Alles anders, aber viel besser

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Verluste

Bald nach der Scheidung, offenbar als Belohnung dafür, dass ich – auch hier, aber diesmal Gott sei Dank, mit verbissener Konsequenz – jeglichen Rosenkrieg vermied und mich ausschließlich um mein Kind und »meine Geschäfte« kümmerte, gelang es mir, neben diesen beruflichen Erfolgen auch mein seelisches Gleichgewicht wiederzugewinnen.

Mit fünfunddreißig Jahren bekam ich ein Buch in die Hände, das mein Leben für immer verändern sollte, »Wenn Frauen zu sehr lieben. Die heimliche Sucht, gebraucht zu werden« von Robin Norwood. Ich würde dieses Buch als Pflichtfach in den Schulen einführen, denn Frauen, die zu viel lieben und ihr Leben für egoistische, unreife Männer opfern, gibt es beängstigend viele. Kurz nach dieser Lektüre, die ich buchstäblich mit Haut und Haaren verinnerlichte, lernte ich meinen jetzigen Mann kennen. Besser gesagt, ich registrierte ihn endlich, denn ich kannte ihn schon von früher. Er war allerdings zu »normal«, um mir überhaupt aufzufallen. Nett, verlässlich, verantwortungsvoll, treu – alles Eigenschaften, die ich früher als fad und uninteressant empfand. Eine Partnerschaft in Vertrauen und Entspannung? Eine völlig neue Erfahrung für mich, die ich heute bereits fünfzehn Jahre lang genießen darf.

Nicht einmal ein Jahr nach der Scheidung war ich wieder verheiratet und mit einem Wunschkind schwanger.

Mit der neuen Ehe sah ich allerdings einer neuen Herausforderung in die Augen. Mein Mann führte mich in seinen Bekannten- und Freundeskreis ein, wo ich zwar herzlich aufgenommen, stets aber als die »Frau von …« gesehen wurde. Das widersprach mächtig meiner Überzeugung von meiner Eigenständigkeit, denn ich wollte auf keinen Fall auf eine Ehefrau und Mutter reduziert werden. Man sprach mir schon wieder meine Existenzberechtigung ab, dachte ich, und überlegte radikale Gegenmaßnahmen.

Mit meiner kleinen Tochter unter dem Schreibtisch (verzeihe mir bitte, Florentina, aber du hast die Zeit ohnehin verschlafen!) beendete ich schwungvoll meine österreichische Dissertation. Als meine Tochter drei Jahre alt war, bewarb ich mich für ein renommiertes, hoch dotiertes österreichisches Habilitationsstipendium, das ich auch bekam. Ich war überglücklich und hatte alles, was ich mir immer gewünscht hatte: Eine tolle Familie mit zwei Kindern, einen netten und verständnisvollen (wenn auch überbeschäftigten) Ehemann, der mich in allen meinen Tätigkeiten unterstützte, und plötzlich auch beachtliche Perspektiven in meinem normalerweise zugegebenermaßen nicht gerade lukrativen Beruf.

Es wäre alles wunderbar gewesen, trotz Arbeit und Stress, und es hätte ruhig so bleiben können. Es blieb aber nicht. Am 22. November 2000 erhielt ich einen Anruf von meiner Mutter, die mir weinend mitteilte, dass mein 43-jähriger Bruder völlig unerwartet einen Herzstillstand erlitten hatte und nach einer Wiederbelebung im Koma lag.

Mein Bruder war ein sehr intelligenter, technisch hochbegabter Mann mit einem ausgeprägten Unternehmergeist. Deshalb versuchte er sofort nach der Wende in der Tschechoslowakei ein Immobilienimperium aufzubauen. Er kaufte zahlreiche desolate Häuser, die er mit Hilfe von Bankkrediten renovieren und anschließend veräußern wollte. In den ersten Jahren nach der Revolution befand sich das tschechische Bankwesen aber noch im totalen gesetzlichen Chaos, wobei insbesondere die Zinssetzung bei den Krediten durch Willkürlichkeit gekennzeichnet war. So konnten die Kreditzinsen innerhalb von wenigen Jahren auf fast 30 % steigen – für einen Unternehmer und seine vorherige Kalkulation eine Katastrophe. Mein Bruder, ähnlich verbissen wie ich, reagierte nicht darauf, in dem er etwa rechtzeitig ausgestiegen wäre. Im Gegenteil, er versuchte mit weiteren, immer waghalsigeren Geschäftsideen seine Haut und seine Häuser zu retten. Er trank literweise starken Espresso und arbeitete immer mehr und mehr, bis er nicht mehr konnte.

