In die grüne Tiefe hinab

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Ein neues Zuhause

„Was zum Geier ist sein Problem?“

Una war außer sich.

Zwar hatte sie bereits mit ihren Begleitern das Gebiet des Grabens verlassen und war wieder in den belebten Algenwald, ins Licht, eingetaucht, dennoch kam sie noch immer nicht von Shariks permanenten Beleidigungen los. Wenn ein Junge – ein ganz normaler Junge – sie so angegangen wäre, hätte der sein blaues Wunder erlebt.

Zu blöd, dass er ein Monster ist …

„Was hab ich ihm getan? Der nörgelt in einer Tour! Und wenn er nicht nörgelt, ist er ein arrogantes, egoistisches, aufgeblasenes Ar-“

„Na ja, er ist nur mürrisch nach dem Winterschlaf …“, versuchte Penina ihren Zorn zu schlichten. „Niemand wird gern von schlechten Nachrichten geweckt. Erst recht nicht, wenn es sich dabei um Einbruch handelt.

Du hast ihn heute auf einem schlechten Stand erwischt. An und für sich ist er -“

„Er kann schon ein Mistkerl sein“, sprach Lorin es aus, jedoch ohne Hintergedanken. „Bei ihm hilft kein Schönreden, Nina. In erster Linie hasst er Menschen und ihre Gesellschaft. Gesellschaft im Allgemeinen. Und in zweiter Linie hasst er alles, was nicht nach seinem Kopf geht.“

„Er ist halt eben schon lang allein mit sich“, stimmte Arnold zu, „da wird jeder etwas … schrullig.“

„Warum nehmt ihr ihn in Schutz?“, fragte Una patzig.

„Tun wir doch gar nicht!“, antworteten die drei wie aus einem Mund.

„Und ob!“, pfefferte sie zurück. „Ihr verteidigt ihn, obwohl er ein bösartiger Killer ist! Er hat euch alle getötet, oder? Ihr seid Menschen gewesen und er hat euch ertränkt! Warum? Mit Einsamkeit hat das bestimmt nichts zu tun. Dieser See ist voller Leben und doch bringt der reihenweise Leute um! Er hat eure Seelen versklavt! Lasst ihr euch das gefallen?“

„Du kannst es natürlich so schwarz-weiß sehen“, meinte Arnold gelassen und blubberte wie ein kleines Geschoss an einer der Ruinen vorbei.

Vielleicht waren alle Menschen, die einst hier gelebt hatten, in Tiere verwandelt worden. Zig gefangene Seelen, die ihrem eigensinnigen Schlächter selbst nach dem Tod noch gnadenlos ausgeliefert waren. Una wollte nicht verstehen, weshalb sich ein intelligentes Wesen wie der freie Mensch dermaßen aufgeben konnte.

„Zu Beginn waren wir alle traurig und wütend auf den Herrn“, gestand ihr Penina ehrlich, „wie du. Er hatte uns aus dem Leben gerissen, klar! Wir mussten auch Freunde und Familie zurücklassen und dabei zusehen, wie unsere Körper von ihm zerrissen und verschlungen wurden …“

„Das war echt kein Anblick, Unalein“, lockerte Lorin das Thema vergeblich auf.

„Das ist widerlich!“, schüttelte sich das Mädchen.

Die Karausche seufzte. „Letztlich ist es aber so, dass wir uns damit abgefunden haben.

Was sollten wir auch anderes tun? Unsere Menschenkörper waren nun mal nur Fleisch und als Fische und Frösche können wir schlecht unsere Verwandten wiedersehen. Die würden unsere Worte gar nicht verstehen.“

„Abgesehen davon sind viele von denen selber schon tot“, gab Arnold ihr zu verstehen. „Nimm mich zum Beispiel.

