Mit schwarzen Flügeln

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Daimon Legion

Mit schwarzen Flügeln

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Zitat

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Epilog

Ave atque Vale

Impressum neobooks

Zitat

Es ist leicht

zu sterben,

aber schwer

zu leben.

Japanisches Sprichwort

1

Von der Außenseite blies der Wind Flocken an die Fensterscheibe. Für einen kurzen Moment konnten seine Augen das feingliedrige, komplexe Muster erkennen, bevor die nächste frostige Brise das zerbrechliche Eisgebilde zerstörte. Dafür verbanden sich die Splitterfragmente bald mit neuen Kristallen und langsam wuchs die weiße Kruste auf dem Rahmen.

Sein Blick schweifte ab vom wandernden Schnee, hin zu dem stummen Gesicht im Glas.

Das Kind, welches ihm aus der Spiegelwelt heraus betrachtete, erschien ihm so blass, abgestumpft und gelangweilt, dass er sich für einen Moment wünschte, es sei ein anderes. Ein fremdes Leben, nicht das seinige.

„Hallo“, grüßte er sein Spiegelselbst. „Was schaust du so traurig aus? Ist bei dir nicht alles besser?“

Wohl nicht. Sein zweites Ich schien nicht glücklicher als er zu sein.

Schweigend zog er mit seinem Zeigefinger unsichtbare Linie über die Scheibe. Malte Kreise und klopfte Takte, die keinen Sinn ergaben. Wenn Ines die winzigen Spuren entdeckte, würde sie wieder schimpfen. Sie mochte ihr Heim sauber und ordentlich. Besser, er wischte die Flecken weg, bevor sie wiederkam.

„Was spielen?“, tat der Junge, als hätte sein imaginärer Freund ihm diesen Vorschlag unterbreitet. Schnaufend sah er über die eigene Schulter hinweg, zu einem Berg aus Spielzeugen. Dort lagen Plastiksoldaten, Gummiindianer, Metallautos, Malstifte aller Art und ein Stapel aus teuren Videospielen, die er über seine neue Konsole auf dem Fernseher übertragend spielen konnte.

Alles Dinge, die sie ihm geschenkt hatten, um ihn still zu halten. Er sollte beschäftigt sein und keinen Unsinn anstellen, solange Patrick auf seiner Geschäftsreise war und Ines mit ihren Freundinnen um die Häuser zog – so, wie es der letzte Tag des alten Jahres von den Erwachsenen verlangte. Beide waren der festen Ansicht gewesen, einen Achtjährigen konnte sie für diese Zeit ruhig allein lassen.

Allein.

Ja, wie so oft bin ich allein.

„Mag nicht“, antwortete er auf die eigene Frage. „Wer soll auch schon mit mir spielen?“

Warum hatten Patrick und Ines ihn überhaupt adoptiert? In ihrem Leben war doch gar kein Platz für ein Kind. Beide hatten ihre Arbeit, waren recht jung und lebten das auch aus – wozu also ein Kind, um das sie sich kümmern sollten?

Weil der alte Pastor sie gebeten hat. Nur deswegen. Vor zwei Jahren warteten im Waisenheim so viele andere Kinder auf ein neues Zuhause und denen hätte es hier vielleicht besser gefallen als ihm. Und es hätte auch Patrick und Ines möglicherweise besser gefallen, wenn es ein anderes Kind gewesen wäre. Ein normales Kind wäre für sie wahrscheinlich in Ordnung gegangen. Trotz anfänglichem Bedenken, konnte man ihnen damals die schwarze Katze im Sack andrehen und jetzt wohnte er bei ihnen.

Mal sehen, wie lang sie mich ertragen können.

„Sie wollen mich immer alle schnell loswerden, bevor ich was Komisches anstelle“, murmelte er seine Gedanken laut.

Solange er denken konnte, hielten die Leute ihn für seltsam. Die barmherzigen Schwestern mochten ihn aus irgendeinem Grund nicht leiden und den anderen Waisen war er auch nicht geheuer. Angeblich strahlte er etwas aus, das den Menschen Angst machte. Was die Menschen wütend machte. Dieses Etwas machte ihn unbequem für die Welt. Und dieses Etwas musste es auch gewesen sein, das seine Mutter dazu veranlasst hatte, ihn als Baby wegzugeben. Nie hatte er je wieder was von ihr gehört. Von seinem unbekannten Vater erst recht kein Wort.

