Die Stunden der Nacht

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7

Vom Boden aufgelesen

Nachdem sie sich etwas gesammelt hatte, fand sie doch noch in der Hosentasche einen zerknüllten Fünfer-Schein. Von diesem kaufte Dani beim Bäcker Brötchen und einen heißen Kaffee. Zu heiß, als dass sie ihn tragen konnte, nahm sie Unmengen Zuckertütchen zur Hand und setzte sich in den beheizten Vorraum, um dort darüber nachzudenken, wie sie es nur fertiggebracht hatte, dem Tod von der Schippe zu springen.

Unter welchem Stern war sie geboren worden, dass die Lichtfänger sie abermals verschonten?

Kaum einer konnte das von sich sagen.

Ja, eigentlich gar keiner.

In dieser Nacht war ein Kind gestorben. Ein so kleines, junges Leben, das noch alles vor sich hatte. Es starb schwach, unbedeutend und sinnlos; wie eine Fliege, die von einer höheren Macht zerquetscht wurde. Einfach, weil diese Macht über Leben und Tod entscheiden konnte. Das Kind starb, während Dani überlebte.

Seufzend dachte sie daran, wie die Eltern sich fühlen mochten. Zerrissen zwischen Wut und Trauer, wie sie vor vielen Jahren. Es war niemals schön, einen geliebten Menschen zu verlieren. Waren Vater und Mutter bereits wach? Hatten sie bemerkt, dass jemand bei ihnen eingebrochen war, um ihr Baby zu stehlen? Nicht mal, um es zu fressen, nein. Es lag verrottend im Hof und würde von Ratten angenagt werden, ehe es jemand finden konnte.

Würde es heißen, es sei ein bedauerlicher Unfall? Würde man es so auslegen, dass das Kind nachts aus dem Bett – gar aus dem Fenster gefallen wäre? Würden die Eltern das glauben?

Wahrscheinlich wäre der Gedanke noch immer vernünftiger als die Existenz der Lichtfänger.

Warum haben sie es nicht gefressen?, dachte sie ernsthaft nach. Der Welpe hätte es sicher getan. Der Blaue auch. Was hatte der Alpha daran auszusetzen?

Wenn sie nur wüsste, worum es bei ihren Gesprächen gegangen war …

Gedankenverloren rieb Dani ihre kalten Oberschenkel. Zu Hause wartete ein warmes Bett auf sie. Und sie musste noch Robert anrufen, um … Moment.

Sie tastete sich ab. Noch mal zur Sicherheit. Tastete an ihren Gürtel.

Ups.

Augenblicklich verfiel sie in Panik.

Hastig stopfte sie sich die Brötchen in die Jackentaschen und trank den heißen Kaffee, auch wenn sie sich die Zunge verbrühte. Dann stürmte sie aus dem Geschäft, dass die Verkäuferin ihr nur verwirrt nachschauen konnte.

Ich bin so ein Idiot!, schimpfte Dani mit sich und rannte zurück zum Torbogen.

Die Taschenlampe! Die hab ich voll vergessen!

In einem Hof, der mit einer Leiche aussieht wie ein Schlachtfeld! Kann man so dumm sein?

Na ja, gab sie sich besser keine Antwort.

Zumindest um die Lichtfänger musste sie sich nicht mehr sorgen.

In der knappen halben Stunde, die sie beim Bäcker verbracht, ihre Wiedergeburt gefeiert und die Toten betrauert hatte, war die eintretende Dämmerung vorangerückt zu einem weißen Streifen am Horizont über der Stadt, der sicher alle Kreaturen der Nacht vor der brennenden Morgensonne warnte. Demnach war der Hinterhof wie leer gefegt, da Dani ihn beinahe stürzend erreichte. Sie war auf irgendetwas am Boden ausgeglitten und verzerrte sich das Bein.

Egal, ignorierte sie den dumpfen Schmerz und sah sich händeringend um.

Ihre Taschenlampe lag nicht dort, wo sie sie hatte fallen lassen. Das, was sie von ihr noch fand, waren kleine Plastikteile, zertreten, zerquetscht und verteilt über das dunkle Pflaster, welches im Schatten der Häuser lag.