Mich hat der Herr vor gut hundertzwanzig Jahren ertränkt, als ich zu nah am Ufer fischte. Damals war ich ein vierfacher Familienvater, aber heute sind meine Frau und Kinder längst verstorben. Von irgendwelchen Enkeln oder Urenkeln weiß ich nichts und die wissen sicher auch nichts von mir. Maximal bin ich noch als Name im Ahnenbuch verzeichnet.

Mein Leben außerhalb des Wassers ist vorbei, aber ich lebe jetzt in diesem wunderbaren See, habe hier neue Freunde gefunden und mich eingelebt. Ich bin als Geist so lange lebendig wie der See selbst, und wenn alles gut geht, lebt jeder von uns noch hundert Jahre weiter. Oder mehr.“

„Als Muschel“, spottete Una enttäuscht. „Ist das die Erfüllung deines Lebens? Hättest du nicht lieber deine Enkel aufwachsen sehen wollen? Mit deiner Frau alt werden?“

„Versteh mich nicht falsch, ich liebte meine Frau“, gestand ihr Arnold aufrichtig. „Und gern wäre ich mit ihr alt geworden. Aber es sollte nicht sein.“

„So sparst du dir das Altenheim und Enkel, die dich bloß besuchen kommen, um Knete abzustauben“, tätschelte Lorin ihm die Außenschale.

„Aber er hat euch umgebracht!“, versuchte es Una nochmals, obwohl ihr langsam die Argumente fehlten. „Euch alles genommen und von den Menschen weggerissen.“

Des Frosches Miene wurde ernst und er lachte bitter auf. „Pah, Menschen! Du bewertest das Menschsein noch ganz schön über. Daran ist echt nichts Ehrenwertes, ganz im Gegenteil.

Ich bin Sharik gar nicht sauer, weil er mich von den Menschen weggeholt hat. Ich bin als Tier zehnmal glücklicher.

Wer ich war? Vor dreißig Jahren einer dieser Versager am Rande der Gesellschaft. Einer, der besoffen seinen Frust an Schwächeren ausließ. Als Mensch konnte ich mir einbilden, über allen Dingen zu stehen und die Krone der Schöpfung zu sein. Aber eigentlich vernichtete ich nur alles, was mich umgab. Ich warf meine Zigaretten brennend in die Wildbahn, habe Zweige aus Spaß gebrochen, Pflanzen herausgerissen, Tiere mit Steinen beworfen, Autoreifen abgefackelt – weil ich mir keine Gedanken machte, was mein Handeln für Schaden anrichten könnte.

Heute sehe ich meine Fehler ein. Ohne Sharik hätte ich meine eigene Dummheit nie erkannt. Ich schäme mich für das besitzergreifende, selbstsüchtige Ich, das ich als Mensch war.“

Una konnte ihm nicht wirklich folgen. Gut, manche Menschen waren nun nicht gerade mit Umsicht gesegnet, aber das hieß nicht, dass alle schlecht waren. Ansonsten wäre die Amphibie Lorin nicht besser als die überhebliche Menschheit.

Oder verstand sie da etwas falsch?

„Du hast dich gebessert, weil du als Frosch keinen Schnaps mehr trinken kannst“, zog Penina Lorin frech auf. „Betrunken bist du damals in den See gesprungen und der Herr brauchte dich nur noch unten zu halten, bis die Luft aus war.“

„Ähnlich wie bei dir, Miss Pipi“, gab der Frosch es ihr zurück und beide streckten ihre Zungen heraus.

„Na toll“, schnaufte Una missmutig, „schön, wenn ihr euer Ableben so locker seht. Ich würde Sharik nicht in einer Millionen Jahren verzeihen, wenn er es denn gewesen wäre. Dieser andere hat also keine besseren Chancen.

Umso schlimmer finde ich es ja, die Zeit bis zum Sommer mit Warten zu vertrödeln. Das ist noch lange hin und der Platz hier drinnen ist zu begrenzt, als dass ich ihm ewig aus dem Weg gehen könnte.“

„Er hat dir doch erklärt, wieso“, sagte Arnold.

„Und bis dahin ist der Typ über alle Berge – oder Flüsse!“, echauffierte sie sich.

