Mit schwarzen Flügeln

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Das Neujahrsgeschäft boomte. Die halbe Nordstadt schien auf den Beinen, um Geschenkgutscheine einzulösen oder die letzten verhassten Weihnachtgeschenke umzutauschen. Die Menschen rempelten und schubsten, wenn es ihnen nicht schnell genug voranging. Überall war ein Rufen und Schreien zu hören, ein Stimmengewirr aus verschiedenen Tönen, welches in Zachs Ohren schallte.

Das ist ja das reinste Irrenhaus hier.

Normalerweise mied er die Innenstadt und deren ganzen Trubel, aber wegen des Verhörs musste er kommen, sonst wären die Bullen mit anderen Mitteln bei ihm einmarschiert, statt bloß eine nette Anfrage zu stellen.

Das hatte er nun davon, dass er sich in den Tod von Old Harry reingehangen hatte: Ärger, Stress und eine Wut im Bauch, die ihn sauer aufstoßen ließ. Klar, er hätte darauf wetten können, dass er unter Tatverdacht geriet – nicht zuletzt wegen seines Messers –, dennoch machte es ihn rasend, dass die Typen von der Polente jeden Bewohner aus dem Hafen über ein und denselben Kamm scherten.

Gut, ganz zu Unrecht geschah dies nicht.

Es gab aber solche und solche. Es gab die Killer mit Stil und die ohne Stil. Und Zach hatte gefälligst eine ganze Menge Stil.

Ach, was soll’s ...

Old Harrys letzte Reste ruhten jetzt in einer kleinen Urne bei seiner Hure auf dem Küchenschrank, und das ermöglicht zu haben, stellte Zachs Gewissen zufrieden. Wie versprochen würde er sich nun aus jedem Ärger raushalten, der ihn nichts anging, bis die Rauchnächte um waren.

Ein weiterer Windstoß blies ihm Kälte ins hagere Gesicht und ließ seine braunen Augen tränen. Die verwinkelten Straßen in seinem Blickfeld verschwammen und Zach blieb kurz stehen, um die Sicht frei zu wischen. Fußgänger in dicken Wolljacken und mit Fellmützen schlängelten sich an ihm vorbei.

Ja, in der Nordstadt war es kalt. Und im Winter sogar verdammt kalt.

Ungern streckte man die Nase zur Tür hinaus. Ein paar wichtige Besorgungen machen, einige Wege gehen, seine Arbeit tun – gut und schön, doch der liebste Flecken Erde war dem gemeinen Nordbürger an der warmen Heizung, unter einer kuscheligen Zudecke, mit einem Glühwein oder Tee in der Hand, vor dem Fernseher. Sofern man sich diesen Luxus leisten konnte.

Wenn nicht, zog der Frost an allen Ecken und Enden, pfiff durch den kleinsten Türspalt, jeden Riss im Putz. Nicht selten starben Obdachlose und herrenlose Tiere den Kältetod.

Im Hafen gab es sogar die Regel, dass, wenn einer etwas Unliebsames – zum Beispiel eine Leiche – verschwinden lassen wollte, solle er den späten Herbst abwarten, das Ding im Meer oder beim Kanal versenken und den Winter drüber wachsen lassen. Wenn schließlich im April langsam das Tauwetter einsetzte, hätten die Fische den Kadaver zerknabbert und die Polizei fände bloß noch unbrauchbare Reste.

Zach wollte nicht wissen, wie viele Tote jetzt unter dem Eis der Bucht lagen.

Um die kalte Jahreszeit rum verschwanden viele Menschen von den Straßen, aber im Allgemeinen galt, wer es bis zum Dreikönigstag schaffte, hätte ein weiteres Jahr dazugewonnen. Noch vier Nächte waren zu schlagen, eh dieser ganze Spuk vorbei war.

Es war nicht leicht, in dieser Stadt zu überleben und erst recht nicht im Hafen.

Zach beklagte sich jedoch nicht. Er hatte es so gewollt und war bereit, dieses Dasein in Kauf zu nehmen, als er mit vierzehn weggelaufen war. Bei Patrick und Ines hatte er es schlicht nicht mehr ausgehalten.