Irgendwie erleichtert beruhigte sich Dani wieder. Unter den Umständen wären Fingerabdrücke und Ähnliches schwer zu gebrauchen. Die losen Splitter fänden nicht mal als Beweismaterial Beachtung … Bedauerlich war es dennoch. Das bedeutete nämlich, sie musste Geld für eine neue Leuchte zurücklegen. Die Garantie griff sicher nicht bei Dämonenschaden.

Sie hockte sich nieder und hob die Fassung der winzigen Glühbirne auf. An ihren Fingern klebte dabei noch etwas anderes.

„Was zum Geier …“, murmelte sie für sich und fühlte. Es war eine Flüssigkeit, schwarz und zähflüssig wie Öl oder Zuckerrübensirup. Vorsichtig roch sie daran. Es stank nicht nach Treibstoff oder sonst wie chemisch. Es erinnerte sie an einen Geruch wie … Erde. Nein, Moos. Das Zeug roch nach feuchtem Moos.

Jetzt schaute Dani genauer hin. Das war das Geschmiere, auf dem sie vorhin ausgerutscht war. Die Pflastersteine waren nicht nur wegen des Nachtschattens so schwarz. Sie waren beschmutzt, bekleckst mit diesem … Noch einmal strich die junge Frau mit dem Finger über den nassen Boden.

Ist das vielleicht …

Voller Abscheu schüttete sie es von sich ab.

Der Hof war getränkt mit Dämonenblut!

„Scheiße!“, fluchte Dani deftig und blicke sich suchend um. Liegt jetzt mehr als eine Leiche hier herum? Noch besser, eine Dämonenleiche! Wenn die Polizei die findet, sind die Nachrichten heute klar!

Nervös und mit bebendem Herzen versuchte sie, den Verlauf des Kampfes zurückzuverfolgen, der hier eindeutig vor wenigen Minuten stattgefunden hatte. Wie auch immer die Wölfe untereinander gewütet haben mussten, das Opfer ihrer Wut schien regelrecht zerfetzt worden zu sein. Große Blutlachen sammelten sich überall in der nahen Umgebung an. Ein Fleck an der Wand könnte bedeuten, dass der Graue mit aller Macht dagegen geschleudert wurde. Schleifspuren zogen sich über Mauern und Grund. Sie glaubte sogar, Fell- oder gar Fleischfetzen im Halbdunkel zu erkennen. Die frischeste Fährte aus schwarzen Blutstropfen führte ihre Aufmerksamkeit zu den Schatten unter dem linken Balkon vom Erdgeschoss. Mit letzter Kraft musste sich der Verwundete in den schmalen Spalt zurückgezogen haben. Anscheinend war er noch klar genug bei Verstand, um zu wissen, dass er dort sicher war vor dem schnell heraneilenden Morgenlicht.

Oder er suchte bloß einen ruhigen, unbehelligten Ort zum Sterben.

Geistesgegenwärtig nahm Dani den alten Kehrbesen zur Hand, der quer beim Schuppen lag und schlich sich an den mit Holz verkleideten Korb heran. Sie musste auf dem besudelten Boden in die Knie gehen und sich bückten, um unter das Balkongestell zu sehen. Erschrocken wich sie für einen Moment zurück. Der Anblick, der sich ihr bot, verstörte die junge Frau ungeahnt heftig.

Tatsächlich lag dort die schwarze Kreatur, zu einer riesigen Pelzkugel zusammengekrümmt im schützenden Dunkel. Unmengen von Spinnweben, Rattendreck, welkes Laub und Abfall verklebte das zottige, stinkende Fell, das die Gestalt umwickelte wie ein altmodischer Flokatimantel.

Nachdem sie sich beruhigt hatte, musste Dani auch stutzen. Das, was sie von dem Monster erkannte, sah irgendwie verändert aus. Noch konnte sie nicht mal sagen, woran sie das festmachte, doch der Lichtfänger wirkte auf sie … dünner als vorher. Groß war er geblieben, natürlich, jedoch auch … anders. Schmaler. Tapfer atmete sie durch, packte den Besenstiel fester und stieß den Körper mit dem Borstenkopf an.

Eine Reaktion blieb aus.

Von dem Berg aus Fell ging offenbar keine Bedrohung mehr aus.