„Ist blöd, wenn einen niemand will.“

Damit musste er halt lernen zu leben. Egal, wie schwer es fiel.

Draußen wurde der Nachthimmel von einem Feuerwerk erhellt. Knallend explodierten die Raketen und in vielen sprühenden Farben flogen die Funken. Dabei war es erst gegen neun. Die Menschen der Stadt waren vorfreudig und zündelten, sobald es dunkel wurde.

Silvester kümmerte ihn nicht. Das neue Jahr würde es für ihn nicht besser machen. In der Schule würde es weiterhin Probleme mit den Leitern und Kameraden geben und seine Zieheltern würden nicht plötzlich mit aller Liebe über ihn herfallen.

Es war ein Fest für Erwachsene. Damit sie sich stark betrinken und etwas in die Luft jagen konnten, ohne dafür belangt zu werden.

Seine Lehrerin hatte gesagt, der Ursprung der Silvesterknallerei liege darin, dass man die bösen Geister des alten Jahres vertreiben wollte. Auch sollte in diesen sogenannten „Rauchnächten“ die „Wilde Jagd“ umgehen. Eine tobende Horde von heidnischen Geistern, die Unvorsichtige mitzogen. Von ihren düsteren Gespenstergeschichten hatte die ganze Klasse gezittert.

Nur ihm jagte sie keine Angst ein.

So wenig, wie er an einen barmherzigen Gott glaubte, gab er etwas auf solche Märchen – weder zu Silvester noch zu anderen Jahreszeiten. Zu Halloween enttäuschten ihn die Erwachsenen mit billigen Kostümen von Vampiren und Werwölfen und kein einziger Zombie taumelte über den Friedhof. Zu Weihnachten glaubten die Leute, ein falscher Bart machte sie zum Weihnachtsmann und dass Kinder nur Geschenke bekamen, wenn sie denn artig geblieben waren. Den Sinn beim Osterhasen oder der Zahnfee suchte er bis heute vergeblich.

Solche Geschichten sagten ihm bloß, dass gute Kinder, die sich an die Regeln hielten, belohnt, und die, welche sie brachen, bestraft wurden. Sie waren reine Erziehungsmaßnahmen.

Diese „Wilde Jagd“ würde eben nur jene holen, die sich des Nachts noch draußen herumtrieben. Es war ihm so klar gewesen, seine Lehrerin hätte es gar nicht erst betonen müssen.

Elfen, Feen, Kobolde und Dämonen – wenn er jetzt auf Gott und Teufel fluchen würde, wäre keiner der beiden zur Stelle, um ihn dafür zu maßregeln. Es gab keinen Schwarzen Mann im Wandschrank und keinen blödelnden Gruselclown in den Kanalschächten.

Eigentlich schade. Er hätte sie sonst nämlich zu gern gesucht und herausgefordert. Mit den Monstern gekämpft, ein Abenteuer erlebt, Gefahren überwunden und Verbündete gefunden, Freunde -

Doch das war alles bloß Fantasie.

In dieser grauen Realität da draußen gab es nichts Dergleichen.

Wenn er durch den Spiegel treten könnte, wäre es dann anders?

„Wenn ich aus dem Fenster springe, was passiert dann?“, grinste er sein Ich an.

 

Zum Glück hatten Patrick und Ines das nicht gehört.

Die hätten ihn wieder nur zu einem Arzt geschickt, mit dem er reden musste und der ihm kluge Sachen sagte, wie: „Deine Probleme produzierst du selbst“, oder: „Deine Eltern haben viel Mühe mit dir, du solltest lernen, sie zu achten“, und so weiter ... Das Gefasel kannte er zur Genüge.

Er sah hinunter auf die Straße vor dem Haus. Erwachsene und Kinder gingen dort entlang, sie zündeten kleine Fontänen an und schmissen mit Knallerbsen.

Sollte er runtergehen? Sich unter die Menschen mischen?

Erneut schaute er in die Stille der Wohnung. Hier würde er nichts verpassen. Hier leistete ihm bloß die Einsamkeit Gesellschaft, aber das Leben war auf der Straße. Es konnte nichts schaden, ein paar Runden zu gehen, oder?

