Deadman's Hostel

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Z serii: Deadman's Hostel #1
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Nachdem Sheryl eine Stunde lang gelesen hatte, legte sie das Buch beiseite. Es tat ihr nicht gut, von einem Schulalltag und Familienleben zu lesen, das sie niemals mehr so erleben würde. Keine Treffen auf dem Schulhof. Kein Anstehen in der Kantine. Keine verliebten Zweisamkeiten mit Gleichaltrigen. Keine heimlichen Blickkontakte. Keine Gute-Nacht-Küsse.

Diese zerrissene Romanze erschien ihr fast schon abgedroschen gegenüber der Tragödie, die sie hier am eigenen Leib erlebte. Ein junges Mädchen in der sexuellen Gewalt eines alkoholkranken Mannes, der ihr für gewisse Dienste Leben und Freiheit schenkte. Sollte sie jemals aus dieser Wüste herauskommen und ein ordentliches Leben führen, würde sie wahrscheinlich ihre Geschichte an einen Autor verkaufen.

Schweiß lief ihr über die Stirn. Im Zimmer war es unerträglich warm.

Sie öffnete die Tür und ließ die kühle Luft vom Korridor herein.

Und obwohl das Buch sie nur mäßig unterhielt, zwang sich das Mädchen dazu, weiterzulesen. Mehr konnte Sheryl im Hostel derzeit nicht tun.

4

Der Geruch von verbranntem Tabak weckte sie.

Irritiert stellte das Mädchen fest, dass sie im Sessel eingeschlafen war und inzwischen war der Tag vergangen. Die Nacht zwinkerte ihr durch die Jalousielamellen zu. Das Buch war aus ihrer Hand gerutscht und lag mit umgeknickten Seiten am Boden.

Die Erschöpfung von der langen Reise musste sie stärker getroffen haben als angenommen. Mit Kraft hatte Sheryl nie prahlen können.

„Ist nach elf …“, informierte sie eine raue Stimme über die Uhrzeit.

Im Stockdunkeln vor ihr lehnte Ace im noch immer offenen stehenden Türrahmen. Seine große Gestalt wirkte beklemmend und faszinierend zugleich, wie der Anblick eines schwarzen Monolithen. Die Glut seines Glimmstängels erhellte beim Zug rot das kantige Gesicht. Mit finsteren Augen, die ihr wohl ewig einen Schauer über den Rücken jagen würden, starrte er zu ihr in das Zimmer hinein.

„Musst du im Haus rauchen?“, beschwerte sie sich zurückhaltend über den Gestank.

„Würd selbst im Tod noch rauchen“, feixte er frech. Sein Atem roch scharf nach Alkohol. Die eckige Flasche Bourbon, die er bei sich trug, war bis auf wenige Schlucke geleert. Wie bereits gestern Abend war er sturzbetrunken.

Seufzend schüttelte Sheryl über seine Unvernunft den Kopf.

„Hab mit dem Boss geredet, Kleines“, murmelte er und hatte sofort ihre volle Aufmerksamkeit. „Meint, kannst bleiben … solang du tust, was ich dir sag. Kein Schnüffeln, kein Nerven, kein In-die-Quere-komm’. Unser Deal ist ihm egal – Hauptsache, der Job leidet nicht drunter. Mehr interessiert den nicht.“

Was für ein komischer Boss, dachte sie misstrauisch. Das klang so, als ob seine Angestellten mit allem durchkommen könnten – vorausgesetzt sie erfüllten auch weiterhin ihr Pensum. Das warf die Frage auf, wer von beiden unmoralischer war: Ace oder sein Chef? Am Ende akzeptierte der sogar Mord, solange die Zahlen stimmten. Ob das Hostel der Mafia gehörte?

„Danke“, sagte sie trotzdem.

„Wie du meinst …“, erwiderte er unpassend und trank aus. Stieß geräuschvoll auf.

Sie seufzte. Ich verlange ja keinen Prinzen, aber das …

Da fiel ihr die Warenliste ein. Sheryl stand vom Sessel auf, schnappte sich diese vom Tisch und hielt sie Ace vor die Nase. Der aber ignorierte das Schreiben. Sie zog die Hand zurück.

