nicht noch mehr Leute, die ihn hassten.

Ohne Kommentar verließ Zach die Spelunke.

Die Kälte fuhr ihm draußen in die Knochen und er hechtete rasch die Gassen entlang, stets ein Auge auf die Seitenwege gerichtet. Immer auf der Hut vor Gefahren.

Er ging vorbei an der Tür der „Goldbrasse“, ein Art Sushi-Restaurant im Hafen, das der Meido-Gang gehörte. Eigentlich zählte es nicht zu seinem Netzwerk, aber er wusste, dass die Asiaten dort drin gern mit Mah Jongg hoch spielten.

Hier lockte guter Gewinn.

... Trotzdem, besser nicht mit den falschen Leuten anlegen, riet ihm sein Bauchgefühl und er ging weiter.

Etwas raschelte.

Zach fuhr herum.

Nichts zu sehen, außer der Schnee und die Nacht.

„Ratten“, murmelte er zu sich selbst. Die Dunkelheit versteckte nichts. Nur Ratten.

Eilig setzte er den Weg fort.

Bleib nicht zu lange im Freien.

Die neue Destille prahlte mit einer üppigen Dekoration aus blanken Fischgebeinen und irgendein Scherzbold hielt es für klug, Harpunen in die Wände zu feuern, wo sie als Kleiderhaken Verwendung fanden.

Die Blicke der Belegschaft richteten sich sofort auf Zach, kaum, dass er durch die Tür trat. Man musterte ihn von Kopf bis Fuß und wer ihn nicht unbekannterweise für einen Grünschnabel hielt, wusste, wer er war. Etwas Groll wurde im Stillen wohl gehegt, doch er war ja nicht hilflos.

Zach hielt es für besser, sein Messer griffbereit zu haben.

Er schaute zu den Spieltischen und suchte einen Platz zum Einsteigen, da rief ihn wieder jemand beim Namen: „Zachy!“

Wie ich den Winter hasse, dachte Zach und rollte die Augen. Nirgends ein Ort, wo er keine Bekannten traf. Wenn sie doch nur diese Verniedlichung lassen könnten.

„Lange nicht gesehen, Zachy, mein Hübscher“, klang die Stimme fröhlich turtelnd und sie gehörte einer schwarz gelockten, drallen Dirne. Üppig in ein Kleid aus blauem Satin und Spitze gepackt, glänzen an ihren Fingern goldene Ringe und die lackierten Fingernägel wirkten wie exorbitante Krallen. Ihr rundes Gesicht war dick mit Schminke belegt, die ihr Alter kaschieren sollte.

Sweet Molly war vielleicht nicht mehr ganz frisch, aber ein jeder schätzte ihre Qualitäten als hervorragende – wenn auch kostspielige – Gesellschafterin. Sie hatte viele Freunde in hohen Positionen im Hafen und verfügte über bemerkenswerte Kontakte, dass sie es nicht mehr nötig hatte, auf Freiersuche zu gehen und dem mehr wie einem Hobby frönte. Mit ihren Erfahrungen half sie jungen Mädchen – auch jenen, die aussteigen wollten – was sie insofern zu einer Gildenmeisterin machte.

Und sie war Zachs älteste Freundin. Seit er in diese Stadt gekommen war, hatte sie über ihn gewacht und früher mehr als einmal sein Leben gerettet. Ohne sie läge er vielleicht schon längst im Kanal.

„Hi“, grüßte er sie kurz, während sie ihn überschwänglich umarmte und links wie rechts mit Küssen eindeckte. Er ließ es über sich ergehen, obwohl ihm das starke Parfum der Frau unangenehm im Hals und der Lunge kratzte. Deshalb hielt er die Luft an.

Irgendwie hatte Zach schon immer seine Probleme mit Duftwässern aller Art und benutzte daher selber nie eins – noch nicht mal ein schlichtes Deo. Sicher war er gegen eine Chemikalie allergisch.

Molly löste sich von ihm und knuffte seine Schulter.

„Und, schöner Mann, auf der Suche nach Spannung und Spiel?“, schätzte sie ihn richtig ein.

„So ziemlich, der Abend will nicht laufen. Hab leider nicht mal die Knete, um dir einen Drink auszugeben“, sagte er es ihr gleich deutlich, denn er wusste, wie viel Molly für ein paar Stunden kostete. Um sie zu unterhalten, reichte eine Flasche Brandy nicht aus.