„Okay“, sagte er und drehte sich vom Fenster weg, verließ sein Zimmer und betrat den langen Flur, um dort Schal, Schuhe, Mütze und Winterjacke anzuziehen. Er ging jedes Zimmer ab, um zu prüfen, dass er nichts hatte brennen lassen oder sonst eine Quelle der Gefahr bestand. Nicht, dass etwas passierte. Patrick würde es ihm nicht noch einmal verzeihen.

Gut, alles war in Ordnung.

Er schloss die Wohnungstür ab und kontrollierte es doppelt. Wäre nicht das erste Mal, dass er das Zuschließen vergessen hätte. Manchmal bekam er einfach seine Gedanken nicht zusammen, gerade wenn es um solche Kleinigkeiten ging. Und seine Zieheltern legten viel Wert auf diese.

Nach drei Stockwerken trat er aus der Haustür auf den geräumten Gehweg.

In der ersten Straße nach der Hausecke jagten ein paar Jugendliche Raketen in die Luft. Mit ihren Zigaretten zündeten sie die Schnur an und hielten beim Abfeuern den Stock in Händen. Sie lachten und tranken aus kleinen Schnapsflaschen billigen Alkohol.

Patrick würde ein solches Verhalten nicht tolerieren. Er hatte es ihm bereits angedroht. Sollte er sein Verhalten nicht ändern und weiter rebellieren, und sich als untragbar für sie beide herausstellen, wäre sein nächster Weg der in eine Besserungsanstalt.

... dann wären sie ihn los.

Einer der Kerle schmiss einen Knallfrosch nach ihm und er sprang schnell zur Seite.

Die Bande lachte, während der Böller gedämpft im Schnee verpuffte.

Er sollte weitergehen. Sie spürten ja das Etwas an ihm. Besser, er ließ es nicht zu noch mehr Ärger kommen.

In der zweiten Straße spielten Kleinkinder mit Wunderkerzen. Ihre Eltern zeigten ihnen, wie sie mit dem Feuerschein glühende Linien ziehen konnten. Die Kinder freuten sich. Sagten, dass sie ihre Eltern liebten.

Er schaute nicht länger zu.

Ines würde schimpfen. Es sei verantwortungslos, so kleine Kinder mit Feuer spielen zu lassen.

Die dritte Straße war menschenleer.

In der vierten Straße gab es eine kleine Gaststube, aus der fröhliche Stimmen grölten. Erwachsene saßen bei Bier und Zigaretten am Tresen, spielten mit Karten und erzählten derbe Witze. Man jubelte, klatschte, hörte Musik und bestellte die nächste Runde Likör.

Patrick mochte solche Leute nicht. Für ihn waren das Verlierer und er sollte nicht so enden. Kein Alkohol und keine Zigaretten. Keine zwielichtige Gesellschaft.

Er sollte Arzt oder Anwalt werden, Kaufmann auf dem Großmarkt, Aktienhändler. Irgendwas mit viel Geld und Ansehen. So wie sein „Vater“. Wenn er schon einen „Sohn“ hatte, sollte dieser auch etwas darstellen.

Seufzend verdrehte er die braunen Augen.

Vor der Kneipe standen zwei Männer und unterhielten sich abseits des Lärms.

Als er an ihnen vorbeiging, sprach der eine mit der Bierwampe ihn direkt an: „Hey, Kleiner!

Junge, es ist doch schon spät, du solltest hier nicht rumgeistern! Ist denn keiner bei dir? Geh mal lieber schnell nach Hause.“

Er zuckte ruhig die Schultern. „Bin schon auf dem Weg.“

„Dann hop-hop!“, scherzte der zweite Mann. „Pass auf, sonst erwischt dich der Eisengrind.“

„Wer?“

„Der Eisengrind, Kleiner!“, sprach erneut der erste und verstellte seine tiefe Stimme, was sie wohl gruseliger machen sollte, als er fortfuhr: „Ein böser Dämon. Der jagt in so einer kalten Nacht Kinder, die draußen allein herumspazieren und frisst sie auf. Schon viele sind verschwunden und man fand keinen Knochen mehr von ihnen.“

Sollte ihn diese Geschichte etwa erschrecken?

„Okay“, segnete er das Gesagte unbekümmert ab. „Dann geh ich besser schneller.“

Eisengrind, dachte er die ersten Schritte nach, ... noch nie gehört.

Drei Ecken weiter war ihm diese Geschichte entfallen. Was kümmerte ihn ein Geisterspuk? Bestimmt war es wieder dieses „Gutes Kind – Böses Kind“-Zeugs, eben damit er nach Hause ging und die Erwachsenen sich gehen lassen konnten.