Mit weiten Schritten hielt er auf die nächste Straßenbahnhaltestelle zu, um zurück in die Absteige zu fahren, welche er dem Polizisten als sein Zuhause verkauft hatte.

Da bemerkte er vor einem der vielen Kaufhäuser einen alten Mann mit verfilzten, grauen Haaren und wettergegerbtem Gesicht. Dick war der Alte in die verschiedensten Arten von Kleidung eingehüllt, während er kniend und stumm eine milde Gabe erbettelte.

Die Leute hetzten an ihm vorbei, telefonierten, schwatzten, beachteten ihn nicht. Beinahe wäre sogar jemand über den Greis gestolpert.

Die Nordstadt war kalt.

Zach blieb mit hängendem Kopf stehen und seufzte. Er zündete sich eine Zigarette an, kramte nach den letzten bisschen Geld in seinen Taschen, das er besaß, ging zu dem Alten und warf es in seinen Pappbecher.

Mit trüben Augen schaute der Mann auf und dankte ihm aufrichtig mit einem zahnlosen Lächeln.

Ein wenig Buße für die Schwachen, das hatte sich Zach geschworen. Weil er nicht böse sein konnte. Nicht gegenüber Menschen, die wehrlos waren.

Seine Laufbahn als Krimineller begann nach seiner Flucht. Schließlich hatte er essen müssen und dafür brauchte er Geld. Er stahl ein Taschenmesser und plante, damit die Schwachen zu erpressen. Sein erstes Opfer sollte eine dürre Großmutter sein. Doch ihr Zittern und Flehen hatte ihn weich gemacht und er ließ es bleiben. Dann wollte er Obdachlose wie diesen Alten berauben – und brachte es nicht über sein Herz. Nein, er beschützte sogar die Armen von anderen, die Ähnliches vorhatten.

Den Mächtigen konnte er etwas antun, aber nicht den Machtlosen. Das war sein Stil.

Bis heute war er der Killer mit Stil. Der mit der scharfen Klinge.

Zach the Knife.

Die Kleinkriminellen im Hafen fürchteten seinen Namen und auch viele große Bosse hatten vor ihm Respekt. Er galt in seinem Job als verlässlich. Gewissenhaft. Fair. Ehrlich. Seltene Charakterzüge im Untergrund.

Ha. Dabei war es mehr als töricht, in dieser Stadt einen Namen – geschweige denn einen Ruf! – zu besitzen. Namen konnte man folgen und sie lockte Feinde an. Zu dumm, dass die Menschen ihm keine Angst machten.

Jetzt hatte er zwar kein Geld mehr, aber erwischte noch seine Bahn, die ihn näher in Richtung Hafen führte. Er fuhr ohnehin immer schwarz. Sich auf einen freien Platz setzend, strubbelte er das Eis aus seinen nussbraunen Haarsträhnen und rieb die stoppelkurzen Seiten warm, während die Bahn unter kreischenden Schienen losfuhr.

Häuser und Menschen zogen an ihm vorbei. Sein Gesicht im Fensterglas blickte ihn genauso leer an wie früher. Aus dem stumpfen Kind war ein ebenso stumpfer Mann geworden. Freude und Liebe hatten seinen kleinen Geist nicht bereichern können – wieso sollte es bei dem großen anders sein?

Der Winter kam und ging.

Essen, schlafen, wachsen, vergehen.

Immer der gleiche Albtraum, Tag für Tag. Das nannte sich sein Leben.

Warum hatten die Verfluchten nur so ein Glück?

3

Das Läuten der Bojen empfing Zach, als er der Straßenbahn entstieg.

Die Tram hielt im Außenbezirk der Nordstadt, nah am Meer, wo die sehr einfachen Bürger und Fabrikarbeiter lebten – wenn überhaupt, denn der Großteil der baufälligen Häuser stand leer.

So nah am Kanal liegend, roch die Luft salzig und nach faulem Fisch, vermischt mit dem Ruß- und Gummigestank der laufenden Industrien, deren schwarze Wolken in den verhangenen Himmel aufstiegen, nur um als dreckiger Schnee wieder niederzuschlagen.

Das starke Duftgemisch, welches ungewohnte Nasen umhauen konnte, registrierte Zach schon gar nicht mehr, während er den Weg über die Eisenbrücke einschlug.

