Alles anders, aber viel besser

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Aus meinem Tagebuch

Die ersten Eintragungen in mein Tagebuch konnte ich erst zehn Tage später schreiben. Und erst nach drei Jahren war ich in der Lage, diese Notizen auch zu lesen.

Donnerstag, 10. Juli 2008

Ich sitze in unserem gemütlichen Wohnzimmer in F. und versuche, wenn auch todmüde, die Soap-Doku »Liebesgeschichten und Heiratssachen« im Fernsehen zu verfolgen. Eigentlich sollte ich schlafen gehen; die letzten Tage (oder Wochen oder Monate?) waren mehr als anstrengend für mich. Neben den endlosen Auseinandersetzungen mit meinen »Kollegen« machte mir insbesondere meine Tochter zu schaffen. Elf Jahre alt, an der Schwelle zur Pubertät und unglücklich in der Schule und mit sich selbst, forderte sie mich täglich zu psychologischen Höchstleistungen heraus. Ich versuchte ihr zu helfen, was allerdings nur selten gelang. Stattdessen hatte ich ein raunzendes Kind zu Hause, das seinen Protest gegen die ganze Welt in Form von allübergreifendem Chaos manifestierte. So fand ich die Socken meiner Tochter an den unmöglichsten Stellen (das Telefonbuch inbegriffen), ebenso wie verfaulte Jausen. Anderes, wie etwa der Fahrausweis, die Geldbörse oder der Hausschlüssel, verschwanden dagegen für immer. Ihr Jammern über die unmögliche Familie, in der sie aufwachsen musste (mit mir an der Spitze als der Mutter, die stark von allen normalen Müttern abwich und ihr das Leben ruinierte), zierte mein Leben wie die Litaneien die christliche Liturgie.

Trotzdem wollte ich mein irdisches Dasein mühelos meistern, siegreich und deutlich allen anderen Normalsterblichen überlegen. Hier eine kleine Liste davon: Erfolgreich und gefragt in meinem Beruf wollte ich sein (was mir trotz intensiver und mehr als kontraproduktiver Bemühungen meiner sogenannten »Kollegen« meist sogar gelang), eine zufriedene Partnerschaft und Familie haben, glückliche Kinder, ein (einigermaßen) repräsentatives Zuhause, einen wohlerzogenen Hund, der die Gäste nicht abschleckte und ihnen auch nicht die weggelegten Handtaschen auf dem Komposthaufen versteckte. Zu meinem Bild der persönlichen Mindestanforderung gehörte weiter ein gepflegter Garten (freilich mit den höchsten Gurken- und Tomatenerträgen im Ort), saubere Fenster und ein ansprechendes persönliches Äußeres. Und noch vieles mehr, wie etwa täglich mehrere Male leckeres warmes Essen auf dem Tisch, selbstverständlich selbst gekocht. Und außerdem wollte ich noch so einiges werden: Neben meinem Beruf als Musikhistorikerin hatte ich vor, mir auch als Malerin und Kinderbuchautorin einen Namen zu machen.

Seit Jahren mit all diesen Wünschen schwanger, saß ich also vor dem Fernseher und überlegte in einem zwanghaften gedanklichen Durcheinander, wie ich die nächsten Tage meistern sollte. Es stand einiges bevor. Eine einwöchige Reise nach Italien mit meiner Tochter und ihren zwei Freudinnen, die für sie Ferien, für mich jedoch eine Herausforderung bedeutete, wollte ich ihnen doch die Grundlagen des klassischen Zeichnens beibringen – wenn es sein musste, auch gegen ihren Willen. Einige organisatorische Dinge warteten da, die mit meiner geplanten dreimonatigen Reise nach Oxford Ende September und mit zwei wissenschaftlichen Symposien in Deutschland zusammenhingen. Schon der bloße Gedanke, mehrere Male zwischen Oxford, London und Deutschland hin- und herzuhetzen, bereitete mir heftige Übelkeit, die ich jedoch geflissentlich übersah. Man muss doch flexibel sein, andere Menschen fliegen auch dauernd hin und her. (Was ich noch nicht wusste: Andere Menschen sind vielleicht gesund …) Also Flüge buchen, Koffer packen. Die Vollendung unserer Übersiedlung nach Wien stand an. In der neuen Wohnung sollte allerdings kommende Woche der Fußboden gewechselt werden. Ein zusätzlicher Krampf in meinem Magen. Kommen die Handwerker wirklich …?