Für mich brach die Welt zusammen. Ich hatte zu meinem um fünf Jahre älteren Bruder, der ein Technikstudium hinter sich hatte und deshalb schon von seinem Wesen her komplett anders war als ich, zwar nie ein besonders inniges Verhältnis. Trotzdem war er mein GROSSER, GESCHEITER Bruder und allein der Gedanke, dass es ihn gibt – auch wenn sich unsere Familien aufgrund der großen Distanz vielleicht nur ein- oder zweimal im Jahr trafen – vermittelte mir ein Gefühl der Sicherheit. In diesem Punkt war ich noch immer ein Kind geblieben. Ich glaubte, sollte jemand böse zu mir sein, würde mein großer Bruder kommen und mich verteidigen.

Nun lag mein großer Bruder im Koma und die Chancen auf eine Genesung waren gleich Null. Mein Mann unternahm, was er konnte; als zusätzliche Maßnahmen versuchte er auch Akupunktur und Homöopathie. Ich zerbrach mir sechs Wochen lang meinen Kopf darüber, was ihm sonst noch helfen könnte, inklusive von stundenlangem Senden positiver Energie. Es half alles nichts. Während seines bewusstlosen Zustandes, von dem niemand wusste, wie lange er dauern würde, besprach ich mit meiner Schwägerin die Möglichkeit, zumindest einige seiner Häuser, die gerade renoviert wurden, zu verkaufen, um die prekäre finanzielle Lage seiner Familie zu entlasten. »Nein, das geht nicht. Er würde lieber sterben, als sich von seinen Häusern zu trennen«, meinte sie.

Das hat er auch getan. Am 4. Januar 2001 starb mein Bruder mit nicht einmal 44 Jahren. Er musste sich auf diese Weise doch von seinem Imperium verabschieden, das ihm vor allem vor meinem Vater das Gefühl eines tüchtigen Geschäftsmannes verlieh. Er war lieber tot, als vor meinen Eltern als erfolgloser Unternehmer mit einer konkursreifen Firma dazustehen. Mein Bruder hinterließ eine Frau, zwei minderjährige Kinder, riesige Firmenschulden sowie gigantischen Schmerz und ein emotionelles Chaos ohne Ende.

Meine Eltern, seine Frau und seine Kinder waren wie gelähmt. Der Tod meines Bruders verursachte in meiner Familie einen riesigen Krater, wie nach einem heftigen Bombenanschlag. Die Landschaft meiner Familie wurde bis zur Unkenntlichkeit und für immer verändert. Die Familie zerfiel, denn mein Bruder hatte immer als Vermittler zwischen meinen Eltern, seiner Frau und seinen Kindern fungiert. Nach seinem Tod gab es kein Band mehr, das die Familie zusammengehalten hätte. Ich versuchte, meinen Schock durch überhöhte Geschäftigkeit zu überwinden, die allerdings schnell zu einem großen Produktivitätsverlust führte. Also musste ich meinen Einsatz vervielfachen. Gleichzeitig versuchte ich, auf beiden Seiten zu vermitteln – ein durch und durch aussichtsloses Unternehmen. Meine Eltern suchten einen Schuldigen und fanden auch bald einen. Meine anspruchsvolle Schwägerin, die meinen Bruder angeblich zu Höchstleistungen antrieb, sollte allein die Verantwortung für dieses Desaster tragen. Die Selbstverantwortung meines Bruders für sein Leben und ihren eigenen Anteil am Größenwahn meines Bruders wollten und konnten meine Eltern nicht sehen.

Ich saß in der Falle. Einerseits überfielen mich tiefe Trauer und Depression, andererseits war ich gezwungen, aufgrund meines Stipendiums täglich stundenlang Archivmaterial zu sichten, Tonnen Fachliteratur zu lesen und mich um Wohnung, Haus und Garten sowie meine zwei Kinder zu kümmern. Meine Tochter war drei und im Trotzalter, mein Sohn dreizehn und in der Pubertät. Dazu kam, dass die zwei sich damals absolut nichts zu sagen hatten und sich gegenseitig permanent sabotierten.