Er begegnete noch einigen Umherziehenden, besah das Funkenspektakel einer Batterie und durfte bei einem Fremden Heuler anzünden. Der düstere Kerl roch zwar sehr unangenehm nach feuchter Erde, war aber sonst freundlich gewesen.

Seine gedachte Runde um die Wohnblocks hatte er hinter sich gebracht und würde an der nächsten Kurve bereits wieder auf dem Weg zur Haustür sein – eben, wie es die großen Menschen gern von artigen Kindern wollten. Er würde hoch gehen, in die leere Wohnung, eine schnelle Mahlzeit aus dem Kühlschrank nehmen und sich wieder vor sein Fenster setzen, um das Mitternachtsfeuerwerk abzuwarten.

Wenn er jetzt rechts gehen würde.

Aber er ging links. Wählte den Weg einer Brücke, die, über eine Kleingartenanlage und stillgelegte Eisenbahngleise gespannt, in einen anderen Stadtteil führte. Es wäre nur eine kleine Verlängerung, er konnte jederzeit wieder umkehren. Nichts weiter.

Der Brückenpfad war von Laternen beschienen und die dicken Schneeflocken begruben unter sich schwarz verbrannte Überreste von explodierten Knallkörpern. Zu sehen war niemand, allein leere Schnaps-, Bier- oder Sektflaschen zeugten von der verblassten Anwesenheit Feiernder.

Von der Mitte der Brücke konnte er auf das hell erleuchtete Stadtzentrum sehen.

Seine Füße trugen ihn vorwärts und in der nächtlichen Dunkelheit zeichneten sich bald die Umrisse der Bauten im neu erschlossenen Viertel ab. Schwach hörte er den dumpfen Bassrhythmus einer Party, das Lachen von Menschen, Autolärm und das vereinzelte Tönen von Feuerwerk.

Bald war er wieder unter -

Ein Sturm spielte plötzlich auf. Wechselte jäh mehrmals den Kurs. Ein Pfeifen und Johlen folgte der Strömung, ein antreibendes Klatschen. Es war schwer auszumachen, woher die Geräusche kamen. Und dann war es still. Sanft rieselten die Flocken ...

Okay, dachte er verwirrt und blieb stehen. Das war ungewöhnlich. Aber nicht beunruhigend. So freistehend, wie die Brücke war, trieb ihr der Wind alles mögliche zu. Dem konnte auch niemand befehlen, wohin er wehte – warum also nicht kreuz und quer?

Eine logische Erklärung.

Es gibt keine Geister.

Der weiße Schnee reflektierte taghell das gelbe Laternenlicht, weshalb er keine Angst zeigte und weiter voranging. Immerhin erblickte er am Ende des Weges schon eine Straßenbahnhaltestelle, deren Leuchtstoffröhren kaltweiß brannten. Was auch immer gerade passiert war, es kümmerte ihn nicht -

Jetzt hielt er erneut.

Vor ihm bewegte sich etwas. Ja, ganz sicher.

Es kam aus den kargen Büschen am Brückenende und schritt ihm langsam entgegen.

Er kniff die Augen zusammen, um dieses Wesen durch den Flockenschleier besser sehen zu können, jedoch vernebelte das Eis seinen Blick. Was er aber erkannte, ließ ihn aufschrecken.

Der Körper dieser Kreatur war groß und mit zotteligem, dunklem Fell überzogen. Sie lief auf vier Beinen und machte so den Eindruck, als wäre sie nur ein Hund. Ein Streuner, der im Müll nach Fressen suchte.

Doch aus seinem Kopf ragten ... Hörner hervor.

Er musste blinzeln. Das gab es nicht. Es gab keine Hunde mit Hörnern.

Das Tier schien mit jedem Schritt größer zu werden. Aus seinem Schädel heraus glühten ihm feurige Augen entgegen und ein tiefes Knurren rollte über die Brücke hinweg.

Er schüttelte den Kopf. Das war ein Traum. Ein solches Tier existierte nicht. Das hier war die Realität, es gab keine Geister oder Dämonen!

Die Augen schließend, wünschte er sich dieses Trugbild weg. Aber es war noch immer da. Nur noch näher. Mit jedem Lidschlag kam es ganze Meter auf ihn zu, obwohl es nicht rannte.