Auf einmal – ich weiß bis heute nicht warum, wie von einer höheren Instanz geführt – hob ich meinen Arm und griff an meine rechte Brust. Nach kaum zwei Sekunden fiel mir auf der Seite ein kleiner, harter Knoten auf. Später erinnerte ich mich, dass ich meine Hand exakt auf die Stelle gelegt hatte, an welcher sich der Knoten befand. Ich erstarrte. Eine Hitze überfiel mich, als ob jemand über mir einen riesigen Suppentopf ausgeleert hätte. Nein, das hat nichts zu bedeuten, versuchte ich mich zu beruhigen. Zur Kontrolle griff ich auch auf die linke Seite. Nichts. Und zurück auf die rechte Brust. Nein, der Knoten verschwand nicht, er war noch immer deutlich zu spüren. Wie in Trance, aber mit dem festen Vorhaben, keine Panik mehr in meiner aufgewühlten Fantasie entstehen zu lassen, ging ich unter die Dusche. Das Duschen konnte mich bis jetzt immer beruhigen, vielleicht schaffte das warme Wasser auch, etwaige Blutansammlungen in meinem Körper in Bewegung zu bringen und den Knoten aufzulösen. Nach zwanzig Minuten Duschen war der Knoten aber noch immer da. Ich ging ins Bett und betete, dass ich nächsten Morgen aufwachen würde und alles wie früher wäre.

Freitag, 11. Juli 2008

Es war fast halb neun, als ich wach wurde. Trotz der gestrigen Aufregung hatte ich ganz tief und entspannt geschlafen. Der erste Gedanke galt jedoch wieder der beunruhigenden gestrigen Entdeckung. Da ich mich so gut fühlte, dachte ich, dass der Knoten sich in dieser erholsamen Nacht vielleicht in nichts aufgelöst hätte. Nein. Er war noch immer da. Ich ging zum Telefon und rief in der Ordination eines Radiologen in B. an. Ich wollte sofort einen Termin bei der Mammografie bekommen. Sofort, das hieß eineinhalb Stunden später. Noch immer war ich ganz ruhig und dachte nicht im Entferntesten daran, ernsthaft erkrankt zu sein. Gut, die monatelang andauernde Müdigkeit gehörte irgendwie zu meinem Leben, ich war aber trotzdem felsenfest davon überzeugt, gesund zu sein. Also lief ich in die Garage, wo ich in dem Chaos nach der Übersiedlung meine alten Mammografie-Bilder finden wollte. Eine unsichtbare himmlische Kraft half mir offensichtlich auch jetzt. Bald hielt ich einige riesige Umschläge mit diversen Röntgenbildern meiner Familie in der Hand. Zwischen dem Knöchel meines Sohnes und dem Schädel meines Mannes fand ich Gott sein Dank auch meine zwei Brüste. Gut, jetzt kann der Arzt alles vergleichen und sehen, dass es mir an nichts fehlt. Nicht ich, sondern die anderen werden krank. Mich betrifft das alles nicht. Ich möchte mich nur absichern.

Meine einzige Sorge drehte sich jetzt noch um meinen Mann. Um ihn nicht unnötig zu beunruhigen, wollte ich ursprünglich alles für mich behalten, dann fiel mir aber ein, dass ich eine Überweisung für die Mammografie brauchte. Eine eher seltene Kombination: Mein Ehemann ist gleichzeitig mein Hausarzt; ohne diese dumme Überweisung brauche ich gar nicht zur Untersuchung zu fahren. Also gut. Ich griff zum Telefon und wählte seine Nummer. Er meldete sich bald. Ich erkannte allerdings an seiner Stimme, dass er müde und gereizt war. Er hatte einen Nachtdienst hinter sich. Es war sicher nicht einfach, gleich danach wieder in der Ordination zu sitzen und zahlreiche Patienten mit ihren großen und kleinen gesundheitlichen Beschwerden zu betreuen. Ich beschränkte mich auf das Wesentliche. »Hallo, Christian, entschuldige bitte die Störung, aber ich habe einen Knoten in meiner rechten Brust entdeckt … Kannst Du bitte dem Radiologen XY … eine Überweisung faxen?« Ein paar Sekunden Stille am anderen Ende. »Was? … Wo? …«, konnte ich schließlich hören. Die präzise digitale Telefonleitung machte die Fassungslosigkeit meines Mannes überdeutlich. Ich versuchte ihn noch schnell zu beruhigen, viel wichtiger war mir in jenem Moment aber, das Gespräch schnell zu beenden.