Heute verstehe ich, was mir meine Psychotherapeutin damals auf der Kur riet: »Bürden Sie sich immer nur so viel Arbeit auf, wie sie auch unter geänderten, erschwerten Umständen noch bewältigen können.« Wenn ich genau überlege, war bereits die Kombination von einem kleinen und einem pubertierenden Kind plus Dissertation und danach Habilitation eigentlich um zwei Nummern zu groß. Insbesondere dann, wenn keine funktionierende Oma in der Nähe war. Der Tod meines Bruders und mein daraus resultierender Schock sowie die Unfähigkeit, bei so viel Arbeit die Situation und die Trauer zu bewältigen, machten aus meiner damaligen Aufgabe eine Rakete, mit der ich mich ins Weltall weiterer Katastrophen katapultierte.

Mein Körper begann, sich erneut zu melden. Zu den regelmäßigen Kollapsen diverser Art – einer davon führte mich vom Skiurlaub mit Blaulicht direkt ins Krankenhaus – kam eine harmlose Schulterverletzung, die sich aufgrund eines Behandlungsfehlers zu einer äußerst schmerzhaften und langwierigen Erkrankung entwickelte. Ich kann mich noch erinnern, wie ich in der Bibliothek saß und wegen starker Schmerzen kaum mehr die Tastatur meines Computers bedienen konnte. Die Tränen liefen mir herunter, ich wusste aber, dass ich, sollte ich alle Vorgaben erfüllen, sitzen bleiben und arbeiten musste.

So vegetierte ich irgendwie dahin, war auf einer Rehabilitationskur, wo man mich gewissermaßen »wiederherstellen« konnte, bis mich ein weiterer Schlag erwischte. An einem Oktobersonntag 2004 rief mich zu Mittag wiederum meine Mutter an. Diesmal teilte sie mir mit, dass auch meine Schwägerin, die Frau meines Bruders, plötzlich verstorben war. Ich konnte meinen Ohren nicht trauen; ich dachte, ich halluzinierte bereits. Was niemand ahnte, weil meine Schwägerin es sehr gut zu kaschieren wusste: Nach dem Tod meines Bruders begann sie aus purer Verzweiflung über ihre hoffnungslose Situation zu trinken. Sie war nicht in der Lage, die hohen Firmenschulden, die nicht ausreichend vom Privatvermögen getrennt waren, zu bewältigen. An jenem Sonntagmorgen platzte eine Ader in ihrer Speiseröhre und sie verblutete innerhalb von wenigen Minuten.

Meine Familie löste sich auf. Ich konnte nicht begreifen, dass die Menschen, die mir so nahe standen, so einfach und viel zu früh starben. Zugleich fühlte ich mich für die Kinder verantwortlich, insbesondere für meine damals 18-jährige Nichte. Dieser Verantwortung zusammen mit meinen eigenen Verpflichtungen und auf die Distanz von fast über 400 Kilometern nachzukommen, war jedoch beinahe unmöglich. Auch zog sich das Mädchen, das aufgrund der Ereignisse schwer traumatisiert war, zunehmend zurück. Da meine bereits älteren und kranken Eltern mit der gesamten Situation überfordert und noch immer ausschließlich mit dem Verlust ihres Sohnes beschäftigt waren, konnten sie meiner Nichte nicht das geben, was ich mir vorgestellte. Ich sah das Mädchen vor mir, das mit fünfzehn Jahren ihren Vater und mit achtzehn ihre Mutter verloren hatte, und redete meinen Eltern zu. Ohne Erfolg. SIE wollten getröstet werden, sie waren einfach nicht in der Lage, jemand anderen zu trösten. Und so begann in jener Zeit eine schwere familiäre Krise, die noch Jahre andauern sollte.