Fünfzehn Meter entfernt. Zwinkern. Zehn Meter. Zwinkern. Fünf Meter.

Wie kann das möglich sein?

Er hätte losrennen müssen. Fliehen vor diesem Wesen. Doch er konnte nicht. Und er hätte auch keine Chance, ihm zu entkommen. Am ganzen Körper zitternd, sah er diesem Höllenhund entgegen, dessen Knurren ihm durch die Knochen ging.

Zwei Meter. Einen Meter.

Vor ihm ragte das riesige Maul auf. Er blickte auf gefährliche weiße Fangzähne, die vor Speichel tropften. Mit einem Biss würde es ihm den Kopf abreißen.

Die lodernden Augen waren auf ihn gerichtet. Ließen ihn nicht entkommen. Das Tier begann an ihm zu schnüffeln. Seine Stirn wurde von der bitterkalten Schnauze berührt. Der faulige Atem ließ ihn aufstoßen.

Der Kiefer klappte weit auf und er schaute der Bestie in den Rachen ... jedoch packten die Zähne nicht zu.

Stattdessen sprach der Hund mit grollender Stimme: „Bedauerlich. So leicht zu fressen und dann diese Enttäuschung.“

Mit einer seiner Pranken stieß das Tier ihn zu Boden, drückte ihn in den Schnee. Sein ganzes Gewicht schien auf den schwachen Kinderrippen zu liegen und der Junge keuchte auf vor Schreck und Schmerz.

„Besser, du meidest Eis und Dunkelheit, Kind. Ein andermal fress ich dich vielleicht doch!“, und mit einem gewaltigen Satz sprang diese Bestie über ihm hinweg. Verschwand in die Nacht, durch den Schleier der Schneeflocken.

Er blieb am Boden liegend zurück. Sein Herz hämmerte in der schmalen Brust. Heiße Tränen liefen die Wangen hinunter. Seine Hose fühlte sich sehr nass an, allerdings war ihm das gleich.

Gerade so war er dem Tod entkommen.

Dem Eisengrind.

Während draußen vor dem Fenster das Feuerwerk in aller Farbenpracht erstrahlte und der Lärm der Detonationen auf ein Höchstmaß anstieg, hockte er auf seinem Bett unter der Decke und zitterte vor Angst.

Seine Hose hatte er im Bad eingeweicht. Dennoch würde Patrick wütend sein. Er meinte, ein Junge in seinem Alter macht sich nicht mehr ein. Er war ja schließlich kein Kleinkind mehr.

Alle Spielsachen, alle Bilder, alle Gegenstände, die einen Hund darstellten oder auf denen ein Hund abgebildet war, verbannte er aus seinem Zimmer. Er konnte sie nicht mehr ansehen, ohne in Tränen auszubrechen.

Den flauschigen Plüschdrachen fest an den Oberkörper gepresst, versuchte er die Angst in den Griff zu bekommen. Er musste sich beruhigen.

Was würden die Erwachsenen sagen, wenn sie ihn so vorfänden? Was sollte er ihnen antworten? Sollte er ihnen erzählen, wie er beinahe von einem gigantischen Geisterhund gefressen wurde? Würden sie ihm denn Glauben schenken?

Aus dem Flur klingelte das Telefon. Er zuckte zusammen.

Das Band zeichnete das Gespräch auf. Es war Ines.

„Zacharias. Frohes neues Jahr.

Ich hoffe, du liegst schon im Bett. Bleib nicht zu lange wach. Ich übernachte heute bei jemanden und werde morgen Vormittag erst nach Hause kommen. Patrick wird später auch da sein, aber wir wollen abends noch mit Freunden essen gehen. Ich stelle dir was in den Kühlschrank.

Denk daran, dass du am zweiten Januar gleich zu Dr. Lore musst. Nicht, dass du es wieder vergisst. Und gib dir mehr Mühe in der Schule für dieses Jahr. Du willst doch mal etwas Anständiges werden.

Mach keinen Ärger. Wir sehen uns morgen.“

Nein, sie würden ihm nicht einmal zuhören.

Es wäre für sie nur ein weiteres Zeichen dafür, dass er nicht normal war.

Dass etwas an ihm anders war.

Ihm blieb nur, mit seinen Problemen zurechtzukommen. Mit seiner Angst. Mit seiner Traurigkeit. Mit seiner Einsamkeit.

Das Feuerwerk tönte laut. Der Krach tat gut.