„Bestimmt nicht. Er muss in sein Heimatgewässer zurückkehren, sonst stirbt der Wassergeist. Und das Gewässer ebenso“, verkündete Penina. „Er kann gar nicht flüchten. Du könntest zwar sagen, dass wir Gefangene sind, aber auch die Naturgeister sind letztlich nur an einen Ort gebunden.

Gerade ein Seewassergeist ist wenig flexibel. Ihm gehört nur der Raum seines Wassers, der See, der Weiher, der Tümpel, das Moor. Er kann das Gebiet nur wechseln, wenn er das Reich eines verstorbenen Geistes übernimmt – quasi als Ersatz dienen, bevor das Biotop eingeht. Und selbst dann ist nicht hundertprozentig gewährleistet, ob die Chemie zwischen Geist und Wasser stimmt.

Flussgeister sind ebenso von ihrem Domizil abhängig, aber ein Fluss kann weit fließen. Von der Quelle bis zur Mündung ins Meer können sie reisen und ein Fluss bietet zudem mehreren Geistern ein Zuhause. Sie sind keine verschrobenen Einzelgänger wie die Herren von einem See.

Und die Meergeister leben – wie der Name sagt – im Meer, in Gruppen oder Einzeln. Wegen dem hohen Salzgehalt meiden sie die Flüsse, bis auf wenige Ausnahmen, welche Brackwasser betreten können.

Für alle gilt dasselbe: nie ihr Heim im Stich lassen.“

„Du meinst also, ein Geist kann sterben, wenn er es doch tut?“, war das Mädchen verwundert.

„Selbstverständlich. Alle Existenz hat irgendwann ein Ende, es gibt keine vollkommene Unsterblichkeit.“

„Das heißt“, überlegte Una ernsthaft, „ein Wassermann stirbt … auch wenn er ungewollt irgendwie von seinem Wasser ferngehalten wird … Das wäre das Ende des Sees. Was würde mit euch passieren?“

Die drei blickten sich traurig an.

„Wenn sich nicht bald darauf ein neuer Herr oder eine Herrin finden würde“, wagte Arnold eine Theorie, „und das Gewässer verloren geht, lägen wir alle auf dem Trockenen. Wir würden wohl erneut sterben. Wer weiß, wohin unsere Seelen dann gehen?“

Schweigen stand zwischen ihnen. Wäre es unter Wasser nicht so still, hätte man den Wind in den Baumkronen rauschen hören können.

„Ihr seid wirklich zufrieden mit eurem Leben hier?“, fragte Una nach.

„Natürlich!“, antworteten ihre neuen Freunde überzeugt.

„Und ihr seid überhaupt nicht nachtragend?“

„Nein.“

Seufzend musste sie dies akzeptieren.

Die Wasseroberfläche wellte sich in einer leichten Brise über Unas Kopf hinweg. Wenn sie die Hand ausgestreckt hätte, wäre sie durchgebrochen, wieder an Land und Luft, unter den Lebenden. Jetzt musste es gen Mittag sein. Die Zeit verstrich unaufhörlich. Ihre Schulklasse war bestimmt schon auf dem Nachhauseweg …

Konnte sie es wagen, das Wasser zu verlassen, wenn auch nur teilweise? Oder würde ihr die Haut abfaulen – so als wandelnde Leiche?

Bevor sie es versuchen konnte, hielt sie Lorins Stöhnen von ab.

„Na toll. Hier sieht’s ja aus wie bei Karl-Heinz!“

Was auch immer er damit meinte, Una musste zugeben, dass sie noch nie so viel Abfall auf einmal gesehen hatte.

 

Das flache Südufer des Sees glich einer Müllhalde. Im Schlamm lagen Glas- und Plastikflaschen, Benzinkanister, Tonnen aus Kunststoff und Metall, Töpfe, Pfannen, Fahrräder, Teller aus Porzellan und durchweichtem Papier, Pappbecher, eine ausrangierte Waschmaschine, Müllsäcke, Einweggrille, Tetrapaks, Zeitungen, Dosen, Autoteile, Bestecke, Kronkorken, Spielbälle und Verpackungen aller Art.