 

Die familiären Katastrophen, der Dauerstress in meinem Job sowie die berufliche Hyperaktivität meines Mannes führten langsam, aber sicher dazu, dass auch meine Ehe sich im berüchtigten siebenten Jahr in einer Krise befand. Mein Mann verbrachte damals die Tage in der Ordination und in der Berufsschule, wo er als Schularzt arbeitete, die Abende als ausgezeichneter und leidenschaftlicher Geiger als Konzertmeister in einem Hobbyorchester und in zahllosen Proben für sein damaliges Streichquartett, die Nächte oft in den Nachtdiensten. Vor einiger Zeit bekam ich zufällig unseren Terminkalender aus der damaligen Zeit in die Hände. Noch nach Jahren ließ bereits der bloße Blick auf die vollgefüllten Zeilen mein Adrenalin heftig ansteigen. Damals fühlte ich mich allein gelassen und nur die starke gegenseitige Zuneigung, also die gute Basis unserer Beziehung, konnte den Zerfall unserer Ehe verhindern.

Auf dem Höhepunkt der Schwierigkeiten erreichte mich die dritte Hiobsbotschaft. Einer meiner engsten Freunde und Kollegen, der Cellist Christoph, war nach fünfzehnjährigem Kampf gegen Hodenkrebs mit 40 Jahren gestorben. Christoph war ein ungemein talentierter Mensch, ein toller Musiker, mit dem ich mein Ensemble auf historischen Instrumenten aufgebaut hatte, ein witziger, intelligenter und lebensfroher Mann. Als ich von seinem Tod erfuhr, weinte ich hemmungslos. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen, fühlte mich von allen verlassen und allein gelassen. Freilich war der Verlust meines Bruders ein enormer Verlust für mich; mit Christoph konnte ich mich aber über alles unterhalten und Ideen entwickeln wie kaum mit jemand anderem. Christoph war homosexuell – vielleicht deshalb konnte sich unsere Freundschaft so prächtig und ungestört entwickeln. Er lebte mit seinem Freund in der Bretagne, wo ich ihn mit meiner Familie öfters besuchte. Durch seinen Tod verlor ich einen der wichtigsten Menschen in meinem Leben.

Mein Körper ruft nach Hilfe

Heute, nach sechs Jahren, weiß ich eigentlich gar nicht mehr, wie es mir gelang, meine Habilitationsschrift mehr oder minder termingerecht zu beenden und danach noch bravourös das ganze Habilitationsverfahren zu meistern, das zu meiner Qualifikation als Universitätsdozentin führte. Neben meiner Lehrtätigkeit an der Universität schrieb ich unter nie enden wollendem entsetzlichem Termindruck unzählige wissenschaftliche Arbeiten, gab Noteneditionen heraus, verfasste und illustrierte Kinderbücher, kümmerte mich um meine Familie, drei Katzen und einen Hund, stritt regelmäßig und heftig mit meinem widerborstigen und jeden schulischen Ehrgeiz verweigernden Sohn, pflegte Wohnung, Haus und Garten in F. und entwickelte auch beim Tomaten- und Karottenanbau ungeheuren Ehrgeiz.

Die Tomaten gediehen prächtig, ich dagegen verlor die letzten Reste meines Glanzes. Auch hörte ich auf, Geige zu spielen, so wie mir Musik überhaupt prinzipiell auf die Nerven ging. Im Gegensatz zu meinem Mann, der sozusagen nicht einmal das Zähneputzen ohne eine Bruckner-Symphonie absolvierte, schaltete ich sofort jedes Radio aus; das Anhören von CDs wurde bei uns zu Hause beinahe ein Tabu. Heute deute ich diesen völligen Verzicht auf meine einstige Leidenschaft als Alarmstufe Rot. Alles, was ich früher leidenschaftlich gern gemacht hatte, freute mich nicht mehr. Die Fotos aus der Zeit zeigen eine Frau, die erschöpft und ohne jeden Funken Freude in den Augen wirkt. Heute spiele ich wieder meine heiß geliebte Violine in diversen Konzerten und freue mich über jede gute Musik.