„Ich habe mir ein paar Dinge aus dem Lager genommen. Ich dachte, ich schreib sie dir auf. Interessiert dich das nicht?“

„Erst wenn’s alle wird“, sprach er gediegen. „Kannst dir nehm’, was du willst. Kannst alles kriegen, was du willst. Ich will bloß meine Bezahlung …“

Die Zigarettenglut ließ seine Augen funkeln. Oder lag das am Alkohol?

„Bist du deshalb hier?“, fragte sie ernst.

„Größtenteils“, gestand er grinsend. „Dazu die Nachricht und weil die Tür offen war. Gehörst mir doch jetzt, Schätzchen. Und was mir gehört, teil ich nicht gern mit andren. Weißt ja nie, wer hier nachts noch rumschleicht …“

Niemand, du versoffener Idiot. Deine imaginären Saufkumpane zähle ich nicht dazu. Wir sind allein.

Dennoch schloss Ace die Tür hinter sich, als er ins Zimmer trat. Seine Zigarette drückte er auf ihrem leeren Essteller aus, der auch auf dem Tisch stand. Obwohl sie sein Benehmen missbilligte, hatte sie andere Sorgen. Ihr Herz begann wieder schneller zu schlagen, je mehr er sich wie eine Wand vor ihr aufbaute.

„Los, Hose aus und umdrehen!“, befahl er rau.

Nervös schlüpfte sie aus der geliehenen Camouflage-Hose und kehrte ihm den Rücken zu. Sie stand nun vor ihrem Bett.

„Vorbeugen!“, kam die nächste Weisung und sie hörte, wie er seinen Reißverschluss öffnete. Die Angst ließ ihre Beine zittern, doch was hatte sie für eine Wahl? Gehorsam stützte sie sich mit den Armen auf der Matratze ab und ließ es über sich ergehen. Als Teil des Geschäfts.

„Miete und Verpflegung. Was zieh ich dir da ab, Süße?“, flüsterte Ace erregt und trat nah hinter sie. Sein Glied drückte hart und heiß gegen ihre Gesäßfalte.

Sie presste die Lippen aufeinander und machte sich bereit.

„Scheiße“, hörte sie ihn rau sagen. „Wird ’ne lange Nacht.“

Ein pfeifender, abgehackter Ton weckte Sheryl aus der Ohnmacht auf.

Zunächst wusste sie nicht, warum sie nackt und nach kaltem Schweiß stinkend auf ihrem Bett lag, die grüne Decke halb über den schlaffen Körper ausgebreitet. Beim leichten Aufrichten meldete ihr physisches Ich einen klaren Schadensbericht an das Gehirn: bleischwere Glieder, schmerzender Unterleib, Übelkeit, Kopfschmerzen und Schwindelgefühl. Wer dafür verantwortlich war, lag auf der Hand.

Oder besser, knapp von ihr entfernt am Boden.

Leise schnarchend, den einen Arm als Nackenstütze nutzend, schlief Ace auf dem blauen Teppich seinen Rausch aus. Etwas Speichel lief ihm aus dem leicht geöffneten Mund, das blonde Haar war zerzaust und seine Kleidung arg zerknittert. Aber immerhin – bis auf einen lose Gürtel – geschlossen.

Gegen alles Leid ankämpfend, versuchte Sheryl sich an die letzten Stunden zu erinnern.

Okay, er war zu mir gekommen, dachte wieder mal nur an sich und …

Es schauderte sie bei der Vorstellung, wie er hinter ihr gestanden hatte und sich nahm, was er wollte. Und das nicht nur einmal. Zwischen den Pausen rauchte er, während sie nach Atem schnappte. Warum war sie so kurzatmig gewesen?

Achtsam tastete sie ihren Unterbauch ab. Das Mädchen fühlte den empfindlichen Nachklang eines Kribbelns, ein Summen ihrer Eingeweide. Er konnte sie nicht schwanger machen, doch irgendwas war dort zurückgeblieben … bevor sie erneut die Besinnung verlor.

Ächzend atmete sie durch. Der Kerl macht mich noch fertig …

Das andauernde Pfeifen kam aus einer seiner Hosentaschen und störte Ace wohl weniger als sie.

Schwerfällig krabbelte die junge Frau vom Bett auf den Boden, robbte auf allen vieren zu dem Mann hin und suchte dieses lärmende Störgeräusch. Dessen Ursprung war eine schwarze digitale Armbanduhr, die sich nur pflichtbewusst an den gespeicherten Alarm um neun Uhr hielt. Und das seit gut zehn Minuten. Sheryl drückte müde einige Knöpfe, bis endlich Ruhe einkehrte.