Drei Stück dieser Stahlkonstruktionen verbanden das Hafengebiet mit dem Festland.

Das Viertel selbst war eine künstliche Insel, teilweise schwimmend auf Pontons oder stehend auf Säulen. Wer am Pflaster kratzte, fand keinen Krümel Erde.

Für die großen Frachtschiffe und Öltanker waren fünf Anlegestellen eingerichtet, komplett mit der dazugehörigen Werft.

Der Konkurrenzkampf war hart bei den raubeinigen Schiffsbauern. Wer anderen die Kundschaft stahl oder Aufträge fälschte, riskierte sein Leben. Ganz extrem wurden die Straßenschlachten geführt, bei denen man besser nicht in die Fronten geriet.

Für das Wohl der Bewohner wurde überraschend anständig gesorgt. In heruntergekommenen Lagerhallen konnte jeder frische Lebensmittel erstehen, wenn er das Geld hatte, und bei den Gangs kam man durch Beziehungen auch an illegale Waren ran. Krämer verkauften billigen Plunder von kurzer Gebrauchsdauer und wer wollte, konnte die Nächte in den unzähligen Kneipen verbringen.

Sogar zwei Ärzte trauten sich, hier ihre Geschäfte zu führen. Der eine war ein rechter Pfuscher, dem man besser bloß sein Haustier oder kleinere Wunden anvertraute. Der andere hatte schon mehr Potenzial, stand jedoch mit einigen Banden in Kontakt, die verlangten, dass er ihre Feinde abwies.

Man konnte an diesem Ort leben, wenn man keine hohen Ansprüche stellte und sich gut behauptete gegenüber denen, die meinten, das Sagen zu haben.

Zach schaffte dies bereits seit neunzehn Jahren.

Es hatte viel Ärger am Anfang gegeben und oft hatte er kämpfen müssen. Die Narbe an seinem Kiefer sprach von dieser Zeit. Schlussendlich lebte er sich ein, lernte die richtigen Leute kennen, und heute kam es nur noch selten zu schweren Auseinandersetzungen.

Seine festen Stiefel berührten den fast heimischen Boden.

Zu dieser frühen Tageszeit wirkten die Wege wie ausgestorben.

Krähen hockten zu Scharen auf den mit Schnee beladenen Dächern und krächzten, dass ihr Ruf durch die engen Gassen schallte. Sie hielten Ausschau nach Fleisch, das unter Umständen im Rinnstein verrotten könnte. Im Normalfall hielten diese geflügelten Todesboten sich auch nur an das Restbüfett und warteten geduldig auf ihre Chance.

Allerdings war Zach noch der Winter von vor drei Jahren im Gedächtnis geblieben. Damals war es dermaßen bitterkalt gewesen, dass die Vögel alles attackierten, was ihnen unter die Schnäbel geriet – egal, ob tot oder lebendig. Ein Bekannter hatte so sein Auge verloren.

 

Kälte und Dunkelheit – eigentlich hätte es Zach an keinen ungünstigeren Ort verschlagen können.

Warum war er nicht in den Süden, in die Wüste gegangen? Wieso nicht an einen Platz, an dem die Sonne nie unterging?

Vielleicht, um sich selbst etwas zu beweisen. Dass er erwachsen und kein Kind mehr war, das zur leichten Beute werden konnte. Dass er den Eisengrind nicht mehr fürchtete, der nach ihm jagte.

Dieser alte Spuk folgte ihm seither wie ein Schatten. Patrick und Ines war nie klar gewesen, wieso er sich plötzlich vor Hunden aller Art fürchtete oder im Winter nie mehr nach draußen ging, sobald es dunkel wurde. Sie schoben es auf seine unzähligen Macken und stempelten seine kindliche Angst als irrational ab. Sätze wie: „Stell dich nicht so an!“ und „Hab dich nicht so!“ waren für sie schnell gesagt.

Zach war groß geworden und hatte viel Schlechtes von den Menschen erfahren, was andere in Schrecken versetzte, ihn aber eher zum Kampf anspornte. Probleme musste er in Kauf nehmen und sich durch alle Gefahren der Welt durchbeißen. Doch das störte ihn nicht.