Er verscheuchte die alten Geister.

Verscheuchte den Eisengrind.

Vorerst.

2

29 Jahre später ...

 

„Name?“

„Zacharias Isias.“

„Ist das Spanisch?“

„Nee, christlich. Hab den mir nicht ausgesucht. Sag’n Sie einfach Zach.“

„Na gut, Zach. Und Isias ist Jesaja, oder?“

„Beschwer’n Sie sich beim Pastor.“

„Verstehe ... Alter?“

„Siebenunddreißig.“

Detective Abraham Soi hob die Nase vom Protokoll und blickte etwas erstaunt auf den Mann, der ihm provokant in der karg möblierten Verhörzelle gegenübersaß – obwohl, eher lungerte.

Ein punkiger Outlaw. Über die eins neunzig groß, sportlich gebaut, markantes Dreitagebartgesicht mit einer fiesen Narbe an der Backe, trotzige Irokesenfrisur und ein Blick, hart wie Beton. Sein ganzes Erscheinungsbild ließ erahnen, dass der Kerl meist mit den „Bullen“ von der Polizei Streit suchte, als brav bei ihnen Rede und Antwort zu stehen.

Doch bis auf seine offensichtliche Arroganz war der Mann erstaunlich kooperativ geblieben, dafür, dass man ihn zu einer Zeugenaussage geladen hatte. Der hätte auch anders reagieren können.

Allerdings war Soi klar, dass die Angaben, die er ihm lieferte, gut erstunken und erlogen sein konnten. Es war nichts Neues, wenn so ein Typ die Untersuchungen mit Falschaussagen behinderte.

Das begann schon beim Alter.

Siebenunddreißig? Der Bursche konnte locker zehn Jahre jünger sein.

„Ich weiß, hab ’n Milchgesicht ...“, murrte Zach launisch und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Nun, das zwar nicht, doch ich bin etwas neidisch“, seufzte der Polizist, der mit fast vierzig sein angerautes Haar kurz streifte, bevor er die Notiz zu Papier brachte. „Die Frauen rennen Ihnen sicher scharenweise nach.“

„Und wenn schon ...“, zuckte Zach die Schultern.

„Wohnhaft?“, klapperte Soi weiter die nötigen Formalitäten ab und trug die Adresse ein, die der Mann ihm lieferte.

Wie nicht anders erwartet. Irgendein heruntergekommenes Loch im Hafenviertel der Nordstadt.

Er war zwar erst seit Kurzem als Teamleiter für das Gebiet zuständig, aber die Aktenberge wuchsen bereits auf seinem Schreibtisch in die Höhe.

In der Gegend gab es so oft Ärger, wie in keinem zweiten Stadtbezirk, und die Leute schufen ihre eigenen Gesetze, bis sich kein anständiger Bürger mehr in diesen Slum hineintraute. Säufer, Dealer, Messerstecher, Schlägertruppen, Schmuggler und Nutten, wo man auch hinsah. Wer dort lebte, war ein verrückter, salziger Hund.

Vor Jahren hatte die Stadtspitze einmal geplant, das ganze Gesocks auszuräuchern und den Bezirk umzugestalten, jedoch hatten Mächtigere genug Druck gemacht, um das zu verhindern. In den obersten Instanzen hatten einige ihre Finger in dunklen Hafengeschäften – und das schützte. Das raue Pack kam durch Beziehungen oft ungestraft davon und wenn es einen gab, der zu viel redete, landete dieser Pechvogel bestenfalls im Revier. Schlimmstenfalls bei den Fischen.

Dieser Kerl hier ist wohl mal eine seltene Ausnahme, wie?

„Nun gut, Zach.

Sie haben das Opfer gekannt?“

„Flüchtig, mal mit ihm gegessen“, floskelte der Mann desinteressiert und begann, an den silbernen Ringen in seinem linken Ohr herumzudrehen.

Ist das ein nervöser Tick? Körpersprache lieferte ja häufig wichtige Indizien. Soi behielt seinen Gegenüber fest im Blick.

„Hatte der Mann Feinde?“

„Genug, dass es für drei Leben reicht. Hat sich gern unbeliebt gemacht.“

Typisch. Die Krawallbrüder im Hafen suchten gern Ärger. Wuchs dieser ihnen dann über den Kopf, war die Rechnung stets teuer. Sollten Angehörige vorhanden sein, konnten die von Glück reden, wenn sie einen Leichnam zum Betrauern hatten.