Sie lächelte keck. „Nun, dann hast du vielleicht Interesse an einer Glücksfee?“

„Hast du einen Tipp für mich?“, horchte Zach auf.

Molly nickte in Richtung eines Hinterzimmers. „Dort gibt es fette Beute. Aus der Innenstadt sind gewichtige Bonzen gekommen, die um richtig große Kohle spielen. Willst du dein Glück versuchen?“

„Was willst du als Gegenleistung?“, durchschaute er sie schnell.

Schnaufend ließ Molly ab von ihrer mädchenhaften Seite, die sie sonst für ihre Geschäfte nutzte, und wurde mehr zu einer strengen Mutterfigur als zur Liebschaft.

„Gegenleistung – ha! Da denke ich mal an dich und du unterstellst mir etwas.“

„Liege ich damit falsch?“, neckte Zach sie weiter.

„Um dich mal wieder an die Angel zu kriegen? Halte dich nicht für so unwiderstehlich, Kleiner. Sei froh, dass du noch so ein süßes Gesicht hast, es bleibt nicht für ewig. Die jungen Dinger werden dir nicht mehr so treu die Stange halten, wenn du erst mal in mein Alter kommst.“

„Frag mich in dreizehn Jahren noch mal ...“, zuckte er gleichmütig die Schultern.

Jetzt zwickte sie ihn in die magere Hüfte und wetterte: „Ach, so dankst du mir also meine lange Aufopferung für dich? Mit Spott! Womit hab ich das verdient?

Wer hat dich damals unter seine Fittiche genommen, als du Milchbart halb verhungert und scheintot in der Gosse lagst?“

„Du“, seufzte er.

„Wer hat dir alle Tricks und Kniffe gezeigt, um hier zu überleben?“

„Du.“

„Wer hat deinen Arsch aus der Schlinge gezogen?“

„Du.“

„Und wer bietet dir stets in so einer kalten Nacht ein warmes Bett an?“

Nun konnte er ein verschmitztes Lächeln nicht mehr unterdrücken und Zach zählte auf: „Das wären Abbie, Adele, Alicia, Anja, Arianne, Babette, Beatrix, Bernice, Blanche, Carmen, Carrie, Cécile, Cloe, Colett, Cosima, Daisy, Darlene, Desiree, Donna -“

„Ich auch, du Dummkopf!“, rief Molly barsch und gab ihm einen Klaps gegen die Stirn.

„He, he, he“, lachte er über seinen eigenen Witz, „ich war noch nicht bei M, Molly.

Aber ich versteh schon. Ich stehe knietief in deiner Schuld und das seh ich auch ein. Sollte ich dort hinten den großen Fang machen, lade ich dich gern auf alles ein, was du dir wünschst und bitte dich um Entschuldigung.“

„Na bitte“, war sie zufrieden. „Warum muss ich erst böse mit dir werden, mein Süßer?

Dann folge mir mal unauffällig.“

Auf ihr Lotsen hin, tat er wie geheißen.

Im Hinterzimmer stand der Zigarrenqualm. Vor lauter blauem Dunst fiel es Zach schwer, die fünf Männer am Tisch klar zu erkennen, doch je näher er kam, umso deutlicher wurden sie.

Graue Herren in teuren Anzügen. Vier trugen ihre Wohlstandswampen vor sich her, der einzige Hagere machte einen intriganten Eindruck.

Wer sie waren oder wo sie ihre Finger in der Politik hatten, juckte Zach nicht im kleinen Zeh. Er hatte allein Augen für den Berg von Scheinen, den jeder auf seiner Seite hatte.

 

Molly hatte nicht gelogen. Das Geld, das er hier abgreifen konnte, würde bis zum Monatsende reichen, um jeden Tag gut zu leben, sich grenzenlos besaufen zu können und mit den teuersten Huren zu gehen.

Die Männer registrierten den Neuzugang und ein Dickbauch fragte, mit der Zigarre zwischen den Zähnen, nach: „Wer ist der Bursche?“

Bursche.

Zach lachte in sich hinein. War klar, dass sie ihn für einen Jungspund hielten. Gut so, dann kannten sie ihn noch nicht.