Es war nur dieser eine Dämon, der ihm noch zeigte, wie sich Angst anfühlte.

Und dieser Dämon war auch der Grund, weswegen selbst er, der keinem Hokuspokus oder Aberglauben Beachtung schenkte, die Rauchnächte so gut wie möglich mied. Denn der Eisengrind war Realität, wie er am besten wusste. Sobald die Sonne unterging, blieb Zach lieber innerhalb von sicheren vier Wänden.

Heute Abend ginge es definitiv in eine Bar, weil er ja gutherzig und deshalb restlos pleite war. Leider waren zum jetzigen Zeitpunkt alle Kneipen des Hafens dicht, da blieb ihm nur das traute Heim als Zufluchtsort vor der Kälte.

Gedankenverloren, aber immer noch mit einem offenen Ohr und Auge, durchquerte er die Straßen, auf denen kaum ein Auto Platz hatte, vorbei an vollen Müllcontainern und abbruchreifen Häusern.

Aus einer gläsernen Ladentür heraus grüßte ihn Lao Jing, ein Kleinhändler für Kleidung, Schuhe und Schmuck. Seit Zach ihn einmal so aus Laune von einer Bande Schutzgelderpresser befreit hatte, zahlte er für gekaufte Waren nur noch ein Viertel vom Preis.

Auch rief der Zeitungsverkäufer Stiegson ihm ein „Guten Tag!“ zu und der Tätowierer Pavel winkte, als er sein Geschäft aufschloss.

Die Gesellschaft kannte er gut.

Zachs Wohnhaus war ein Dreigeschosser, welcher sich von außen nicht von seinen Nachbarbauten unterschied: rissige Außenwand, stellenweise abgefallener Putz, teils gesprungene Fenster, die notdürftig mit Klebeband repariert worden waren. Bei den Rahmen blätterte die Farbe ab und an die kaputten Dachziegel wollte er gar nicht erst denken – er wohnte eh im Erdgeschoss, dort war es „bloß“ sehr fußkalt, weswegen er so gut wie nie seine schützenden Stiefel auszog.

Der Flur deprimierte allgemein mit dunkelgrünen Farben. Er stieg die zwei knarrenden Holzstufen hoch, um seine Tür auf-, oh, er hatte mal wieder vergessen, zuzuschließen.

Und wenn schon, bei ihm gab es nichts zu klauen.

Der Wohnraum stand eher leer, gerade mal in einer Ecke beim Ofen hatte er eine lose Matratze zum Schlafen hingelegt und das bisschen, was er an Kleidung besaß, ruhte in einer großen Pappkiste.

Dagegen war die Küche voll mit einem Tisch, einem Stuhl, einer Spüle, einem Wasserkocher und einer wackeligen Klappbox voller Geschirr, in der es nicht ein zusammenpassendes Paar gab. Die natürliche Kälte mache einen Kühlschrank sinnlos und im Notfall ließ sich der Heizofen als Kochutensil zweckentfremden.

Zu Beginn hatte er vorgehabt, sein Leben ordentlich auf das Nötigste einzurichten, jedoch wurde daraus wirklich nur das Allernötigste. Mit der Zeit hatte er sich an das Leben auf Sparflamme gewöhnt und brauchte auch nicht mehr.

Patrick und Ines würden ausrasten, wenn sie das sehen würden. Für die musste ja alles immer perfekt und schön sein, neu und modern. Aber seine lieben Adoptiveltern wussten nicht einmal, wo er steckte, und das war gut so.

Zach ließ sich, wie er war, auf die Matratze fallen. Sein Rücken brachte ihn wiedermal fast um. Beinahe täglich trainierte er seine Muskeln, doch gegen die Schmerzen half aller Sport nichts.

Wirklich frustrierend.

Tja, wie eigentlich mein ganzes Dasein.

Ach, besser nicht daran denken.

Zur Seite drehend, beschloss er, den Tag wie die meisten Hafenbewohner zu verschlafen und schloss die Augen, in der kargen Hoffnung ohne Störung die Stunden verstreichen lassen zu können.

Seine Nachbarn weckten ihn am späten Nachmittag. Auf die übliche Weise.

Er lärmte, sie weinte, irgendetwas flog krachend gegen die Wand.