Erschöpft von dieser kleinen Anstrengung, hockte sie sich auf und zog die Decke vom Bett, um sich abermals schützend darin einzuwickeln. Mit einem unfassbaren Chaos an Emotionen betrachtete sie Ace. Sie hasste ihn für das, was er ihr angetan hatte, und trotzdem konnte sie ihn nicht schlagen. Sie fürchtete ihn sogar und kam doch nicht von ihm weg. Sie brauchte ihn und wollte ihn gleichzeitig zum Teufel jagen. Er weckte etwas in ihr, doch Sheryl wusste nicht, ob sie es schön oder hässlich nennen sollte. Ob sie Ace schön oder hässlich nennen sollte. Denn – was auch immer er tat – es geschah, weil sie einverstanden war.

Und er behandelte sie ja noch nicht mal schlecht. Gut, der Sex war eine Sache, grob und ohne Bindung. Doch sein Verlangen hätte weitaus schlimmer ausfallen können. Sie überlebte ihn zumindest. Ohne blaue Flecke.

„Ace“, sprach sie ihn an. Weil er nicht reagierte, beugte Sheryl sich vor und rüttelte seine Schulter. „Ace!“

Er grummelte im Schlaf.

„Ace! Wach auf!“

Blinzelnd kam er allmählich zu sich … und schien verwirrt zu sein, bei ihr im Zimmer auf dem Teppich zu liegen. Er sah sich um und sie konnte unsichtbare Fragezeichen von ihm aussteigen sehen.

„Okay, das ist schräg“, murmelte er mehr zu sich selbst.

„Weißt du noch, was passiert ist?“, horchte sie ihn aus und bemühte sich, neutral und tonlos zu klingen. Laute Vorwürfe brachten bekanntlich nichts.

Statt zu antworten, reckte er steif Arme und Beine aus. Die Gelenke knackten und zischend rieb Ace sich abschließend das Genick. Als er versuchte, aufzustehen, dröhnte ihn der Schädel und er legte sich wieder hin.

„Fuck!“, verfluchte er seinen heftigen Kater.

„Ach komm schon, das wird doch sicher für die ganze Woche reichen, oder?“, schnaubte sie ungehalten.

„Eh?“, fragte er verständnislos. Offenbar dauerte es bei ihm länger als bei ihr, die momentane Situation erfassen.

„Die Nacht? Du hast abgerechnet, mindestens dreimal?“

Ihm dämmerte es langsam. „Na, immerhin … Obwohl meine Leiste von fünfmal spricht …“

„Angeber.“

Mit gehaltener Stirn setzte er sich langsam auf und zischte wiederholt gequält Luft durch die Zähne.

„Wäre das nicht ein guter Zeitpunkt, um mit dem Trinken aufzuhören?“, kommentierte Sheryl sein Leiden trocken.

 

Sauer stieß er kurz auf. Seinem Magen ging es offenbar ebenfalls nicht gut. Mit beiden Händen fuhr er sich stöhnend über den Kopf durch das dichte Haar.

„Was biste so angepisst, Kurze?“, grummelte er. „War’s nicht gut? Dabei biste doch voll abgegang’.“

Jetzt war sie irritiert und beschämt zugleich. „Was?“

„Na, aber!“, tat er übertrieben beleidigt. „Schon vergessen? Dann gibt’s die Nummer jetzt immer von hinten, damit du’s dir merkst! Am Besten gleich und -“ Plötzlich schlief Ace das Gesicht mitten im Satz ein. Seine Augen weiteten sich. Unruhig begannen die Finger zu trommeln. „Scheiße, wie spät ist’s?“

Sheryl hielt ihm die Uhr vor. „Kurz vor halb zehn.“

„Scheiße!“

Trotz dessen, dass sein Hirn wegen des Katers nur auf Sparstrom lief, rappelte sich Ace auf die wackeligen Beine und rannte aus der Wohnung. In seiner fraglichen Verfassung schlug er sich öfters die Knie am Boden auf und wäre fast die Treppe hinabgestürzt, hätte er sich nicht im letzten Augenblick festgehalten. Schmerzhaft verdrehte er sich dabei den Ellenbogen, aber das war noch immer nicht so schlimm, als wenn er unten seinen Einsatz verpasste.