Gab es den Dreck bereits, als Una mit Florian hier gewesen war? Er konnte wirklich von Glück reden, in keine Scherbe getreten zu sein. Bei so viel Schrott war eine Blutvergiftung ja vorprogrammiert.

„Gesammelte Werke, wie?“, versuchte sie einen trockenen Kommentar. „Seit wie vielen Jahren gammelt das Zeug jetzt schon vor sich hin?“

Man warf ihr einen verdrießlichen Blick zu.

„Das, Schätzchen“, begann Lorin, „liegt erst über den Winter. Ansonsten sind wir Geister echt hinterher mit dem Saubermachen. Aber die Menschen produzieren täglich so viel Müll, dass es uns über die Köpfe wächst. Der See ist groß und wir können nicht überall sein.“

Das Mädchen war baff. In nicht mal einem Jahr entsorgten die Leute illegal dermaßen viel Unrat?

„Noch dazu“, klagte Penina und schwamm zu der Waschmaschine, „sind manche Gegenstände zu groß, als dass wir Kleinen sie von der Stelle bewegen könnten. Wir brauchen hierfür Shariks Hilfe. Oder gegebenenfalls deine.“

„Wohin wollt ihr das Zeug denn verlegen?“, fragte Una interessiert.

„Zurück an Land!“, antwortete der Fisch verärgert. „Wenn die Menschen meinen, uns ihren Schund aufbürden zu können, um ihn aus den Augen und Sinn zu haben, schicken wir ihnen das Gelumpe postwendend zurück. Was an Land verrottet, soll nicht unser Problem sein, aber wir dienen denen da oben bestimmt nicht als Müllschlucker!“

Ihre Verärgerung konnte Una freilich nachvollziehen. Es wäre dasselbe, wenn ein fremder Wagen plötzlich im eigenen Vorgarten parken und den grünen Rasen plattmachen würde. Wer würde sich schon darüber freuen?

Aber, wie Lorin schon sagte, es gab Menschen, die sich um solche Belange einfach nicht kümmerten. Hauptsache fort mit der leeren Flasche, dem Eisstiel, der Zigarettenkippe. Danach die Sintflut.

Una schüttelte den Kopf über die Dummheit und versprach: „Ich helfe euch natürlich, das Zeug beiseitezuschaffen.

Doch kann ich eigentlich an Land gehen, um den Müll abzuladen? Ich denke, ich bin tot, oder?“

Wieder unterhielten sich die Freunde schweigend mit Blicken.

„Ja, dein Menschenkörper ist tot“, bestätigte Arnold sachlich, „jedoch bist du kein Mensch mehr, sondern ein werdender Wassergeist. Solange du wieder in das Wasser zurückkommst, in dem du zu Hause bist, kannst du dich auch etwas an Land bewegen. Selbst der Herr unternimmt ab und an Spaziergänge am Ufer.

Es sollte jedoch nicht zur Gewohnheit werden. Wie gesagt, du stirbst, wenn du zu lange fernbleibst.“

Das hatte sie schon verstanden. Trotzdem fand sie, dass sich die Muschel etwas nebulös ausdrückte. Allerdings erhellte ein neuer Gedanke sie gleich wieder: Ich kann an Land leben. Oder besser überleben. Sie war kein erstickender Fisch und kein verfaulter Zombieleichnam.

Ich kann an Land.

„Also dann“, war sie froh gestimmt, entgegen der anfallenden Arbeit, „legen wir mal los.“

„Nicht so hastig“, unterbrach Penina ihren Tatendrang, „da gibt es noch einiges zu bereden.

Lorin, geh du schon mal los und trommle ein paar Freunde zusammen. Wir brauchen hier mehr Flossen und Zangen, um vorwärtszukommen.“

Ohne Murren machte der sich auf den Weg.