Lebt er noch?, schätzte sie die Situation ab. Der Alpha sagte ja, sie hätten etwas unter sich zu klären. Die Strafe des Verräters? Hat er mit seinem Leben bezahlt, weil er mich damals nicht getötet hat?

Noch einmal stieß sie zu, doch der Dämon rührte sich wieder nicht. Unter dem gerollten Leib hatte sich eine Pfütze aus schwarzem Blut gebildet.

Wie viel muss er davon verlieren, um zu sterben?, stellte sie sich die Frage und sah diesen Giganten aus Knochen, Fleisch und Haaren mit gemischten Gefühlen an. Sie konnte hören, wie die Wunden tropften.

Er ist tot. Der grauäugige Teufel, der meine Familie zerstört hat, ist tot. Elendig verreckt am Blutverlust.

Wieso stimmte sie das nicht fröhlich? Müsste sie sich nicht freuen? Ihr Plan hatte doch wie erhofft funktioniert und der Lichtfänger wurde von seinem eigenen Rudel zerfleischt. Er hatte gebüßt. Die gerechte Strafe erhalten.

Aber Dani war damit nicht glücklich.

Ein drittes Mal stach sie das Fellbündel an und rief: „Hey!“

Als keine noch so geringe Antwort kam, kroch sie ebenfalls unter den Balkon. Das zähflüssige Blut weichte ihre Kleider durch, ließ den Stoff an der Haut kleben. Auf den Unterarmen robbte sie sich näher an den Körper heran und streckte die Hand nach dem Monster aus. Ihre Finger fassten in die dichten, glitschig-nassen Haare hinein. Sie unterdrückte ihren aufsteigenden Ekel, bis sie etwas Greifbares fand und kraftvoll daran zog. Das Geschöpf geriet unweigerlich in Bewegung, willenlos gleich einer kaputten Puppe.

Mit einmal hielt Dani ein nacktes Handgelenk fest. Irritiert musterten ihre Augen die erstaunlich menschlich wirkende Gliedmaße.

Eine blasse, grauhäutige, blutverschmierte Hand. Mit scharfen Krallen statt Nägel an den schlaffen, einstmals starken Fingern. Der Ringfinger fehlte. Wo er mal war, gab es nur einen vernarbten Stumpf.

Angewidert ließ sie die Hand auf den dreckigen Boden fallen.

Ein leises Röcheln kroch aus dem Fell. Der Wolf atmete flach und ein plötzlicher Hustenanfall schüttelte den ganzen Leib. Die Geräusche aus seinem Brustkorb klangen, als würden Samen in einer Kapsel rasseln.

Er lebt also.

Noch.

Einen Moment lang dachte Dani daran, dem ein Ende zu setzen. Diese verfluchte Bestie hätte bei der Entscheidung sicher nicht gezögert. Monster töteten schließlich ohne Gnade oder Moral. Sie würden nicht mal denjenigen schonen, dem sie etwas schuldig wären.

 

Leben und Leben lassen kennen die Typen nicht.

Sie jedoch war ein Mensch.

Und ein Mensch handelte nicht wie ein Ungeheuer.

8

Schuldtilgung

Jules fiel fast aus dem Bett, als er Danis Schläge gegen die Metalltür hörte. Umgehend zog er sich seinen alten grauen Bademantel über den ausgeleierten Schlafanzug und fuhr mit den Füßen in die Großvater-Pantoffeln. Einen kurzen Augenblick hielt er inne und dachte mit Schaudern daran, wie steil es mit seiner Jugend bergab ging, bis das donnernde Hämmern der Tür ihn wieder an seine Freundin erinnerte.

„Hast du den Schlüssel verloren?“, gähnte er, während er ihr öffnete und schreckte sogleich zurück.

Schweißgebadet, mit rotem Kopf und knirschenden Zähnen stand Dani vor ihm im schwachen Licht des neuen Tages und er musste keinen Abschluss in nonverbaler Kommunikation haben, um ihre Verbitterung und Erschöpfung zu verstehen. Was ihn aber noch mehr entsetzte, war die schwarze Schmiere, die ihr Gesicht und ihre Kleidung besudelte. Und das riesige Geschöpf, welches sie schulterte. Zuerst sah er nur langen Pelz, pechschwarz und zerlumpt. Schließlich eine Art Maske … ein Wolf?