Alter, du bist keine siebzehn mehr! Damals konntest du noch die ganze Nacht lang durchvögeln und saufen, doch am Morgen auf der Matte stehen!

Ja, das waren noch Zeiten …

„Autsch!“, zischte er zwischen Wut und Jammer, als er mit dem rechten Fuß umknickte. Humpelnd hechtete er dennoch über den Hof und ignorierte die ihm folgenden Blicke. Einige Gäste waren verwundert, andere kannten ihn schon gut.

Na, verpennt?

„Halt’s Maul!“, entgegnete er. „Scher dich um dein’ Kram!“

Hey, Junge! Ellie braucht deine Hilfe bei -

„Die kann sich selber mal drum kümmern, verdammt!“, blaffte er zurück.

Meister, bei mir im Bad ist ’ne Schraube locker!

Nur im Bad?, wurde Ace zynisch, erwiderte aber: „Ich mach schon!“

Großer, ich -

„Ich hab erst Mittag Dienst!!!“

Du bist immer im Dienst!

Auch wahr …

Ist er nun komplett durchgedreht?

Klar.

Warum überrascht mich das?

Sheryl sah aus dem Fenster und beobachtete ihn. Wie er mit unsicheren Schritten sein Büro ansteuerte. Auf dem rechten Bein humpelte er. Hatte er sich verletzt? Weil Ace so überstürzt davongerannt war, wunderte sie das wenig. Sein geistiger Zustand war ein ganz anderes Thema.

Im Hof redete er mit … nichts. Er schimpfte, maulte, fluchte, antwortete auf Stimmen, die nie gesprochen hatten. Denn niemand war dort.

Er ist verrückt. Super.

Ace musste sich seine Gesellschaft eben einbilden – ob nun mit Schnaps oder Wahnvorstellungen. Die Abgeschiedenheit des Hostels hatte ihren Tribut gefordert.

Was denkt er sich wohl noch alles aus?

Jemand musste ihm helfen. Ein Arzt oder ein Seelenklempner. Vielleicht brauchte er Medikamente. Auf jeden Fall war sein Verhalten nicht normal.

Es wurden schon Leute für weniger weggesperrt.

Sollte sie Hilfe holen? Die Fata Morgana der Stadt am Horizont gestern … war sie real? Würde es dort ein Krankenhaus geben? Kannte man den verdrehten Vermieter dort schon und sah ein, dass gegen seinen Irrsinn nichts half? Warum sonst versteckte er sich in diesem Kasten, so weit ab von allen Menschen, mit sinnloser Arbeit beschäftigt, die niemand ihm auftrug?

Ein Abstellgleis für Spinner?

Auch wenn die Fakten eindeutig waren, wollte Sheryl mit ihren Vermutungen nichts überstürzen. Der Grat von spleenig und absonderlich zu gefährlich und geisteskrank war doch breiter, als man vermuten würde. Zwar kannte sie Ace noch nicht lange, jedoch war er kein voller Idiot. Er hüpfte nicht quer im Dreieck, seine Gefühle (wenn denn vorhanden) waren kontrolliert und er drückte sich (meistens) gut überlegt aus. Bevor sie irgendwelche voreiligen Schlüsse zog und den Krankenwagen rief, sollte sie ihn vielleicht erst einmal fragen?

Aber vorher ging es unter die Dusche.

Und dann …

„Ace?“, hörte er ihr zartes Stimmchen aus dem Büro rufen.

Was will die denn noch?, nörgelte er still und zog sich das frische rote T-Shirt über.

Die getragene Klamotte warf er gestresst in einen der zwei Kleiderbeutel, die er ebenfalls mit Schmutz- und Bettwäsche vollgestopft hatte. Die Öffnung derer zurrte er grob zusammen, trug sie aus dem Schlafzimmer und ging ins Bad, um dort die Tücher abzunehmen. Sack auf, rein, Sack zu.

Um das Auflesen seiner benutzten Hosen und Hemden kümmerte er sich lieber selber, als dass er jemanden von der Putzkolonne zu sich in die Wohnung ließ. Zu blöd nur, dass er verschlafen hatte.

„Ace?“, fragte die Göre ein zweites Mal nach ihm.