„Was gibt es denn noch?“, wollte Una wissen, nachdem der Frosch fort war.

„Nun, wir haben dir zwar gesagt, dass du an Land kannst“, sprach Arnold, „doch das heißt nicht, dass du gehen solltest. Du bist noch nicht bereit dafür.“

„Grob gesagt, es hadert daran, dass du noch nicht gelernt hast, deine Gestalt zu verändern“, vollendete Penina seine Rede. „Noch gröber gesagt: Du kannst nicht zaubern.“

Was sollte sie daraufhin erwidern?

„Du sagtest uns, der Wassergeist, der dich getötet hat, hätte die Gestalt eines Freundes angenommen, um dich zu täuschen“, erinnerte sie die Freundin. „Das ist eine alte Taktik der Geisterwesen. Sie sind nicht von fester Gestalt wie ein Menschenkörper, sondern können Zauber wirken, die sie für andere verändert zeigen.

Kannst du mir folgen?“

„Du meinst, das, was ich sah, war nicht echt“, verstand Una selbstredend. Ganz dumm war sie ja nicht.

„Genau, aber der Wassergeist war da. Er hätte sich für das Menschenauge auch unsichtbar machen können. Oder die Gestalt eines Tieres oder einer Lehrerin annehmen können. Irgendwen, irgendetwas, um von seiner wahren Gestalt abzulenken. Doch du kannst das noch nicht. Du musst es erst lernen, sonst bringst du dich in große Schwierigkeiten.“

„Was für Schwierigkeiten?“, stand gleich die Frage im wässrigen Raum.

Arnold antwortete: „Du kannst dir sicher denken, dass die Leute etwas geschockt wären, wenn sie eine Person sehen würden, die Müll aus dem Wasser an Land schiebt, ohne zu ertrinken? Oder stell dir vor, wie sie auf den Herrn reagieren würden, wenn er sich ihnen in seiner Gestalt als Hecht zeigen würde.

Das ist nicht gut. Man könnte dir auflauern, dich verletzen, gefangen nehmen, an einen Zirkus verkaufen …“

„Es klingt abgedroschen, aber die Menschen sind nicht bereit dafür, andere intelligente Lebewesen neben sich zu akzeptieren“, schloss Penina ab. „Das artet nur in Anfeindung und Kampf aus. Menschen gegen Monster, denn das bist du letztlich für sie.“

„Ich bin doch noch -“, wollte Una erwidern, jedoch war es einleuchtend.

„Als du vorhin den Herrn gesehen hast“, sagte Arnold, „war dein erster Gedanke zu ihm sicher auch, er sei ein Monster, oder? Etwas Nichtmenschliches. Wir sind sprechende Tiere. Das erweckt in Menschen ebenfalls Ekel. Ihr haltet es für unnatürlich, krankhaft. Dabei sind die Elementargeister das Natürlichste der Welt.

Ironisch, nicht?“

Wahrscheinlich.

Una bekam leichte Kopfschmerzen. Es war wirklich ein ermüdender Tag.

„Also kann ich euch gar nicht helfen, diesen Müll aus dem See zu schaffen? Die Menschen könnten mich dabei sehen“, schlussfolgerte sie. Ihre frisch gewonnene Euphorie verpuffte.

Penina nickte, jedoch gab sie auch Hoffnung: „Solange du unterhalb der Oberfläche bleibst, kannst du die Dinge an Land werfen. So müssen wir es auch handhaben, weil wir nicht aus dem Wasser kommen. Alles Weitere werden wir Sharik überlassen müssen. Er wird sich unsichtbar für die Menschen machen. Und in der Dämmerstunde ist auch meist niemand mehr am Ufer, um neugierig zu werden, wieso der Abfall von selbst wieder aus dem Wasser kommt. Kleinigkeiten sind ja unauffällig, aber die großen -“

„Hallo Nina! Hi Arni!“, rief plötzlich ein kleiner Flusskrebs, der des Weges kam. Er winkte ihnen mit der Schere und fasste kurz darauf eine treibende Plastiktüte, um sie mit anderem Gerümpel zu füllen. Dem Krebs folgten andere Tiere nach; Wasserkäfer, Schnecken, Muscheln, aber auch Fische aller Art, vom zierlichen Stichling bis zum großen Karpfen. Lorin zog eine Meute von Molchen und Fröschen mit sich. Man unterhielt sich lebhaft und bald war das Wasser erfüllt vom Klang der unterschiedlichsten Stimmen.