Ich zog mich an, teilte meiner Tochter mit, dass ich zum Arzt fahre, und verließ das Haus. Was ich nicht wusste: Ein paar Minuten später rief meine Schwiegermutter an, um mit uns ein wenig zu plaudern. Florentina, aufgeregt wie sie war, schilderte ihr brühwarm die Geschichte mit dem Knoten in meiner Brust.

Nach der Anmeldung in der Ordination setzte ich mich im Wartezimmer nieder und wartete. Ich griff nach einigen Zeitungen und begann zu lesen. Seltsamerweise fielen mir nur prallbusige Schönheiten auf und ich bekam fast das Gefühl, dass sich das Leben und die mediale Berichtserstattung ausschließlich um die weiblichen Brüste drehten. Bevor ich allerdings weitere Überlegungen zu diesem Thema anstellen konnte, wurde ich aufgerufen. Der Untersuchungsraum war nur spärlich beleuchtet. Ich versuchte, das als gemütliche Wohnzimmeratmosphäre auszulegen. Unnötig zu sagen: Ich hasse Krankheiten, sämtliche Untersuchungen, gesundheitliche Einrichtungen aller Art, ich hasse das Kranksein. Die Besuche beim Frauenarzt sowie die Mammografie stehen dabei ganz oben auf der Skala. Mein Verstand verbot mir zwar, die nötigen Vorsorgeuntersuchungen ganz aus meinem Leben zu eliminieren, ich hielt die ärztlichen Besuche aber auf einem Mindestmaß. Für die verschiedenen Wehwehchen wie Schnupfen, Husten, Kopf- oder Kreuzschmerzen hatte ich meinen Mann.

Die anwesende Röntgenassistentin war noch ziemlich jung und sehr nett. Deshalb versuchte ich, meine Missstimmung über den verdorbenen Vormittag (eigentlich wollte ich meinen Flug nach London buchen) im Rahmen zu halten, als sie mit den Aufnahmen begann. Oh Gott, lass diese Zeit schnell vergehen, dachte ich mir und atmete um fünf Zentimeter höher und tiefer als üblich.

Danach wartete ich auf das Ergebnis. Ursprünglich hieß es, der Befund würde erst am Montag vorliegen, die Intervention meines Mannes bei seinem Kollegen bewirkte aber, dass ich bereits eine Viertelstunde später mit dem Radiologen sprechen konnte. »Sie haben im Vergleich zu den früheren Aufnahmen viel mehr Verkalkung in der rechten Brust«, teilte er mir mit einer unaufgeregten Stimme mit. »Na ja«, dachte ich, »irgendwann verkalken wir doch alle …« Seine Diagnose hörte sich noch nicht bedrohlich an. »Sieht der Knoten wie ein Tumor aus?«, wollte ich wissen und ging aufs Ganze. »Nein, nein, aber sie sollten den Befund unbedingt mit einer Biopsie abklären lassen«, beruhigte mich der Arzt, etwas zu übereifrig. Ich wollte mich schnell beruhigen lassen. »Biopsie? Ist die Untersuchung schmerzhaft?« Meine panische Angst vor Schmerzen ließ einen überdimensionalen Dinosaurier in meiner Fantasie entstehen, der mich mit einer einzigen Bewegung zu erdrücken versuchte. »Nein, haben Sie keine Angst, die Untersuchung ist völlig schmerzfrei«, ließ er mich wissen.

 

Als ich zwanzig Minuten später den schriftlichen Befund in meinen Händen hielt, läutete mein Handy. Zwischen mir und meinem Mann besteht eine seltene seelische Verbindung, die einen bloßen Gedanken an ihn sofort in ein Handyklingeln verwandelt. Manchmal ein Vorteil, manchmal ein Nachteil. Diesmal war ich froh. Ich zog den Befund aus dem Umschlag und begann vorzulesen. Inhaltlich konnte ich die hier vorhandenen Feststellungen, in üppige Fachsprache eingepackt, nicht immer einordnen; es fiel mir aber die Länge des Berichts auf. Irgendwie zu ausführlich. Irgendwie zu viele kleine Details. Irgendwie wollten sich meine Brüste nicht mehr so benehmen, wie ich es von ihnen erwartet hätte. Irgendwie hatten sie einen selbstständigen Weg eingeschlagen. Völlig gegen meinen Willen. Eine Revolution in meinem Körper, die ich nicht mehr unterdrücken konnte. Eine seltsame Kraft direkt aus der Hölle. In mir, nur dreißig Zentimeter weit von meinem meist klar (dachte ich zumindest) denkenden Kopf entfernt. Wie gibt es denn so etwas? Bin ich nicht mehr Herrin meines eigenen Körpers?