„Bei allen Göttern!“, entfuhr es ihm augenblicklich und er schlug die Hände über seinem Kopf zusammen.

„Die kannst du später noch anrufen!“, keuchte Dani gereizt. „Hilf mir, den Mistkerl reinzutragen! Der ist verdammt schwer!“

Obwohl er lieber eine Erklärung von ihr gehört hätte, ging Jules schnell ihrem Wunsch nach, trat ihr zur Seite und nahm den anderen Arm des Dämons auf seine schmalen Schultern. Wieso sah der Lichtfänger eigentlich aus wie ein Mensch? Ein Mensch mit Wolfsmantel und Wolfsmaske, als wäre er unterwegs zu einer Faschingsparty! Hinter der leer erscheinenden Schädelhülle des noch immer mit Zähnen gespickten Mauls erblickte er einen schmallippigen Menschenmund. Dazu klebte dieses schwarze Zeug an ihm wie … Blut! Schwer war der außerdem wirklich! Jules schätzte das Gewicht auf gut hundert Kilo – und das bestand sicher nicht aus Körperfett.

Als beide den Wolfsmann schwer atmend durch die Tür in den Wohnbereich hievten, konnte Jules sich den Spott an der Situation irgendwie nicht verkneifen und scherzte: „Kannst du nicht wie jede andere Frau eine Katze auflesen? Oder einen kleinen Streuner? Aber nein, du schleppst um sieben Uhr in der Frühe ein hünenhaftes Monster an! Echt mal, Dani, wir sollten darüber reden …“

„Das kann warten!“, stöhnte sie genervt und steuerte das grüne Sofa an.

Jules allerdings stoppte ihr Vorhaben mit dem Argument: „Willst du etwa das gute Polster mit den Flecken versauen?“

„Fein, ist mir auch recht! Hauptsache ist ja, ich bin mit dem raus aus der Sonne!“ Und an Ort und Stelle ließ sie den Verwundeten gleich einem nassen Sack lieblos auf den ramponierten Perserteppich fallen. Weil Jules ihn nicht allein tragen konnte, musste er ebenfalls loslassen.

Nun lag ein ausgewachsener Dämon regungslos zu ihren Füßen.

„Was zur Hölle ist dort draußen passiert?“, wollte Jules laut werdend endlich wissen. „Ich dachte, du wolltest so einen umbringen! Stattdessen schleppst du den Werwolf hier an! Lebt der noch? Hast du den derart zugerichtet? Mädchen, wir sollten deine Aggressionen besprechen! Was denkst du dir eigentlich dabei? Abgesehen davon, wieso ist der ein Mensch -“

Stöhnend zog Dani mit angeekelter Miene die beschmierte Jacke aus und warf diese von sich.

„Ach, was weiß ich denn?“, maulte sie barsch und stampfte wütend auf. „Ich hab das Rudel aufgespürt, hab den Kerl gefunden, der meine Eltern gekillt hat und dafür gesorgt, dass er das Fell gegerbt bekommt! Und doch kann ich irgendwie den Typen nicht verrecken lassen!“

„Nicht -“, leuchteten Jules ihre Worte ein. „Der lebt also?!“

„Vielleicht, ein wenig.“ Sie zuckte kaltherzig die Achseln. „Schau doch selber nach, du bist hier der Arzt!“

„Doch nicht für Dämonen! Die haben möglicherweise eine ganz andere Anatomie!“

„Und ist das mein Problem oder seines?“, wurde Dani bösartig. „Ich wollte nicht, dass die Polizei ihn findet, darum hab ich ihn mitgenommen! Und ja, ein bisschen leid tat er mir auch! Ich hab ihn ans Messer geliefert und fühl mich schlecht deswegen! Dabei sollte es mich nicht kümmern, was mit dem Drecksack ist! Wenn er stirbt, kannst du ihn ja aufschneiden! Verflucht, ich hab eine Scheiß-Nacht hinter mir, Jules! Ich hab diesen Köter meterweit hierher getragen und bin fertig! Mach das Beste draus!“

Schon hob er abwehrend die Hände und gab still klein bei. Es musste nicht sein, dass er sie noch mehr auf die Palme brachte, sonst würde sie ihren Zorn doch nur wieder an dem armen Teufel auslassen.