So viele Seelen, die halfen, ihr Zuhause zu säubern.

„Jetzt können wir beginnen“, verkündete Penina und zwinkerte Una verschmitzt zu.

Una half, so gut sie konnte. Zuerst hatte sie Probleme, genug Schwung durch das Wasser zu bekommen, um den ganzen Dreck durch die Oberfläche an den Strand werfen zu können, doch mit etwas Übung gelang es ihr mit dem ganzen Pfannen- und Topfkram fertig zu werden. Messer und Gabeln waren dagegen schon einfach.

Als sie das Fahrrad packte, es schleuderte und nach draußen warf, stieß sie selbst etwas durch die Grenze nach oben. Wind legte sich auf ihre Haut und ihre Ohren hörten das Vogelgezwitscher der Amseln.

Es waren bloß wenige Sekunden, denn sie tauchte sofort ab, aus Angst, von jemandem entdeckt zu werden, der unbedacht vorbeikam. Zufällig ein Polizist, der nach einer Vermissten suchte. Zufällig Florian, der an sie dachte. Vielleicht auch nur der alte Mann mit seinem Dackel, der sagen konnte: „Moment, war da gerade ein Mädchen im Wasser? Das ist doch verboten!“

Offenbar hatte niemand sie gesehen. Keiner näherte sich dem Ufer oder schlug Alarm.

Es wurde dunkel. Die grüne Tiefe wurde schwärzlich. Die rote Dämmerung der Abendsonne schimmerte durch die klaren Wellen, als Una einen letzten Teller nach draußen warf. Dumpf glaubte sie, ihn an Land zerschellen zu hören.

Die Tiere zogen sich vom Ufer zurück. Alle wünschten ihr eine gute Nacht und gaben Dank für ihre Hilfe. Sie meinten, Una habe gut gearbeitet und sollte sich nun wohlfühlen im See. Una verabschiedete sich von einer Krebsdame namens Valerie und einem Blei, der auf Rüdiger hörte.

Lorin gähnte.

„Für uns war es das erst mal. Morgen gibt es sicher neuen Dreck, das Wochenende steht an“, prophezeite Arnold.

„Und den Rest schafft Sharik allein?“, fragte Una und wies mit den Daumen auf die Waschmaschine und die Fässer. Ein alter Teppich war auch dabei. Zwar hatte sie sich selbst daran versucht, doch die Aufgabe als zu schwer empfunden.

„Er ist stärker, als er aussieht“, lachte Penina. „Das kriegt er locker hin.“

„Und was mach ich jetzt?“, war ihre nächste Frage.

„Du kannst dir einen schönen Ort suchen, an dem du die Nacht über schlafen kannst“, schlug ihr Arnold vor. „Du kannst dir ein Bett aus Algen machen. Oder vielleicht finden wir eines Tages eine weggeworfene Matratze, wenn dir das lieber ist. Wenn du manches Weggeworfene gebrauchen kannst, müssen wir es nicht aus dem See schaffen. Du behältst es. Sogar der Herr sammelt die ein oder andere Kleinigkeit.“

Das machte für Una schon Sinn. Sie hatte auch bereits etwas im Blick, als ihr Magen sie plötzlich schmerzlich an etwas sehr Wichtiges erinnerte.

„Ich hab langsam Hunger“, sagte sie. „Und … gibt es hier so was wie eine Toilette?“

Die drei schienen leicht belustigt.