»Was heißt das alles? … Was soll ich machen?«, fragte ich meinen Mann. Wir überlegten gemeinsam, wo ich diese verdammte Biopsie machen lassen könnte. Christians schlichte Antwort »in irgendeiner chirurgischen Abteilung« ließ meinen Adrenalinspiegel erneut stark ansteigen. Ich habe Angst vor Chirurgen. Seit meiner unnötigen Blinddarmoperation vor mehr als fünfundzwanzig Jahren kann ich die Vorstellung nicht loswerden, dass Chirurgen Freude am Schneiden haben.

Um 13.00 Uhr kam mein Mann nach Hause und ich begrüßte ihn mit seiner Lieblingsspeise: Marillenknödel. Ich dachte, mit den Marillenknödeln könne ich so etwas wie ein Stück Normalität und Sicherheit in unser Leben zurückbringen. Immer, wenn ich Marillenknödel aß, ging es mir gut. Meine Mutter machte sie, meine Großmutter machte sie, es war immer im Sommer und die Welt war in Ordnung.

Auch diesmal gelang es mir, mit den Marillenknödeln zumindest vorübergehend eine etwas entspannte Situation zu schaffen. Ich wusste noch nicht, dass diese Minuten die letzten ruhigen für etliche kommende Monate sein würden.

Freitag 11. Juli 2008, 16.00 Uhr

»So, wie es aussieht, ist der Tumor bösartig … Wir wollen auf jeden Fall eine komplette Heilung anstreben … Mit den Therapien danach haben sie sehr hohe Heilungschancen … Das müssen Sie in Ihre Gesundheit investieren …«

Wortfetzen drangen in mein rechtes Ohr ein wie scharfe Gewehrschüsse. Ich hätte mir gewünscht, dass sie den Körper durch mein linkes Ohr wieder verlassen würden. Das taten sie aber nicht. Jedes Wort brannte sich in mein Gedächtnis ein, während die Welt um mich aufhörte, sich zu drehen. Ich saß benommen auf einem unbequemen Plastiksessel in der Ambulanz eines Krankenhauses, umgeben vom schummrigen Licht der versteckten Neonröhren, und versuchte, nicht zuzuhören. Ich glaubte in dem Moment, dass ich im Tiefschlaf läge und gerade hilflos einem bösen Traum ausgeliefert sei. Der Arzt schaute mich an. Seine Brille spiegelte meine Erstarrung wider, die mir aber in jenem Augenblick wie abgeklärte Ruhe und Ausgeglichenheit vorkam. In seinen Augen sah ich Besorgnis und Ernst, die ich aber als Beschwichtigung und Beruhigung lesen wollte. Ich hielt ganz fest die Hand meines Mannes und wünschte, bald aufzuwachen. Ich sprach nicht, denn im Traum spricht man nicht, dachte ich. »Wann wache ich auf?«, fragte ich mich die ganze Zeit. »Wovon spricht er eigentlich?« Ich bin doch hierher nur deshalb gekommen, um zu erfahren, dass das Ganze nur eine Lappalie ist und dass ich mich nicht unnötig, sozusagen wegen jedem Unsinn, aufregen soll!

Der Arzt empfiehlt mir, meine Reise nach Mailand zu stornieren.

Erst nach mindestens einer Stunde fange ich an zu reden. Wir sind schon längst wieder auf der Autobahn, auf der Fahrt zurück nach F. Aus den Worten werden jedoch schnell Tränen, die diesmal vergeblich versuchen, meine Seele zu reinigen. Mein Mann schweigt und bemüht sich nach Kräften, das Auto auf der richtigen Fahrbahnseite zu halten. Zu Hause angekommen rufe ich die Mütter meiner Schüler an und sage den Unterricht für die nächsten Wochen ab. Es meldet sich zum ersten Mal etwas in mir, das ich als den gesunden Menschenverstand bezeichnen möchte, und ich frage mich, wo, um Gottes Willen, er die ganze Zeit geblieben ist. Ich fühle, dass ich meine Belastungen dringend reduzieren muss. Das erste Opfer soll unser Labrador Arthur werden. Wir müssen eine neue Familie für ihn finden. Die Wiener Wohnung, in der wir ab September wohnen werden, ohne Garten und mit einer Chemotherapie am Hals, das wäre zu viel für uns alle und auch für den übermütigen Arthur. Zum ersten Mal fange ich an, Prioritäten zu setzen. Was ist wichtiger: Soll ich mich ohne Rücksicht auf Verluste um meinen Hund kümmern, dem ich die Treue versprochen habe, bis dass der Tod uns scheidet (wobei mein Tod vielleicht noch vor seinem eintreten würde) oder aber um MICH? Und ich fühle immer deutlicher, dass ich nie wieder in die Bibliothek gehen und meine sogenannten »Kollegen« sehen will.