Somit ließ Jules von ihr ab und beugte sich zu dem verletzten Körper hinunter. Das dunkle Fell tropfte nass den Boden voll, roch erbärmlich und war teilweise schon verkrustet von dem schwarzen Blut. Wie ein Mantel bedeckte es den Leib, Hände und Füße blieben nackt, und die Nägel waren Krallen, die der Wolf scheinbar wie eine Katze etwas einziehen konnten. Das würde er sich später noch mal genauer ansehen …

Er drehte das fremde Wesen auf den Rücken und untersuchte die riesige Schädelmaske. Zähne, Schnauze, Ohren, Haare – die Verkleidung musste zum Leben erwachen, wenn er zum Tier wurde. Ein Formwechsel, Metamorphose – selbstverständlich hatte Jules an so was bereits gedacht. Zögerlich griff er nach dem Kiefer und zog die Maske wie eine Kapuze vom Kopf des Mannes.

Das Gesicht darunter hatte sehr menschliche Züge. Der Dämon wirkte relativ jung, human gedacht irgendwo in den Ende Zwanzigern oder Anfang Dreißigern. Er besaß kantige Wangenknochen und ein starkes Kinn, eine gerade Nase und seine Augen hatte eine exotische Form, wie er sie maximal den Asiaten zugeschrieben hätte, wenn überhaupt. Das Kopfhaar war rund sieben Zentimeter lang, struppig und schwarz wie sein Pelz. Die Hautfarbe ging mehr ins gräuliche und seine dünnen Lippen, die leicht geöffnet waren, dass er die Reißzähne und das schwarze Zahnfleisch sehen konnte, erinnerten an dunkle Bleistiftstriche.

„Interessant“, verkündete Jules seine ersten Erkenntnisse laut, „sein Blut ist schwarz. Darum ist die Haut grau und alles weitere, was unser rotes Blut rot oder rosa färbt, ist auch schwarz – beziehungsweise grau. Das ist faszinierend.“

„Und wie sieht es sonst mit ihm aus? Hat ja einiges abbekommen“, meinte Dani gefasst und beschaute sich das zerschlagene Gesicht. Es war übersät von Krallenspuren und Prellungen. Blut rann aus dem Mundwinkel und ließ innere Wunden vermuten.

Jules öffnete den knopflosen Kragen des Fellmantels. Der Hals war aufgebissen, die Kehle lag frei und zuckte leicht. Die blutigen Risse gingen tief und lang durch das graue Muskelfleisch, das von dunklen Adern und weißen Sehnen durchzogen war.

„Dass der echt noch leben soll – igitt!“, zischte der Professor überraschend und schüttelte die Hand aus. An den Fingern klebte nicht nur der flüssige Teer, sondern auch ein klares, sehr schleimiges Sekret, das vom Fell abgesondert wurde und furchtbar nach Raubtier stank.

„Was ist das?“, wollte Dani trotz allen Widerwillens wissen.

„Keine Ahnung“, grummelte er verstimmt, aber als er das Fell weiter von der Haut abzog, glibberte das Zeug erneut an ihm. „Scheint eine Art … Klebstoff oder … Schutzschicht zu sein. Hält vielleicht in dieser Form das Fell fest, ich weiß es nicht …“

Harte Krallenhiebe zierten die durchtrainierten Brustmuskeln, sodass die Menschen direkt auf gebrochene Rippenknochen sehen konnten. Darunter lagen die schwarzen Organe, die schwach pulsierten und glänzten wie geölte Zahnräder in einer Uhr.

Im Studium hatte Jules ein Unfallopfer obduziert. Die Person war von einem LKW gerammt worden und nichts war im Körper dabei heil geblieben. Irgendwie musste er bei diesen Verletzungen daran denken. Mit dem Unterschied, dass dieses Geschöpf hier noch atmete.

Vorsichtig tastete er den zertrümmerten Brustkorb ab und zuckte positiv verwundert zusammen.

„Was?“, reagierte seine Freundin eher ungehalten.

„Fühl mal hier, Dani!“, lud er sie freudig ein, es ihm gleich zu tun.