Es gab Tage, an denen spielte Zach mit den Gedanken, sein Messer zu nehmen, die Treppe hochzusteigen, an der dortigen Wohnungstür zu klopfen und die erstbeste Person -

Doch das war reines Wunschdenken, er konnte ja niemanden, der unschuldig war, abstechen – nicht einmal, wenn ihm von diesem Arschloch der letzte Nerv geraubt wurde.

„Haltet gefälligst die Fresse!“, brüllte er laut durch das Haus und bei den dünnen Wänden würde er sicher Gehör finden.

Bald war wieder etwas Ruhe eingekehrt, wenn auch das dumpfe Blabla noch störte.

Vor ein paar Monaten, als das Paar frisch eingezogen war, versuchte der Kerl von oben mal, ihm klarzumachen, dass er sich gefälligst aus ihrem Streit rauszuhalten hatte. Zachs „freundliche“ Antwort darauf war deutlich gewesen: Wenn er seiner hassgeliebten Frau die Witwenrente gönnte, könnte er ihn auf der Stelle abstechen.

Seitdem war alles so weit gut.

Zach stand auf – sein Rücken hatte sich etwas beruhigt – und machte in der Küche Wasser heiß für einen starken Kaffee. Als „Frühstück“ gab es ein paar Scheiben Toastbrot, die er fast immer parat hatte, und in die schwarze Brühe tunkte, damit er an deren Trockenheit nicht erstickte.

Nach einigen Dehnungsübungen und Liegestützen, ging Zach wieder auf die Straße. Diesmal vergaß er das Zuschließen nicht.

Bei den unzähligen Kneipen, die sich allein im Hafengebiet befanden, konnte die Stadt von einem regelrechten Amüsierviertel sprechen. Betrunken brauchte man nur wenige Schritte zu laufen und schon stürzte der Gast von einem Tresen zum anderen. Selbst dem Eisengrind wäre das zu knapp.

Für das Flair der Kaschemmen gab es mehrere Varianten.

War jemand auf Spaß und einen lustigen Abend aus, besuchte er die Mottobars. Die reichten von Flowerpower über Südsee, Hardrock oder Western bis hin zu einer großmütterlichen Kaffeekränzchen-Atmosphäre. Das Grauenvollste, was Zach bis dato erlebt hatte, war der Pink-Pony-Schuppen, in dem rosa Spitzendecken und niedliche Kätzchenbilder zur Ausstattung gehörten. Wer den Laden aufsuchte, gehörte seiner Meinung nach erschossen.

Wer die Nacht über nur bei billigem Bier und depressiver Stimmung vor sich hinsumpfen wollte, der ging in die Spelunke beim dritten Pier. Wer die Liebe suchte, bekam sie im Puff bei Dock Eins. Für eine Schlägerei war der Club bei der Fünf immer ausgelegt – der Besitzer investierte gar nicht mehr in neue Möbel oder Ähnliches, da ging sowieso alles zu Bruch.

Doch wenn man die Nacht arbeiten musste, um Geld in den Taschen zu haben, besuchte man die Glücksspielhallen und Fischerkneipen, wo Matrosen und Fabrikarbeiter ihren Sold auf den Kopf stellten, starker Schnaps Gemüter erhitzte und im Schatten der Thekenlampen so mancher Raub oder Mord geplant wurde.

Eben zu so einer Art von Bar zog es Zach.

Durch die hintersten Gassenwinkel musste er gehen, die schimmligsten, nassesten Keller aufsuchen, um an das Geld der Seemänner zu kommen. Natürlich waren das keine sicheren Wege und so mancher Taschendieb versuchte sich an leichter Beute. Eine Waffe war Pflicht.

Aber heute war es nicht nur das gewohnte Pack, das durch den Hafen zog.

Gerade drängte Zach vorsichtig seinen hochgewachsenen Körper durch einen schmalen Riss im Maschendrahtzaun, um den abgelegenen Innenhof einer Schänke zu erreichen, als er eine schäbige Lache hörte.

In einem dunklen Hausdurchgang erspähte er eine kleine Gruppe von Jugendlichen. Sie trugen Schildmützen, lockere Jogginghosen und fett gefütterte Steppjacken mit Fellkragen – Stadtbewohner, wie ihre Kleidung ihm verriet.