Das Wochenende vor der Operation verbringe ich wie in Trance. Gespräche mit meinem Mann. Er versucht mich zu beruhigen, ich glaube ihm nicht. Mittagessen beim »Schwarzen Adler« in Altenmarkt; denn niemand von uns ist in der Lage zu kochen. Während des köstlichen Hauptganges weine ich, die Wirtin zeigt berechtigte Verunsicherung. War vielleicht etwas nicht in Ordnung? Von mir kommt keine Antwort, statt dessen eine andere, unausgesprochene Frage: »Wie wird das Leben weitergehen?« Meine Tochter weint nach dem Mittagessen. Ich bin von der ganzen Diagnose derart überrumpelt, dass ich nicht einmal dazu gekommen bin, mir Gedanken darüber zu machen, wie ich die schreckliche Nachricht meinem Kind beibringen soll.

Wir fahren nach Hause. Der Garten verrät mich. Die Bäume, der Rasen und die Sträucher kommen mir grüner vor als vorher, die Rosen blühen und Arthur führt sein übliches Begrüßungsritual durch. Die Welt scheint trotz meiner Erkrankung weiter zu funktionieren. Diese Gleichgültigkeit meinem Schicksal gegenüber kann ich nicht verstehen. Ginge es nach mir, hätte ich die ganze Landschaft dunkelgrau, anthrazit oder bestenfalls violett angestrichen.

Erschöpft lege ich mich ins Bett. Als ich aufwache, steht Christian neben meinem Bett und teilt mir mit, dass er mit seiner Schwester Eva, meiner Schwägerin, gesprochen hat. Sie und ihr Mann haben ihren Urlaub in Kärnten abgebrochen und eilen nach Hause. In jenem Augenblick kann ich ihre Entscheidung, den lang ersehnten Urlaub zu unterbrechen, noch nicht wirklich nachvollziehen. Vielleicht zeigt sich am Montag im Krankenhaus, dass das Ganze ein Irrtum sei ...

Eva verspricht zu kommen. Ich rufe auch meinen Sohn an und bitte ihn zu kommen. Es ist schwierig, denn sonntags gibt es kaum Busverbindungen zwischen unseren Wohnorten, die beide am Ende der Welt liegen, nur an entgegengesetzten. Mein Sohn wohnt seit ein paar Jahren bei seinem Vater in B. Er spricht mit seiner Stiefmutter, die zwar zuerst keine Lust hat, mit ihren drei Kindern das Taxi für ihn zu spielen, nach einer Erklärung startet sie aber das Auto und liefert Lucas vor der Haustür ab. Ich bin ihr sehr dankbar.

Eva kündigt an, bei uns in F. zu bleiben und sich um unsere Tochter zu kümmern. Erst jetzt dämmert es mir, wie unverzichtbar ihre Rückkehr nach Hause für uns alle eigentlich ist. Eine riesige Sorge weniger. Wie der weitere Abend verläuft, weiß ich nicht mehr.

Sonntag, 13. Juli 2008

Eva ist da. Ich ernte im Garten fünf riesige Gurken und einige Zucchini, die in der Zwischenzeit ganz ohne mein Zutun gigantische Ausmaße bekommen haben. Die Fülle der Gartenschätze lässt mich meine Tragödie für eine Weile vergessen. Danach schließe ich mich in der Küche ein und kreiere ein aufwendiges Mittagessen: Hühnerkeulen auf Salbei und Weißwein, Rote Rübe mit Dille, Rote Rübe mit Rucola, Kartoffeln, gebratene Zucchini für meine Tochter, eine Rindsuppe. Ich kochte so ziemlich alles, was mir die im Haus vorhandenen Zutaten erlauben. Das Kochen als das Erden meiner Psyche. Wenn’s möglich gewesen wäre, wäre ich am liebsten die nächsten sechs Monate ohne Unterbrechung in der Küche gestanden. Gegessen habe ich dagegen kaum etwas.