„Ja!“, knurrte er entnervt und zog die beigefarbenen Taschen hinter sich her ins Büro. Die Tür zu seinen Privaträumen schloss er vorsorglich ab. Er hasste es wirklich, wenn andere sein Chaos unter die Lupe nahmen und meinten, sinnlose Ratschläge in Sachen Sauberkeit zu geben. Es hatte ihm schon gereicht, dass Sheryl seine nicht vorhandene Ordnung gesehen und darin herumgestochert hatte.

Ich habe nun mal eine andere Vorstellung von Gemütlichkeit, und wenn die darin besteht, sich mit den Fliegen zu duzen, dann …

Die Kleine stand jetzt an der Theke und sah ihn mit ihren grünen Augen an. So betrachtet waren die sehr hübsch. Wie trübe Seen …

Falscher Zeitpunkt.

„Was?“, brummte Ace patzig.

Wegen seiner derben Art zuckte sie zusammen und murmelte verhalten: „Ich … wollte wissen, ob alles bei dir in Ordnung ist.“

„Alles perfekt! Was geht’s dich an?“, blieb er unnahbar und griff nach seinen Zigaretten.

Das Mädchen hob nichtssagend die Schultern.

Was denn jetzt schon wieder? Was will die? Den Punkt „Fernhalten“ hat die noch nicht kapiert, oder?

„Mach dir lieber um dich Sorgen, Kurze!“, war er der Meinung und wandte sich kalt von ihr ab, um seinen Arbeitsplatz einzunehmen. Offiziell war er noch gar nicht dran, aber er hatte es vor Jahren bereits aufgegeben, seine Überstunden zu sammeln. Im Hostel gab es immer etwas zu tun und das richtete sich nicht nach Öffnungszeiten. Statt „Vermieter“ sollte seine Berufsbezeichnung „Depp für alles“ sein.

Auf dem Schreibtisch lag eine Mitteilung. Eine Liste vom Lager.

Ach ja, ich erinnere mich …

Kurz sah er noch mal zu Sheryl hin, die wahrscheinlich eine gewisse Reaktion erwartete. Doch ehe er etwas Passendes sagen konnte, fuhr draußen ein weißer Transporter vor.

Ungehalten blickte er auf die Uhr. Die Weiber sind leider so verdammt pünktlich.

„Du sagst nichts!“, befahl Ace der Göre barsch und wies sie an, sich auf das Sofa zu setzen.

Aus dem Wagen stiegen fünf Frauen unterschiedlichen Alters. Von zwanzig bis fünfzig, von dünn zu dick, schwarz und weiß, schien alles vertreten zu sein. Sie trugen einheitliche weiß-graue Uniformen und die Damen mit langen Haaren hatten diese zum Zopf oder Dutt gebunden. Im straffen Laufschritt hielt die Gruppe auf den Empfang zu und ohne anzuklopfen, unter Führung der Ältesten, durchdrang sie die Tür. Bei Sheryls Anblick aber erstarrte das Kommando.

Die Anführerin zählte rasch eins und eins zusammen und stapfte unbeeindruckt weiter. Vor Aces Thesen tretend, stemmte sie die runden Fäuste in die Taille.

„Sieh einer an“, sagte die korpulente Frau mit den grau-braunen Locken brüsk, „hast du mal so was wie Kundschaft, Livingston?“

„Das ist ’n Hostel, Gladys“, erklärte er der Raumpflegerin grimmig. „Ohne Kundschaft würd ich nicht hier sitzen, oder?“

„Aber das du überhaupt Kundschaft hast, ist ein Wunder! In diese mittelmäßige Absteige verirrt sich sonst niemand!“, spottete Gladys und sah über die breite Schulter zu Sheryl hin. Das Mädchen versuchte, sich an die geforderte Weisung zu halten, und sagte nichts weiter als ein höfliches „Guten Morgen.“

„Die Kleine scheint mir noch recht jung zu sein, Livingston“, sprach die ältere Frau mit Ace, ohne die Augen von dem fremden Teenager zu lassen. „Zu jung, um allein zu reisen.“

„Ist nicht allein“, hörte Sheryl den Vermieter überzeugend lügen. „Ist mit ihren Eltern vor zwei Tagen eingezogen. Die Typen sind Naturforscher und wollten die Flora und Fauna der Wüste beobachten. Und solang sie weg sind, soll ich auf die Kurze aufpassen.“

„Dann ist sie so gut wie verloren!“, lachte Gladys auf und fügte biestig hinzu: „Du kannst doch von keiner Frau die Finger lassen, egal, ob sie noch ein halbes Kind ist oder nicht.“

„Also bitte“, redete sich Ace mit einem diebischen Grinsen heraus, „’n bisschen Stolz hab ich schon noch. Dich verbrauchtes Leder würd ich auch nicht mehr anfassen wollen.“

Gladys lief vor Zorn knallrot an.