„Ein guter Spieler“, stellte ihn Molly liebäugelnd vor. „Und ein Schäfchen meinerseits. Ihr könnt ihm vertrauen.“

Der Hagere feixte. „Vielleicht. Aber dieser Kerl sieht aus, als hätte er nicht mal einen Schein in der Tasche. Der kann niemals den Einsatz halten.“

„Werden wir seh’n.“ Zach setzte sich selbstsicher auf einen freien Platz am Tisch und kramte die wenigen Scheine hervor, die er bisher verdient hatte. Dazu kamen noch die Uhren und Ketten von den Teenagern, die er nicht verpfändet und als eiserne Reserve aufgespart hatte. Zuletzt zog er flink sein Messer und rammte die Spitze in die Holzplatte.

Molly sah etwas vorsichtig drein. Wenn er sein Messer verwettete und verlor, war er schutzlos. Er hätte gleich sein Leben in die Waagschale werfen können.

Erneut grinste der Hagere und sagte: „Na ja, besser als nichts.

Willst du alles im ersten Spiel setzen?“

„Klar“, blieb Zach gelassen.

„Das wird eine kurze Runde“, verhöhnte ihn ein dicker Anzug.

Nein, das wird leichtes Spiel.

„Jeahaw!“, jubelte er mit Molly laut im Chor, als sie gegen vier Uhr morgens aus der Bar stolperten.

Die Bonzen hatte Zach ausgenommen wie die sprichwörtliche Weihnachtsgans, bis die fluchend und zornig keinen kleinen Schein mehr zur Verfügung hatten und geschlagen das Weite suchten. Sie drohten zwar, dass es ein Nachspiel gäbe, aber keiner der beiden glaubte wirklich daran.

Das Geld gab Zach mit vollen Händen aus, erst bei einer Lokalrunde und dann für das eigene, besser gesagt Mollys Wohl. Die Getränke wurden reichlich bestellt, bis beide sturzbetrunken waren und beinahe vom Hocker stürzten.

Von innen gewärmt, mit einer vollen Flasche Bourbon in der Hand, torkelte Zach vorwärts und ließ sich von Molly zu ihrer Bleibe führen. Der Gedanke an das Frühstück bei ihr ließ ihn breit und freudig grinsen, denn keine Frau kochte einen so herrlichen Kaffee wie sie.

Den Tag mit ihr zu verbringen, war keine Hürde und wenn die Nacht schließlich wieder von vorn begann, wäre er ...

Ja, was wohl. Das gleiche wie immer.

Zach fing leise an zu lachen. Seine Lache steigerte sich und er wankte mit jedem Schritt mehr und mehr, dass Molly Probleme bekam, ihn zu halten.

„Ey, was is’ denn?“, fragte die Freundin, da verloren sie auch schon beide den sicheren Stand und taumelten, stürzten halb kniend, halb liegend in den Schnee und Hafendreck. Klirrend zersprang die Glasflasche und ihr goldgelber Inhalt vermischte sich mit der stinkenden Hundepisse.

Zach ließ sich ganz nieder und lachte glucksend, wobei es ihn anscheinend nicht störte, dass seine rechte Hand wegen der Scherben etwas blutete oder er seine Kleidung einsaute. Kälte, Gestank und Nässe bekam er in seinem Rausch nicht mit. Und obwohl er bereits nach Atem schnappte, lachte er weiter wie ein Verrückter.

Auch Molly kicherte etwas und rappelte sich auf. Sie klopfte die Flocken von ihrem falschen violetten Pelzmantel und sprach zu ihm hinab: „Bist auch fertig? Komm schon, Zach, steh auf. Du erfrierst noch, wenn du so lieg’n bleibst.“

Er legte seine blutige Hand auf die Augen. Sein Lachen schwächte ab und es klang mehr und mehr wie ein gequältes Schluchzen. Sein Brustkorb zuckte unter den unregelmäßigen Atemzügen und Molly sah, wie ihm Tränen über die Haut rannen.

„Du weinst?“, fragte sie mütterlich im Ton und hockte sich mit aller Fürsorge und Liebe, die sie empfand, zu ihm. „Du bist kein Mann, der einfach so weint.