Um die Mittagszeit kommt Lucas. Ich schaffe es, Witze zu machen. Wir lachen, ich spüre aber zugleich deutlich die Angst und das Mitgefühl meines Sohnes. Wir hatten es lange Zeit nicht leicht miteinander, ich als bodenständiger und sturer Steinbock, er als unbekümmerter und wendiger Zwilling, der sich über alle scheinbaren Notwendigkeiten des Lebens elegant erhob. Lange Zeit konnte ich nicht verstehen, dass er seine eigene Wahrheit verfolgte. Er zeigte mir auch, eigentlich sein Leben lang, dass meine Auffassung, der einzige Sinn der irdischen Existenz liege darin, zu arbeiten bis man tot umfällt, mehr als fragwürdig ist. Das heißt nicht, dass er faul wäre. Er bestimmte nur immer genau, schon als Kind, wo er sich anstrengen möchte und wo eben nicht. In der letzten Zeit, vor allem nach seinem Zivildienst, war er sehr gereift und wurde nun zu meiner ganz wichtigen Stütze. Ich liebe meinen großen, tollen Sohn.

Am Nachmittag beschäftigt sich Lucas mit Florentina. Sie streiten nicht, das macht den Ernst der Lage überdeutlich. Eva und ich gehen mit Arthur spazieren. Ich wähle Wege, an denen wir kaum Menschen treffen können. Ich will mit niemandem reden, ich will nicht grüßen und nicht lächeln müssen. Die Bewegung an der frischen Luft tut mir gut und lässt meine Situation ein wenig erträglicher werden. Ich mochte meine Schwägerin schon immer sehr und seit unserer gemeinsamen Reise nach New York im März sind wir uns noch viel näher gekommen. Ich nenne sie seitdem meine »sister in law«, wobei ich mehr Betonung auf »sister« als auf »in law« lege. Wir reden, zunächst über Belangloses, danach geht es zum Kern der Sache. Ich frage mich, wie alles – mein Leben, meine Ehe – weitergehen soll. Obwohl ich die Zeit zu dritt mit unserem Kind immer als wunderschön empfand, bekam unsere Partnerschaft nur wenig Raum. Ich äußerte zwar immer den Wunsch nach ein paar Tagen Zweisamkeit, für Christian nahmen aber seine Arbeit, seine musikalischen Aktivitäten und unsere Tochter die ersten drei Plätze in seinem Leben ein. Ich fühlte mich als Ehefrau auf ein Nebengleis gestellt. In den ersten Jahren versuchte ich noch dagegen anzukämpfen, danach zog ich mich beleidigt zurück. Die letzte Zeit war von Resignation erfüllt. Unser Leben verlief zwar in geregelten Bahnen und es fehlte mir an nichts. Aber da war ein Vakuum, eine gewichtslose Leere, die man nicht angreifen und deshalb auch nicht bekämpfen konnte. Und nun? Würde mein Mann mit einer todkranken Frau leben müssen?

Am Abend dachte ich, mein Kopf würde zerspringen. Am Montag sollte sich meine Mutter einer Hüftoperation unterziehen und ich hatte schon seit Wochen große Angst, dass sie die Operation nicht oder aber nur mit Schäden überleben würde. Sie war nicht mehr mobil, übergewichtig, mit hohem Blutdruck und in schlechtem körperlichen Allgemeinzustand. Ich hätte sie gern angerufen und mich am Telefon ausgeweint, wollte sie aber nicht vor ihrer schweren, in der Folge bereits dritten Gelenksoperation belasten. Auch meinen Kindern erteilte ich Sprechverbot. Meine Eltern erfuhren von meiner Krankheit erst, als ich nach der Operation wieder zu Hause zurück war. Ich schonte sie wie immer, auch dann, wenn ich ihre Unterstützung bitter nötig gehabt hätte.

Ich packe meinen kleinen, aus New York mitgebrachten Koffer. Zuerst stopfe ich eine Unmenge von Büchern hinein, die ich dann wieder aussortiere. Intuitiv ahne ich, dass Simone Beauvoirs existenzialistisch gefärbte Autobiographie Memoiren einer Tochter aus gutem Hause wohl nicht die beste Krankenhauslektüre für mich sein würde. Das Buch wird wieder aus dem Koffer entfernt. Ein Buch in Englisch, russische und italienische Erzählungen, beide Taschenbücher im Original. Ein Lehrbuch der englischen Grammatik. (Ich hoffte noch immer, nach Oxford fahren zu können.) Ich nehme mir viel vor für den Krankenhausaufenthalt. Intellektuelle Herausforderung als bewährte Flucht vor der Realität. Nach einigen Minuten wird mir durch das Gewicht des Gepäcks die Unsinnigkeit meines Tuns bewusst und ich nehme fast alle Bücher aus dem Koffer wieder heraus.