„Ich frag mal den Herrn, ob er noch etwas in Reserve hat“, schmunzelte die Muschel und trieb davon.

Auch Lorin feixte Una zu. „Du weiß aber schon, was du dann isst?“

Ihr kam ein grausiger Verdacht.

„Menschen … -fleisch?“

„Eben!“

Das Mädchen überlegte ernsthaft, ob sie das hinter sich bringen konnte, ohne zu kotzen. Aufgedunsenes Fleisch von irgendeinem armen Ertrunkenen aus dem letzten Herbst. Es war zu widerlich.

„Und was die Toilette betrifft“, fügte Penina hinzu, „nun, halte es, wie in der Natur üblich. Such dir eine Ecke und lass fallen.“

„Darin hat sie Übung“, spottete Lorin und lag mit dem Fisch gleich wieder im Streit.

Möglicherweise war Una verwöhnt von der Zivilisation der modernen Menschen. Selbst in Indien wären die Hygienebedingungen mancherorts für sie eine Zumutung gewesen. Was der grüne See ihr bot, war das Leben eines Wassertiers, ohne Bad und WC, ohne Bett, ohne Fernseher, ohne Smartphone.

Sie atmete tief durch.

„War ein langer Tag für dich“, verstand Penina und sanft streiften ihre Flossen Unas Nasenspitze. „Du bist sicher müde und erschöpft von all den verrückten Dingen, die heute passiert sind. Such dir ein weiches Lager und mach es dir bequem. Wenn du etwas brauchst, kannst du jeden von uns fragen.

Ich werde mich jetzt auch hinlegen. Ich habe da ein hübsches Schlammloch, das ich mein Eigen nenne.“

„Ich hab mir ein Nest aus Wurzeln zu einer Hängematte zusammengebunden“, erwähnte Lorin und gähnte erneut ausgiebig. „War ein aufregender Tag und jetzt ruft die Falle. Bis morgen, Unilein. Nina“, grüßte er knapp und paddelte von dannen.

„Er tut nur so müde“, raunte ihr die Karausche zu. „Er trifft sich abends noch mit einem Moorfrosch und einer Unke, um zu quaken.“

Aha.

Eine der Ruinen sollte es sein, in die Una einziehen wollte. Eine halbwegs menschliche Behausung – ein schlichtes Bauernhaus – wenn auch schon kein Dach mehr vorhanden war und die meisten Mauern Schutthügeln glichen.

Sie fragte Penina, bevor diese aufbrach, ob sie Moose oder Algen nehmen könnte, um eine steinerne Liege damit zu polstern. Die Freundin riet zu Moos, beauftragte einen Krebs für die Arbeit des Abtragens und kurz darauf hatte das Mädchen eine relativ weiche Schlafstätte. Das war aber auch alles.

 

Es würde Tage oder gar Wochen dauern, bis sie sich eingelebt hatte und noch länger, bis sie sich geborgen fühlte.

Ob sie morgen früh ein paar Pflanzenranken so richten konnte, dass ein Baldachin über der offenen Zimmerdecke entstand? Zwar wäre es auf die Art noch dunkler im Raum, aber sie hätte dann eigene vier Wände. Was könnte sie sammeln, um ihr Reich zu schmücken? Um sich an früher zu erinnern? An das Leben oben … an zu Hause …

Keine Bilder. Keine Fotos.

Irgendwann würde sie vergessen, wer sie war. Wie sie aussah.

Sie dachte an einen Spiegel. Das würde gehen. Aber wollte sie wirklich in das reflektierende Glas sehen, während sie mehr und mehr ein vollwertiger Wassergeist wurde? Ein grässliches, spitzzahniges Ungeheuer mit Fischleib? Wie -

„Brichst du immer noch in Tränen aus?“

Seine unfreundliche Stimme ließ sie zusammenfahren.