Sie tat ihm den Gefallen, wenn ihr auch nicht klar war, was er damit bezwecken wollte. Die fahle Haut des Lichtfängers fühlte sich kalt und straff über den Knochen gespannt an. Am liebsten hätte sie die Hand von diesem schmutzigen, stinkenden … sie stutzte.

„Das … das ist ein Herzschlag“, stellte sie fest.

„Ja“, nickte er mit einem breiten Grinsen ihr zu, „dieser Dämon hat ein Herz. Ein sehr starkes dazu, denn trotz dieser Wunden ist er nicht totzukriegen.“

Angewidert nahm sie die Hand von der glitschigen Brust und beteuerte griesgrämig: „Viele Mörder und Vergewaltiger haben ein Herz. Das gehört nun mal zum Leben dazu. Es macht ihn zu keinem Heiligen.“

„Aber vielleicht zu einem fühlenden Dämon. Weißt du, ich denke eigentlich nicht, dass seine und die menschliche Mentalität sich groß voneinander unterscheiden. Bestimmt lässt er mit sich reden und ihr beide könnt einen Kompromiss finden. Vorerst sollten wir ihn klar zusammenflicken“, gab er sich hoffnungsvoll und wies sie an: „Hol mir bitte die kleine Autobatterie von Luke. Ein Stromstoß wird ihm sicher guttun …“

Gerade wollte Dani sich aufmachen, da bemerkte sie, wie die verstümmelte Wolfsklaue sich bewegte. Die Krallen fuhren sich aus und der wunden Kehle entwich ein leises Stöhnen. Die Augenlider flatterten.

Krampfhaft hustete der Dämon Blut.

„Hey“, sprach Jules ihn ruhig an, „keine Sorge. Es wird alles gut.“

Die grauen Raubtieraugen rissen auf.

Mit einem Satz sprang der Lichtfänger vom Boden hoch, jedoch konnte er sich wegen der Schwere seiner Wunden nur schlecht aufrecht halten. Trotzdem stürzte er auf allen vieren in Sekundenschnelle viele Meter von den Menschen fort. Taumelnd stieß er gegen einen Schrank, gegen den Sessel, und fühlte mit einem Knurren, wie durch die hohen Fensterscheiben frühes Sonnenlicht auf ihn fiel. Sofort hastete er ins Dunkel, kam hechelnd vor Verwirrung zum Stehen und hob drohend die linke Pranke den Fremden entgegen. Er würde nach jedem ausschlagen, der ihm zu nahe käme. Blut und Speichel tropfte aus seinem Zähne zeigenden, schwer atmenden Maul.

Erstarrt verharrten die Menschen ihm gegenüber.

„Ganz ruhig“, versuchte Jules es erneut mit sanften Worten und trat einen leichten Schritt vor. Der Wolf knurrte gurgelnd und die Krallenhand stieg höher, auch wenn er Probleme hatte, sie und sein Gleichgewicht zu halten. Schnaufend witterte er den Geruch ihres Fleisches. Sein trüber Blick flog ziellos umher.

„Jules“, machte Dani ihn auf etwas aufmerksam, jedoch hatte der Professor bereits den kritischen Zustand der Kreatur erfasst.

Der Wolfsmann stand kurz vor dem Black-out. Wahrscheinlich konnte er nicht mehr richtig sehen, riechen oder hören. Allein seine zutiefst animalischen Instinkte sagten ihm, dass er nicht allein war. Den wankenden Bewegungen nach, kostete es ihm alle Kraft, einigermaßen aufrecht zu stehen. Das schwarze Leben floss aus seinem Fell, als sei er in den Regen gekommen. Das linke Bein schien gebrochen. Und mit Sicherheit sein rechter Unterarm. Er drückte die verletzte Gliedmaße an sich wie ein Kind sein Lieblingsstofftier.