Der Mann genoss seinen verbalen Triumph sichtlich und wies süffisant mit seiner Zigarette auf die Kleidersäcke an der Wand. „Genug geschwatzt, alte Lady!“, zog Ace sie bestimmend auf. „Sollteste nicht mit dein’ Mädchen besser anfang’? Das dort ist bis Mittwoch sauber zu machen und dann ab mit euch ins Haus. Mein Boss bezahlt deine Truppe nicht so großzügig fürs Rumstehen.“

„Wo liegt der Unterschied zu dir?“, stichelte Gladys garstig zurück, kehrte sich aber um. Den anderen Putzfrauen gab sie direkte Anweisungen: „Nicole und Careen, ihr fangt in Stock eins an. Valerie und Bridget, ihr schafft die Wäsche in den Wagen und dann geht ihr in den zweiten Stock. Und dich“, sagte sie ausdrücklich zu Ace, „will ich vor Mittag nicht im Gebäude haben, klar?“

„Klar, bin ja auch noch nicht im Dienst“, nahm er ihr Drohung locker und drückte die Kippe aus.

Die Reinigungskräfte verließen das Büro, mitsamt den Säcken.

Sheryl schaute ihnen verstohlen nach.

Das Feuerzeug klickte laut in der entstandenen Stille.

„Komm mal rüber, Schätzchen“, hörte sie Ace sagen.

Mal sehen, was er jetzt will, dachte sie und folgte seinem Wink wortlos. Bisher verhielt er sich nicht groß verrückt. Nur wie ein exzentrisches Arschloch – aber das kannte sie ja schon von ihm. Sie würde weiter beobachten müssen.

Hinter der Theke angekommen, sah sie, wie er einen silbernen Laptop aus dem Aktenschrank nahm und ihn aufklappte. Er drückte ein paar schwarze Tasten und öffnete ein Portal im Internet. Mit einer kleinen Geste lud er sie ein, auf seinem Schoß Platz zu nehmen.

Auch wenn sie eine Absicht dahinter vermutete, musste Sheryl gehorchte.

Umso überraschter war sie, als Ace ohne sexuelle Anstalten um sie herumgriff, damit er die Tasten und das Touchpad weiter bedienen konnte. Sachlich sagte er: „Bestellen wir dir mal was zum Anziehen.“

„Echt?“, blieb das Mädchen verblüfft und als er die erste Seite für Kleidung aller Art öffnete, verschwanden ihre Zweifel. Und auch ihr Misstrauen. Irre oder nicht, er hielt seine Versprechen.

„Danke! Vielen Dank!“

Jedoch schüttelte er ihre lieben Worte nur wie störende Fusseln von sich ab.

„Kein Ding. Hast ja gewissermaßen dafür bezahlt. Außerdem will ich meine Sachen zurück. Slayer steht dir überhaupt nicht.“

Sie konnte nicht sagen, ob das wirklich sein einziger Anreiz war, ihr etwas Gutes zu tun. Vielleicht plagte ihn ja doch ein schlechtes Gewissen … Wie dem auch sei, er nahm sich Zeit für ihre Wünsche und bestellte, was sie wollte. Bunte T-Shirts, helle Jacken, Jeanshosen, sportliche Schuhe und sogar Unterwäsche. Hin und wieder fragte sie ihn nach seinem Geschmack. Was hielt er von diesem Pullover, von dieser Bluse. Ihre gegenseitigen Anschauungen drifteten weit auseinander.

Die Bestellung wurde abgeschickt.

Sheryl hatte tatsächlich Spaß bei diesem Kauf empfunden. Es war das erste Mal seit vielen Tagen, dass sie fröhlich war. Ja, glücklich. Einmal abgesehen von dem Moment, als sie das Hostel fand und erkannte, dass sie nicht sterben musste.