Es kam vor, dass Kids aus der Innenstadt hier rausfuhren, um Dinge zu tun, die sonst verboten waren. Vielleicht für Drogen oder weil sie ihre Hörner abstoßen wollten – wozu auch immer, Zach aber hasste diese Sorte Menschen. Vor allem, wenn sie so lachten.

Aus Schadenfreude.

Die Jungs standen im Kreis um etwas herum, das sie offensichtlich mobbten.

In Zach regte sich der altbekannte Drang, die Unschuldigen zu beschützen, und er kam ab von seinem Weg. Erst würde er helfen, dann lockte die Arbeit.

Die Bälger lachten erneut und er roch Benzin ...

Schon stand das Etwas in der Mitte in Flammen. Die Gruppe sprang auseinander und eine kleine Feuerkugel wälzte sich schreiend und kreischend zu ihren Füßen im Dreck, um den tödlichen Brand zu ersticken. Vergeblich.

Ein winziges Leben wurde aus Spaß vernichtet.

„Ihr Bastarde!“, brüllte Zach sofort laut auf und bevor die Quäler reagieren konnten, schlug er dem ersten die Schneidezähne aus. Einem zweiten Bengel rammte er das Knie in den Magen und ein dritter wurde am Kragen gepackt, durch die Luft geschleudert und über den Schotter gezogen.

Verängstigt durch die plötzliche Gewalt, nahmen die übrigen Burschen schnell Reißaus. Die würden es bestimmt nie wieder wagen, ein Tier zu foltern.

Einen Flüchtigen bekam Zach noch zu packen und flink zog er sein Messer aus der Gürtelscheide, um es diesem Poser an die Kehle zu halten. Der wohlgenährte Knabe zitterte unter seinem Griff.

„Dachtest du etwa, hier ist jede Scheiße erlaubt, Fettsack? Was soll das, eh?“, fauchte Zach ihn derb an und nickte in Richtung des kleinen Wesens, was dort im Matsch des geschmolzenen Schnees langsam verendete. Ob es mal eine Katze oder ein Marder war, ließ sich nicht mehr erkennen.

Als der Junge aus Furcht nicht antwortete, zog Zach ihn zu seinem Opfer hin und drückte den Bengel auf die Knie, um ihm seine Tat bewusst vor Augen zu führen. Der Gestank von verbrannten Haaren und Fleisch bereitete dem Kerl Übelkeit.

„Jetzt tu nicht so! Du und deine Leute, ihr habt das gemacht! Sieh gefälligst hin!“, schnauzte Zach laut und gab ihm eine satte Ohrfeige.

Endlich bekam der Bursche den Mund auf. Jedoch von Reue keine Spur.

„Ey, Alta, was hast’n du für Probleme?“, sprach er in seinem Slang. „Is’ doch nur ’n Vieh! Das war ’n Joke, Mann!“

„Ist echt ein Scheiß-Humor, Kleiner! Wenn du es so witzig findest, ein Leben anzuzünden, zeig ich dir mal, was ich witzig finde!“, und Zach packte ihn im Würgegriff, hob ihm sein Messer nah vor das feiste Gesicht – der Junge schrie wie ein Schwein am Spieß und jammerte um Vergebung, als wäre er in der Kirche – und ließ es auf ihn niedergehen.

Allerdings drehte Zach rasch die Hand und so traf bloß der harte Griff die Stirn des Knaben, um ihn ins Reich der Träume schickten.

Ein Erwachsener wäre tot gewesen. Aber das waren dumme Kinder. Grenzenlos dumme Kinder, überhebliches Gesocks, das keinen Respekt vor dem Leben kannte. Und die Städter nannten das Hafenvolk „Abschaum“. Dabei waren sie keine besseren Menschen.

Wo waren alle Geister und Dämonen, um diese Brut zu schrecken?

Zornig wandte Zach sich von dem bewusstlosen Bengel ab und richtete seine Aufmerksamkeit auf das verbrannte Tier.

Es lag in den letzten Atemzügen. Schwarz verkohlt und blind vom Feuer, flehte es winselnd um einen baldigen Tod. Eine ewige Erlösung von seinem Schmerz.