Was für ein vergeudetes Leben, schüttelte Soi den Gedanken ab. Das kann doch nicht die Erfüllung sein, oder?

„Sie haben die Leiche gefunden. Wann und unter welchen Umständen ist das passiert?“

„War die Nacht so gegen drei. Kam g’rad aus ’ner Bar, wollte in die nächste, und da hab ich ihn am Rand lieg’n seh’n. Die Katzen und Raben haben an ihm bestimmt schon ’ne Stunde oder so rumgefress’n, sah nicht mehr schön aus ... Kehle durch, Knete weg. Hielt’s für ’ne gute Aktion, dem Kerl noch zu ’nem Sarg zu verhelfen. In der Gosse gammelt genug Dreck rum.“

Wie nett von ihm.

„Es passieren recht viele Morde im Hafen, oder?“

Zach grinste ihn frech an. „Bist neu hier?“

„Merkt man sofort?“, war Soi etwas irritiert von dem vertrauten Du.

„Jap. Sonst wär’ dir klar, dass das jeden Winter so is’“, seufzte der Mann beinahe belehrend zu dem Unwissenden. „Der Hafen geht, wenn man weiß, wie der Hase läuft. Bevor ’n Mord passiert, heißt’s erst mal ‘Geld oder Leben’. ’n bisschen drohen und Zoff, mehr nicht.

Im Winter geht das anders. Die Rauchnächte machen die Jungs nervös und abergläubisch. Keiner is’ da gern im Freien, wenn’s dunkel wird, und wer keine Bleibe hat oder bezahlen kann, der sticht wen ab, um sich dessen Zeug untern Nagel zu reiß’n.

Man findet täglich ’n paar Tote und das schürt die Geistergerüchte, was den Leuten noch mehr Schiss macht und wieder haben sie Panik vor der Dunkelheit. Is’ ’n Teufelskreis, der höchstens sechzehn Nächte geht, und dann is’ wieder Ruhe.“

Ach so, verstand Soi. Hinter diesen Morden steckte ein alter Spuk.

„Aber Sie scheinen das ganz locker zu sehen, oder, Zach?“

Wieder dieses Schulterzucken.

„Ich mach mir keine Platte. Bin zwar viel nachts unterwegs, doch noch geht’s mir gut. Is’ ja nicht so, dass ich mich nicht wehren könnte. Wer mir ans Leben will, wird’s schwer haben. Kann auch sein, dass ich bald Pech hab, dann fress’n mich auch die Ratten.“

Na, das ist ja einer. Irgendwie war sich Soi nicht sicher, ob Zach mutig, dumm oder lebensmüde war. Vielleicht von allem etwas.

„Gefährliches Pflaster, der Hafen“, sprach der Beamte nachdenklich. „Sie könnten auch während des Winters das Viertel verlassen. So würden Sie sicher länger leben.“

„Kann sein ...“, klang der Mann gelangweilt.

„Warum bleiben Sie also? Ich schätze Sie recht klug ein, Sie könnten doch sicher auch anderswo Fuß fassen als dort. Warum nur sein Leben riskieren?“

Zach sah ihn mit seinen steinernen Augen an ... und zuckte die Schultern. „Weiß nicht. Is’ halt nicht mein Ding wie du hinter ’nem Schreibtisch zu hock’n.“

Ist ein Argument, musste er zugeben. Nicht jeder zog eine abgesicherte Karriere in der geregelten Gesellschaft vor. Manch einer wollte vogelfrei sein. Der Preis dafür war oft ein gewaltsamer Tod.

Soi kam auf seine Arbeit zurück. „Nun gut.

Haben Sie etwas Verdächtiges an dem Toten bemerkt? Zum Beispiel die Spuren eines Kampfes? Denken Sie, er hat sich gegen seine Angreifer gewehrt?“

„Nee, nicht wirklich. Vielleicht hat er’s versucht, aber weil er zehn Meilen gegen den Wind nach Grog stank, geh ich von aus, dass er nicht mehr viel geriss’n hat.“

„Verstehe.“

Raubmord ohne Beweise und der einzige Zeuge weiß auch nichts Genaues. Wie für so viele Fälle, würde Soi einfach nur einen Bericht verfassen und damit die Akte auf Eis legen. Bestimmt stapelten sich im Archiv diese ungeklärten Wintertodesfälle bereits von seinem Vorgänger. Sollte er je einen Tatverdächtigen finden, wäre ihm eine Beförderung sicher.