Weitere »Zwischenfälle« kamen dazu. Zum Beispiel wurde meine rechte Gesichtshälfte plötzlich völlig gefühllos. Ich wollte gerade aus F. nach Wien fahren, da bemerkte ich, dass es mich große Mühe kostete, den Wagen richtig zu steuern, als ob mich eine unsichtbare Kraft stets nach rechts ziehen würde. Mein Sohn hatte damals noch keinen Führerschein, so blieb mir also nichts anderes übrig, als es unter größter Anstrengung irgendwie nach Wien zu schaffen. Heute weiß ich, dass ich damals äußerst fahrlässig gehandelt habe, und danke Gott, dass uns nichts passiert ist. Zu Hause angekommen besprach ich die Lage mit meinem Mann, der mich sofort ins Wiener AKH schickte. Nach dreistündigem Warten und einer zehnminütigen Untersuchung kam heraus, dass ich nur leichtes Fieber und möglicherweise eine Entzündung des Hirnstammes hatte. Da ich mir – bis zum Hals in meinem Arbeitswahn versunken – nicht vorstellen konnte, ein paar Verpflichtungen abzusagen und mich gründlich untersuchen zu lassen, schob ich lediglich drei Tage Erholung ein. Die Lähmung verschwand, sie blieb ungeklärt und ich begann nach diesem Zwischenfall ziemlich schnell wieder dort, wo ich aufgehört hatte – mit ein paar zusätzlichen Aufträgen dazu.

Ein paar Wochen später entschied ich mich – ebenso mit leichtem Fieber – unseren 1.000 m2 großen Garten mit der Sense zu mähen. Aus Liebe zu Wiesenblumen, Schmetterlingen und Käfern ließen wir das Gras hoch wachsen und hatten zwar eine herrliche Blumenwiese, dafür aber viel Arbeit, als es irgendwann doch notwendig wurde, das hohe Gras zu mähen. Das war sehr anstrengend, vor allem für jemanden, der den ganzen Tag in der Bibliothek saß, körperliche Arbeit nicht gewohnt war und darüber hinaus gerade einen Infekt ausbrütete. Am nächsten Tag verspürte ich Schmerzen hinter dem Brustbein, die ich noch beharrlich ignorierte. Meine damals zehnjährige Tochter kam von der Schule nach Hause; ich bereitete ihr ihre Lieblingsspeise zu, einen Grießkoch mit Zimt und Honig, und wir begannen zu essen. Plötzlich wurde mir schwarz vor den Augen, ich spürte erneut den Schmerz hinter dem Brustbein und klappte buchstäblich zusammen. Im letzten Moment klaren Denkens fiel mir ein, dass wir uns in F. befanden, wo zwar viel wunderschöne Natur, dafür aber weit und breit keine medizinische Notstelle war und hauchte deshalb meiner Tochter zu, sie solle die Rettung rufen. »Bitte kommen Sie, meiner Mama geht es schlecht«, höre ich sie noch sagen. Die Rettung landete in F. in Form eines Hubschraubers, am frühen Freitagnachmittag, und zwar gleich neben dem Gemeindeamt. Die Inszenierung konnte nicht besser, die Aufregung nicht größer sein. Der ganze Ort wusste sofort, was los war, eine professionelle Nachrichtenagentur hätte nicht besser funktionieren können. In Windeseile verbreitete sich im Dorf die Nachricht, dass ich wahrscheinlich schon tot sei. Mitten drin meine Tochter, die seitdem nie wieder Grießkoch essen wollte.

Nach einer Infusion vor Ort ging es mir etwas besser, so gelang es mir, mich sozusagen vor der Rettung zu retten. Die anwesende Ärztin wollte mich nämlich in eine aufblasbare Trage stecken und ins Krankenhaus nach Wiener Neustadt mit dem Hubschrauber transportieren, für mich der blanke Horror. Als ich spürte, wie das aufblasbare Bett vor allem meinen Hals einschnürte, überfiel mich ein – seit Jahren immer wieder präsenter – Anfall von Klaustrophobie, und ich sah in Panik das Ende nahen. Gott sei Dank erschien gerade noch rechtzeitig mein Mann, der, von unserer Tochter alarmiert, aus Wien angerast war und dabei in sämtliche Radarfallen gefahren war. Ich kratzte die letzten Reste meiner Kraft zusammen und erklärte, auf keinen Fall irgendwohin mit dem Hubschrauber geflogen werden zu wollen. Wir machten aus, dass mich die Sanitäter im Auto ins Krankenhaus nach Baden bringen sollten, das näher lag und zu dem mein Mann bessere Kontakte hatte.