„Ist gleich vorbei“, sagte Zach sanfter im Ton und rammte ihm die Klinge in das schwache Herz.

Die Krähen beobachteten ihn bereits. Warteten auf ihr Futter.

Die blutige Schneide wischte er an der Markenklamotte des Teenagers ab. Die Flecken würden hartnäckig sein und Mami wäre gar nicht begeistert, dass ihr Goldjunge völlig abgeputzt vom Spielen wiederkam.

Akribisch durchsuchte Zach die Taschen der vier Jungen, die er auf die Bretter geschickt hatte und fand teure Armbanduhren und Silberkettchen, Zigaretten und sogar ein wenig Geld. Super, sie lieferten ihm doch glatt das Startkapital am nächsten Pokertisch!

„Tja, das ist die Arschlochsteuer vom Hafen, Kids“, feixte er.

 

„Knife?“

Zach hob den Kopf.

Bei dem Maschendrahtzaun stand ein Mann von Ende zwanzig und sah ihm interessiert beim Abputz zu. Eine schmale Bohnenstange in einem verblichenen, einst schwarzen Jeansanzug und festen Stiefeln. Wegen des weißblonden Haares war der Typ bekannt unter den Namen Light-Linus. Ein Spürhund. Wer eine bestimmte Person oder Information suchte, richtete sich an einen wie ihn und wurde nicht enttäuscht.

Weil Linus ebenfalls so etwas wie Stil hatte, kamen die beiden Männer bisher gut zusammen aus.

„Was passiert hier?“, fragte der Schnüffler und seine blauen Augen analysierten die Szene.

„Is’ scho’ vorbei“, fiel Zach wieder in den lockeren Kiez-Slang zurück und kam aus dem Durchgang zurück auf den Hinterhof der Kneipe. „War’n ’n paar Bälger, die dacht’n ’ne dicke Lippe riskier’n zu könn’. War meine Sache.“

„Okay“, nahm Linus die Erklärung gleichgültig hin wie die Wettervorhersage. „Hat’s sich gelohnt?“

Zach fingerte nach zwei der gestohlenen Zigaretten und reichte eine an den Bekannten weiter. Linus dankte und zündete als Gegenleistung die Lunten an. Rauchend und in Schweigen gehüllt verbrachten beide so ein paar Lungenzüge.

„Willst rein?“, eröffnete der Spürhund ein neues Gespräch und wies mit dem Daumen über die Schulter, auf den Eingang der Bar.

„Klar, war bis g’rad eben noch pleite“, zuckte Zach die Schultern.

„Kannst mir was ausgeb’n? Ich bin’s noch.“

„Kein Ding. Die Kids zahl’n die erste Runde.“

„Is’ nett“, grinste Linus und warf die Kippe in den Schnee, „und da sag’n die Alten, die Jugend hat kein’ Anstand mehr.“

Auch Zach feixte und schnippte ebenfalls den Filter davon. „Ach, man muss die nur ma’ dran erinnern, dann läuft’s auch.“

Linus ging ihm voraus und öffnete die splittrige Tür. Die Scharniere knarzten vor Rost und ein modriger Luftzug stieg die abführende Treppe vor ihnen hinauf.

Zach seufzte. Das war der wohlbekannte Beginn eines jeden Abends.

Wie immer würde er nehmen, was kommt.

Ändern, was er ändern konnte. Akzeptieren, was sich nicht ändern ließ.

Und einen Ablauf planen? Es brachte nichts, vorauszuschauen. Weder auf diese Nacht oder morgen, noch auf die kommende Woche. Geschweige denn für ein weiteres Jahr.

Er lebte im Hier und Jetzt. Das allein zählte. Schlussendlich war ja alles egal, oder?

Vergangenheit konnte er nicht mehr ändern.

Die Zukunft war immer ungewiss und Pläne konnten scheitern.

Tag für Tag, bis es mit dem Dasein zu Ende ging und dann war es vorbei. Von einem Selbst blieb kaum etwas zurück, außer vielleicht die Asche auf dem Küchenschrank.

So war das Leben und seines galt bloß von der Nacht zum Morgen.

Mehr hatte es nicht zu bieten.