„Sie wurden kontrolliert, als Sie in der Station eintrafen, Zach.

Die Kollegen fanden bei Ihnen ein Jagdmesser mit einer Klingenlänge von fünfundzwanzig Zentimetern.“

„Is’ legal“, war sich der Mann keiner Schuld bewusst. „Hab ’n Schein für und die is’ zu meinem Selbstschutz, den ich im Hafen nötig hab. Bei uns geht niemand unbewaffnet auf die Straße.“

Aalglatt. Und eine Mimik wie ein Profi-Pokerspieler. An dem Burschen würde alles abprallen, was die gewöhnliche Polizeischule an Verhörtaktiken draufhatte.

„Dennoch, ich muss Sie verwarnen.

Das ist eine scharfe Waffe, Herr Isias. Jemand, der so eine Klinge ständig mit sich herumträgt, ist ein potenzieller Täter, auch für den Toten dieser Nacht.

Ich könnte Sie auf Verdacht festnehmen lassen, nur fehlen mir dafür jegliche Beweise. Sie sollten daher aufpassen, nicht noch einmal in Verbindung mit diesen Morden zu kommen. Das würde den Verdacht bloß verhärten und Ihnen wirklich Probleme bereiten.

Verstehen Sie, was ich meine?“

„Klar. Wenn ich das nächste Mal ’ne Leiche seh, lass ich sie lieg’n.

War’s das jetzt, Freund und Helfer?“

Die Kritik war nicht zu überhören. Soi konnte verstehen, dass er ihn beleidigt hatte, obwohl eine Mahnung ja sein musste. Nicht, dass der Typ sich mal über Handschellen wunderte ...

„Ja, das war es. Sie können Ihre Sachen beim Pförtner abholen.“

„Mein Messer auch?“

„Ja, auch Ihr Messer.

Trotzdem, ich möchte Sie bitten, Zach, in nächster Zeit die Nordstadt nicht zu verlassen. Es kann sein, dass wir Sie nochmals sprechen müssen in dem Fall. Falls sich etwas ergibt.“

Der Mann nickte. „Kein Ding. Ich geh hier nicht weg.“

Beide erhoben sich von den Stühlen und reichten zum Abschied einander die Hand. Soi spürte den starken Griff, mit dem Zach absichtlich einschlug, aber er würde keinen Schmerz zeigen.

Zacharias Isias.

Ein verrohter Kämpfer aus dem Hafenviertel.

Vielleicht sollte er die Akten wälzen. Seine gebrechliche Mutter würde Soi darauf verwetten, dass er diesen Kerl in der Chronik wiederfand. Es konnte nichts schaden, über ihn Informationen einzuholen. Der Polizist spürte, es würde nicht das letzte Mal sein, dass beide miteinander zu tun hatten.

Unter den strengen Augen des Pförtners nahm Zach seine spärliche Habe auf. Seine restlichen Zigaretten, das silberne Benzinfeuerzeug, ein paar Münzen, die er sein ganzes Vermögen nennen musste, und natürlich das Jagdmesser.

Der gefälschte Waffenschein erwies sich als tauglich, sonst wäre die Schneide eingezogen worden.

Natürlich hätte er sie erst gar nicht bei Leibe tragen müssen, jedoch, wie er es schon dem Detective erklärt hatte, brauchte er die Klinge, um überhaupt sicher aus dem Hafen heraus und wieder hineinzukommen. Auf seinen Kopf hatten es genug Geier abgesehen.

Er verstaute das Messer rasch in der Lederscheide, die längs hinter seinem Rücken am Gürtel befestigt war und warf den schwarzen Stoffmantel über.

„Man sieht sich, Jungs“, sagte er und feixte selbstgefällig einem grimmigen Beamten zu, der seine zwielichtige Gestalt abfällig musterte.

Eine frostige Windböe bauschte die knielangen Schöße seines Mantels auf, als er aus dem Hauptgebäude der Polizeistation nach draußen in die graue Helligkeit des Wintertages trat. Die Schultern anziehend, wickelte er den schwarzen Wollschal enger um seinen Hals und stellte den Kragen hoch, bevor er eilig die Treppenstufen abging, um sich in den Passantenstrom auf dem Gehweg einzureihen.