„Keine Angst, wir können dir helfen“, versuchte Jules weiter, zu ihm durchzudringen. Ratsuchend fragte er seine Freundin: „Hast du seinen Namen gehört?“

Dani dachte kurz nach und antwortete: „Amon.“

„Amon“, wiederholte er den Namen und sprach zu dem Lichtfänger, „wir werden dir nichts tun.“

Dieser knurrte nur lauter, obwohl sein zerfetzter Hals dafür gar nicht mehr geeignet war. Es ließ nur eine weitere Ader in der Wunde platzen. Die Schmerzen mussten unvorstellbar sein …

„Lass dir helfen, Amon.“

Schwankend versuchte der nach Jules zu schlagen, jedoch war der Mann zu weit von ihm entfernt. Sein Handeln führte bloß dazu, dass er endgültig den Halt verlor und zu Boden ging. Keuchend unternahm er noch einen letzten Versuch, aufzustehen. Er krampfte, hustete und spuckte einen säuerlich riechenden Klumpen auf den Perserteppich. Dann fielen ihm die Augen zu.

„Ist er jetzt tot?“, war Danis berechtigte Frage.

Langsam trat Jules näher an den Wolfsmann heran. Dieser rührte sich zwar nicht mehr, doch er befürchtete weiterhin, dass der Kerl abermals wie ein infernales Schachtelmännchen aufspringen und sich zusätzlich schaden könnte. Aber der Wolf blieb liegen und zum Glück fand sich bald ein schwacher Herzschlag.

 

Sichtlich erleichtert atmete Jules durch und wollte seiner Freundin die Nachricht gerade zukommen lassen – als er Rauch roch.

„Dani!“, rief er und zeigte panisch hinter sie.

Diese sah gerade noch, wie ihre so arglos beiseite geworfene Winterjacke zu schwelen begann und dann mit einem Zischen gleich Feuer fing! Hektisch griff die junge Frau nach einem Sofakissen und versuchte, die Flammen zu ersticken. Doch als sie den Lichteinfall betrat, in dem das Kleidungsstück badete, fühlte sie, dass ihrer Haut, ihr Haar, ihre Hosen ebenfalls warm wurden und dampften. Nein, nicht direkt sie. Es war das Blut des Dämons, welches sich ähnlich Kerosin entzündete. Es verbrannte, sobald Sonnenlicht es berührte.

Dani sprang zurück in den Schatten. Jules warf seinen Bademantel auf ihre Jacke, zog beides aus dem Licht und gemeinsam löschten sie den Brand.

„Alles okay?“, japste er aufgeregt. Einen solchen Start in den Tag hatte er nicht für möglich gehalten. Ein aufgelesener Dämon mit hochentzündlichem Blut war der krasseste Wecker, den er je erlebt hatte.

„Alles okay? Quatsch!“, schimpfte Dani aufgebracht. „Hier ist gar nichts okay, Jules! Ich bin voll mit Blut, das in der Sonne explodiert, und dieser Dreckskerl -“

„Aber du bist sicher!“, durchfuhr er ihre Anschuldigungen. „Dir passiert nichts, solange du nicht im Licht bist. Damit hast du selbst gespürt, wieso diese Wesen das Tageslicht fürchten. Es ist nicht ihre Haut, die brennt. Es ist ihr Blut! Es verbrennt sie von innen heraus! Ist das nicht Wahnsinn?“

Seine wissenschaftliche Euphorie konnte Dani nicht teilen. Zornig betrachtete sie den Mantel, unter dem es noch nach verkohltem Stoff stank und fluchte: „Ja, es ist Wahnsinn! Wahnsinn, was ich mir dabei gedacht habe, dieses Arschloch hier anzuschleppen! Wieso hatte ich nur mit dem Kerl Mitleid? Der hatte schließlich auch keins mit mir!“

„Na ja, du fühlst dich halt schuldig, soweit hab ich verstanden. Sieh es positiv!“, sagte Jules grinsend und tätschelte ihr die Schultern. „Zumindest musst du dir keine Gedanken um Spuren machen. Dort draußen wird jeder Tropfen Blut, den er bis hierher verloren hat, bis zur Mittagsstunde verschmort sein.“

Beim Gedanken an den verschmutzten Hof war ihr das tatsächlich ganz recht.

„Was wir jetzt erst mal brauchen, ist eine Menge Verbandszeug“, schmiedete der Professor Pläne und blickte zu dem Dämon hinüber, der bewusstlos liegen geblieben war. „Und ich würde jetzt endlich gern erfahren, in was für ein Chaos du mich hier geritten hast, Dani.“