Was bedrückt dich? Hat dich ’n Geist verfolgt?“

„Is’ nichts, is’ ...“

Langsam richtete Zach seinen Oberkörper auf und versackte schlaff und schwankend in einer sitzenden Position. Mit dem Ärmel wischte er sein Gesicht ab und versuchte, die Mundwinkel oben zu behalten, um seine klägliche Maske nicht zu verlieren.

„Ich erinnere mich bloß ... was sie damals alles sagt’n ... und heute gehöre ich zu denen, mit denen ich früher nie spiel’n durfte. Bin so verkomm’, wie sie es nie wollt’n ...

Is’ zu spät für mich, um umzudreh’n und alles rumzureiß’n. Kann nichts mehr ändern und alles is’ dasselbe. Jeden Tag der gleiche Mist. Jede Nacht. Jeden Morgen. Wozu überhaupt? Ich geh auf die vierzig zu und weiß nicht, wofür es gut sein soll. Da wünsch ich mir fast ...“, er hob zwei Finger an den Kopf, „irgendwer könnt’s tun“, drückte den imaginären Abzug, „Peng!“ und fiel zurück in den Matsch.

„Is’ der Schnaps, Zachy“, winkte Molly seine Rede leger ab und versuchte es zu umgehen, dass er ihr hier, in diesem Dreck, sein Herz ausschüttete. „Das geht uns allen mal so.

Was hab ich denn gepackt? Mit meinen fünfzig? Hab auch nur meinen Arsch hingehalten und alles ertragen. Was is’ Leben? Das Leid ertragen. Jeden Tag von Neuem.“

„Kennst du das Gefühl, nirgendwo hinzugehören? Nirgendwo dazuzupassen, als sei kein Platz für dich da? Oder so, als wär’ das nicht deine Welt und du müsstest ganz wo anders sein, aber du kommst weder dahin, noch weißt du eigentlich genau wohin ...“

Er schaute hinauf in den Himmel. Sterne blitzten durch die Wolkenfetzen hindurch und ihr Licht blendete ihn fast.

„Wenn ich wüsste, wohin ich gehör’, wär’ ich nicht mehr hier. Bin aufm falsch’n Planeten gestrandet. Hier fehlt mir etwas. Es is’ nicht da, obwohl es da sein sollte ... und ich vermisse es so sehr.“

„Und was is’ dieses Etwas?“

Er fuhr wieder hoch und motzte: „Scheiße, woher soll ich das wiss’n? Vielleicht is’ es dasselbe Etwas, weswegen mich jeder zum Reihern findet, gottverflucht!“

Sie schnipste ihm mit dem Finger gegen die Stirn. „Fluche nicht auf den Herrn!“

„Ich fluche auf den, so oft ich will!“, reagierte er weiterhin gereizt, während sie versuchte, ihn vom Boden hochzuziehen.

„Der Herr kann nichts für dein Unglück. Oder deine Unzufriedenheit mit deinem Leben. Er hat’s dir nur gegeben, was du daraus machst, is’ deine Sache. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, Zach, und wenn du so schwach bis und lieber sterben willst, dann musst du’s tun. Willst du leben, lebe und mach das Beste draus. Willst du etwas ändern, ändere es. Doch tot kannst du’s nicht mehr beeinflussen, also beschwöre ich dich zum Leben!“, wusch Molly ihm tadelnd den Kopf.

Er hörte ihr zwar zu, doch glaube nicht an ihre Worte. Es war ja nicht so, dass er es nicht versucht hätte. Rückblickend war sein Leben eine Reihe von Fehlschlägen.

Beide taumelten die Gasse entlang und ihm stieß der Alkohol sauer auf.

„Musst du kotz’n?“, fragte Molly direkt. „Wäre vielleicht besser, damit du bei mir wieder fit bist. Ich fänd’s blöd von dir, wenn du einpennst.“

„Bin fit, ich pack’s schon noch ...“

„Dein Wort in Gottes Ohr“, betete sie.

Zach verzog mürrisch das Gesicht. „Also echt mal. Steht der Penner jetzt zwischen uns oder was?

Scheiß auf Gott.“

Molly gab ihm noch einen Klaps. „Ich will nicht, dass du auf den Herrn fluchst!“

„Heilige Scheiße ...“

„Zach!“

„Arrgh ...“