Sharik lehnte im leeren Türbogen, die Arme vor der Brust verschränkt. In der nächtlichen Schwärze war er nur schwer auszumachen. Sein plötzliches Auftauchen überraschte Una. Weder hatte sie ihn erwartet, geschweige denn gehört. Sie kam sich vor wie eine Jagdbeute, die sich nicht gegen den lautlosen Räuber der Tiefe wehren konnte.

„Arnold sagte, du hast gut mitgemacht“, sprach er gedehnt. Es klang aus seinem Mund nicht nach einem Lob.

„Ich habe getan, was ich konnte“, entgegnete sie ihm kühl.

Er brummte kurz etwas Unverständliches und kam in den Raum hinein. Una wich vor ihm zurück.

Ihr Bett nahm er kritisch in Augenschein, sagte jedoch nichts dazu.

Dann betrachtete er sie von oben bis unten. Es war ihr sehr unangenehm.

„Du hast dich nicht verändert“, stellte er mit Verachtung fest. Seine langen Finger strichen über den Stoff ihrer Jacke. Die Nägel kratzen darauf. „Und du trägst immer noch dieses Menschenzeugs.“

„Mir ist halt kalt.“

„Blödsinn“, knirschte er mit seinen spitzen Fischzähnen und seine Krallen rissen mit einem blitzschnellen Ruck die Nähte des Anoraks auseinander. Ängstlich zuckte Una weiter vor ihm zurück, bis sie die morsche Mauer im Rücken hatte.

„Einem echten Wassergeist ist nie kalt!“, fauchte er sie an. Sein Tonfall klang vor Wut ganz heiser. Die Nüstern seiner flachen Nase blähten sich, goldene Augen glänzten boshaft im Dunkeln. „Menschen tragen Kleider, weil sie schwach sind gegenüber den Elementen. Sie tragen sie zum Schutz.

Ich muss mich nicht schützen. Und du solltest es auch nicht.“

Ihr furchtsames Herz hätte auf Hochtouren in ihrer Brust schlagen müssen, als sie mit bebender Stimme erwiderte: „Ich bin nicht wie du. Du bist ein Monster.“

Sie hörte den kalten Zorn in seiner Kehle grollen.

„Du hast keine Ahnung, wer das Monster ist“, flüsterte er gepresst.

Augenblicklich wandte Sharik sich von ihr ab, schwamm zum Ausgang. Dünnes Mondlicht beschien seinen grün gefleckten Rücken. Una sackte erleichtert zusammen, froh, nicht mehr seine einnehmende Nähe ertragen zu müssen.

„Arnold sagte auch, du hast Hunger“, bemerkte er, bemüht, eine stoische Ruhe zu bewahren.

„Ich würde ihn eher ertragen, als Menschenfleisch zu essen“, zürnte sie ihm.

„Es wird allgemein dauern, bis ich etwas erjagen kann. So lange hast du Zeit, deine Meinung zu überdenken. Wir haben nicht viele Alternativen“, betonte er eindringlich ihre Zugehörigkeit zu seiner Art, „und ich habe keine Probleme damit, das zu töten, was mich bedroht.

Mach, was du für richtig hältst, aber heule nicht rum“, gab Sharik ihr eine schroffe Abfuhr, bevor er mit einem kräftigen Flossenschlag davonschwamm.

Una ließ sich auf das Bett sinken. Sie fühlte sich hundeelend. Steif zog sie die kaputte Jacke aus, die ihre Mutter ihr vor einem Jahr erst gekauft hatte. Violett mit schwarzen Verzierungen an den Säumen. Sie erinnerte sich an den Laden und wie sie sich gefreut hatte, als ihr Vater sagte, wie schön sie damit aussah …

Und dieser Kerl riss sie auseinander.

Sie würde die Jacke dennoch behalten. Aufbewahren als Erinnerung an ein verlorenes Leben. Der erste Gegenstand in ihrer neuen Wohnung.

Una legte sich hin. Benutzte den Stoff als Kissen.

Es war wirklich nicht kalt.

Trotzdem würde sie nicht so schnell einschlafen können, wie in ihrem richtigen Zuhause.