 

In der Nacht liege ich in inniger Umarmung mit meinem Mann im Bett. Er sagt mir nach langer Zeit wieder einmal, dass er mich liebt.

Montag, 14. Juli 2008

Wir wachen um halb sechs auf. Oder besser gesagt: Christian wacht auf; ich habe gar nicht schlafen können. Bereits angezogen sitzen wir an der Bettkante. Im Schlafzimmer ist es noch dunkel. Wir beide weinen. Es ist seltsam, aber ich empfinde die Tränen meines Mannes als riesige Erleichterung. Er zeigt mir, was er empfindet. Aus einem stark introvertierten Mann wird mein Christian, der sich traut, Gefühle zu zeigen. Vielleicht war das alles doch für etwas gut. Draußen regnet es. Als ob der Himmel bewusst das passende Wetter zu diesem Trauerspiel inszenierte. Während der Autofahrt äußere ich den Wunsch, ganz weit wegzugehen. Gehen und gehen und gehen. Ganz weit weg, ohne die Last des Alltags. Mein Mann meint, dass ich dabei vielleicht auf gefährliche Gedanken kommen könnte. Vielleicht ganz weg zu bleiben … vielleicht für immer …? Ein mächtiger, elektrischer Stoß schießt durch meinen Körper. Er hat ins Schwarze getroffen. Obwohl unausgesprochen, wussten wir beide, woran wir denken. Unsere Ehe … Offenbar vermissten wir beide etwas.

Wir fangen an, miteinander zu sprechen. Ich traue mich endlich, meinem Mann all das zu sagen, was mir in den letzten Jahren auf meiner ramponierten Seele lag. Ein weiterer Schritt in die richtige Richtung.

Als ich aber die Krebsstation betrete, breche ich innerlich zusammen. Ich habe so etwas in meinem Leben noch nie gesehen, die lebensbedrohliche Krankheit in ihrer Höchstkonzentration, mit all den sichtbaren Nebenwirkungen der Chemotherapie, der intensiven Beklommenheit in der Luft und ergrauten Gesichtern. Graue Haare habe ich dagegen nicht gesehen, denn Haare waren kaum welche da.

Man zeigt mir mein Zimmer. Ich hoffe insgeheim, zumindest eine nette Zimmergenossin zu bekommen, mit der ich mein Leid teilen kann. Der Blick auf die Belegschaft zeigt mir jedoch, dass ich die kommenden Tage bereits aufgrund des großen Altersunterschiedes offenbar in völliger Isolation verbringen werde. Die alte Dame nebenan entpuppt sich jedoch als angenehme Zimmergenossin. Sie schweigt und lässt mich schweigen, das Beste, was mir passieren kann. (Am Ende unseres Aufenthaltes haben wir uns so richtig lieb geschwiegen. Ihre Schwester arbeitet als Hebamme auf der Geburtenstation und so können wir an einem Abend unsere nagelneuen Erdenbürger bewundern. Es gibt vier Stück dort, ein Baby süßer als das andere. Wunderhübsche, frisch gekämmte Frisuren, süße Händchen und das herzige Dauernuckeln. Neues Leben und Hoffnung, ich würde sie am liebsten alle vier nach Hause mitnehmen.) Ich befreie mich langsam aus meinem isolierten Glasturm akademischer Überheblichkeit und nehme die Menschen um mich herum wahr. Angesicht der Todesangst verschwindet so mancher Unterschied in Bildung oder sozialem Status. Was zählt und hilft, ist Mitgefühl und ein offenes, warmes Herz.

9. 00 Uhr

Vom Schock innerlich erstarrt sitze ich auf einem Sessel und weigere mich standhaft, das mir angebotene Bett als mein neues Zuhause zu betrachten. Ich weine nicht, vergesse aber zu atmen. Draußen ist es bewölkt, in meiner Seele der Himmel schwarz, ein bedrohlicher Tornado am Horizont. Bald wird mich der Sturm komplett niedermähen, und zwar in Form einer ärztlichen Visite.