Es war auch das erste Mal, dass sie Ace überaus dankbar war – ohne, dass er ihre Hoffnung mit Hintergedanken zerstörte. Als sie von seinem Schoß aufstand, konnte das Mädchen nicht widerstehen und schlang fest die Arme um ihn.

 

Dem war aber nicht wohl bei der Geste und somit schob er sie von sich weg.

„Gehört alles zum Deal, bilde dir nichts ein …“, brummte er mürrisch.

„Verstehe. Hab trotzdem vielen Dank. Ich habe mich lange nicht mehr so gut in meiner Haut gefühlt.“

„Doch“, grinste er hämisch. „Die Nacht schon.“

Sie lief rot an. Ein letztes „Dankeschön“ verkniff sie sich.

„Schämste dich dafür?“

„… etwas“, gestand sie. „Ich weiß nicht mehr viel, doch ich komme mir vor wie eine gestopfte Gans.“

„Mhm, so oft, wie ich in dir gekomm’ bin, hat’s durchaus was von …“, meinte Ace unverblümt und trank von seinem Whiskey.

Das Rot wurde noch dunkler.

„Ich wollte sagen … wenn meine Eltern wüssten, was ich hier -“

„Ich denk, die sind tot?“, bohrte er nach. „Oder zumindest aufm guten Weg dahin.“

„S-schon“, stammelte sie, „aber vielleicht ihre Seelen -“

„Wo? Im Himmel? Glaubste etwa an so ’nen Scheiß?“

Er war sicher nicht die richtige Person, um über ein Leben nach dem Tod zu diskutieren. Sie bezweifelte, dass der Mann ein gottesfürchtiger Mensch war, geschweige denn überhaupt eine Religion besaß.

Resigniert grummelte sie: „Vergiss es …“

„Schon getan“, gab er arglos zu.

„Ace?“

„Was denn noch?“

„Hast du nicht irgendeinen Job, den ich für dich erledigen könnte?“

„Außer, dein’ Arsch hinzuhalten?“, blieb er direkt und hob eine Augenbraue.

Gedämpft von seiner Arroganz, versuchte sie darauf nicht zu antworten und sagte stattdessen: „Mir wird langweilig werden, wenn bald ein Tag nach dem anderen an mir vorbeirauscht. Deshalb würde ich gern eine Aufgabe im Hostel übernehmen.“

Mit der aktuellen Kippe beschäftigt, blies er Rauch aus und erinnerte sie: „Gibt hier nichts, was du tun könntest. Kannst in die Wüste gehen und alle Saguaros zählen, wenn’s dich glücklich macht.“

Sheryl wurde immer genervter von seiner Überheblichkeit. Wenn sie ihm eine geistige Störung vorwerfen könnte, wäre das grenzenloser Narzissmus.

Jedoch seufzte Ace nachgiebig und änderte unerwartet seine Meinung. „Okay. Wenn du unbedingt willst, kannste mich ’n bisschen unterstützen.

Wenn das Putzlappengeschwader auf den ersten Etagen durch ist, muss ich die Zimmer abchecken. Kannst ja mitkomm’. Aber fass nichts an! Geht nur drum, zu sehen, dass alles seine Ordnung hat. Verstanden?“

„Ja!“, nickte sie eifrig mit einem Lächeln.

„Und noch was!“, ermahnte er sie deutlich: „Kann hin und wieder vorkomm’, dass ich dabei was sag, was du aber nicht verstehen wirst. Ignorier mich dann einfach, ist ’ne Macke – quasi ’n Memo an mich selbst und das geht dich nichts an. Mach bloß deine Abstriche und das war’s.“

Eine künstliche Falte bildete sich zwischen Sheryls blonden Brauen. Sie tat, als wüsste sie nicht, ob sie ihn richtig verstanden hätte und fragte genauer nach: „Du meinst, du führst … so was wie Selbstgespräche?“

Ein Verrückter weiß nicht, dass er verrückt ist. Aber Ace weiß, dass er Selbstgespräche führt und dass die auf andere Menschen seltsam wirken. Er nimmt sich selbst wahr und was andere in ihn sehen könnten.

Also kann er nicht verrückt sein.

„Hört sich so an, ja“, winkte Ace schnell ab, „sieh drüber weg. Mach, was ich sag, oder lass’s bleiben. Alles klar?“

„Klar“, zuckte das Mädchen die Schultern.

Oder spinne ich jetzt?

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