Ich habe wegen der diversen geplanten Untersuchungen noch nicht gefrühstückt (aufgrund des Schocks habe ich eigentlich schon seit zwei Tagen kaum etwas gegessen), als der Herr Primarius mit der gesamten Belegschaft erscheint. Wenn es mir nicht so scheußlich ginge, müsste ich lachen, der typischen Konstellation dieser Visite wegen. Als Erste die wichtigste Person mit der aufrechtesten Körperhaltung und der lautesten Stimme. Dann die zweitwichtigste Person mit einer etwas leiseren Stimme, einem Hauch von Ehrfurcht in der Körperhaltung, aber einem unbändigen Ehrgeiz in den Augen. Es ist ja nur eine Frage der Zeit, wann sich dieser Ehrgeiz in einen Karrieresprung, eine adäquate Körperhaltung und eine lautere Stimme verwandelt. Danach folgt eine für den Patienten undefinierbare Masse an nickenden Köpfen und wissenden Blicken. Niemand will hier als unwissend auffallen, deshalb weckt diese weiß gekleidete Gruppe den Eindruck, als ob sie mit einem Zauberstab und Abrakadabra alle Krankheiten der Welt vertreiben könne. Ich frage mich, wann sich dieses unnötige Überheblichkeitsgehabe der Ärzte und das Hierarchiedenken zwischen Arzt und Patient endlich in eine sinnvolle Zusammenarbeit und gegenseitige Achtung verwandeln. Es ist mir klar, dass es eine Verantwortung tragende Person geben muss, die Entscheidungen trifft, in der Wirtschaft hat jedoch Jack Welch schon vor Jahrzehnten vorgemacht, wie das Abschaffen von starren, autoritären Strukturen sich positiv auf die Qualität und Effizienz der Arbeit auswirkt. In den Spitälern herrscht aber offenbar noch immer das Mittelalter. Die Halbgötter in Weiß polieren ihr oft nur mangelhaft entwickeltes Selbstwertgefühl durch einen Blick von oben und mit einer Überheblichkeit, für die man als Mensch in schwerster Not kein Verständnis aufbringen kann.

»Wie geht es ihnen, Frau Glüxam«, fragt mich der Herr Primar, während ich verkrampft zu Boden starre, mit aller Kraft versuche, nicht zu weinen und mir noch immer überlege, wie ich dem Ganzen entfliehen könnte. Normalerweise bin ich nicht auf Titel fixiert, auf der anderen Seite hasse ich es, wenn jemand rücksichtslos Tatsachen ignoriert und mich auf brutale Weise nur auf meine Krankheit reduziert – in den Krankenhäusern leider gängige Praxis. Die akademischen Titel werden stillschweigend abgeschafft: an den Namenskärtchen an der Tür und am Bett und in der Anrede. Die Ärzte muss man freilich ansprechen, wie es sich gehört: Herr Primarius, Herr Oberarzt, Frau Doktor. Man könnte einwenden, sie sind im Dienst, der Patient aber sozusagen in seiner Freizeit, also befreit von seinem irdischen Status. Der Arzt David Servan-Schreiber schreibt über seine Erfahrungen als Patient mit einem Gehirntumor: »Ich geriet in eine graue Welt, in der die Patienten keinen Titel, keine Qualifikation, keinen Beruf hatten. Hier interessierte sich niemand dafür, was man im Leben machte oder was einem durch den Kopf ging. Das einzig Interessante an mir war oft nur die neueste Aufnahme meines Gehirns …« (Das Antikrebs-Buch, S. 36).

Abgesehen davon, dass man sich für sich selbst angesichts der bedrohlichen Situation zumindest etwas wie ein Stückchen der Normalität bewahren möchte, kann diese Ignoranz mitunter zu skurrilen Situationen führen. Wie etwa bei meinem Mann, als er einmal mit massiver Übelkeit im Krankenhaus landete. Auch er, obwohl selbst Arzt, wurde plötzlich – sogar bei Ärzten, die viel jünger waren als er selbst – nicht mit Herr Doktor, sondern mit Herr Glüxam angesprochen, worüber er sich ziemlich ärgerte. Er wollte mitwirken an seiner Genesung, wollte ein Gespräch und einen Meinungsaustausch mit seinen Kollegen führen, stattdessen wurde er wie ein unmündiges Objekt behandelt. Offenbar geht das Hierarchiedenken so weit, dass ein niedergelassener praktischer Arzt mit fünfundzwanzig Jahren Berufserfahrung in der Hierarchie weiter unten steht als ein blutjunger Turnusarzt in einem städtischen Krankenhaus.