Und wieder dasselbe: Untersuchungen, aber weder greifbare Ergebnisse noch eine Erklärung für meine Zustände. Einen Herzinfarkt konnten die Ärzte definitiv ausschließen, deshalb unterschrieb ich schnell einen Revers und fand mich nach einer fünfstündigen Odyssee in meinem Bett in F. wieder, wo ich die nächsten vier Tage beinahe unbeweglich liegen blieb. Ich war zu müde zu sprechen, zu lesen oder mich auch nur umzudrehen.

Aber auch Unfälle blieben mir nicht erspart. Abgesehen davon, dass mir vor lauter Hektik dauernd Dinge aus den Händen fielen und ich mich ständig irgendwo verletzte, kam es in F. auf eisglatter Straße zum Zusammenstoß meines Autos mit dem Auto einer Dorfbewohnerin. Gott sei Dank auf beiden Seiten nur ein Blechschaden, die Beule an meinem Kopf rechne ich nicht mit. Eine kleine Mahnung sozusagen. Ich verstand sie aber nicht, ebenso wenig wie ich in einem Seminar über Selbstfindung (ich besuchte diese Veranstaltung, weil ich doch irgendwie geahnt habe, dass mein Leben nicht so verlief, wie ich es gern hätte) es verstand, als mir die Seminarleiterin direkt in die Augen schaute und sagte: »Dagmar, bitte, bevor Du mit neuen Ideen und Projekten anfängst, musst du dich zuerst sammeln!« Was meinte sie denn damit? Es war mir damals zu dumm, zu fragen: Ich wollte nicht zeigen, dass es irgendetwas auf der Welt gab, das ich nicht verstehen konnte. Stattdessen nickte ich nur bedeutungsvoll und startete am darauf folgenden Montag eine neue berufliche Offensive.

Die letzte Mahnung dieser Art bekam ich durch einen Unfall mit meinem Hund Arthur, einem überaus dynamischen Labrador in der Hundepubertät, mit dem ich am späteren Abend »noch ein bisschen« joggen wollte. Meine Tochter war dabei. Wie gesagt, ich war überzeugt, dass meine entsetzliche Dauermüdigkeit auf meiner angeborenen Faulheit basierte, die ich nur mit Aktivitäten aller Art bekämpfen könnte. Arthur freute sich über den unerwarteten Lauf so sehr, dass er mit seinen vierzig Kilogramm und einer Extraportion jugendlichen Übermuts einen riesigen Satz nach vorne machte. Leider hielt ich seine Leine fest in der Hand, so musste ich, ob ich wollte oder nicht, völlig unvorbereitet den Sprung nach vorn zusammen mit ihm durchführen. Der Flug ins Unbekannte endete für mich äußerst unsanft. Ich landete mit meinem Gesicht auf der harten Asphaltstraße; bremsen konnte ich nur mit meinem Kinn.

Von heftigen Schmerzen übermannt, blieb ich regungslos liegen. Nach einigen Schrecksekunden fing meine arme Tochter an, in Panik nach mir zu rufen. Auch diesmal war sie es, die alles ausbaden durfte. Ich weiß nicht mehr, wie ich die hundert Meter nach Hause schaffte. Der Weg fühlte sich an wie eine Überquerung des Himalaya. Ich zitterte am ganzen Körper, das Blut floss von meinem Kinn, der Kopf fühlte sich an, als ob ich mit einem Mähdrescher traktiert worden wäre. Mein Kreislauf drohte definitiv zu versagen. Endlich im Bett, verbat ich meiner Tochter ausdrücklich, den Papa anzurufen, der in Wien gerade einen Nachtdienst absolvierte. (Es gehört zu den ungeschriebenen Gesetzen, dass der Arzt in der Familie nie anwesend ist, wenn man ihn braucht.) Ich wollte meinen Mann nicht unnötig beunruhigen und dachte, auch ohne ihn zurechtzukommen. Meine Tochter achtete jedoch nicht darauf und tat, was notwendig war. Als mein Mann – wieder einmal – mitten in der Nacht von Wien nach F. eilte, war ich ihr unendlich dankbar dafür, dass sie so klug und selbstständig das einzig Richtige getan hatte.

Am nächsten Tag also wieder einmal das Badener Krankenhaus, Röntgen, schmerzhafte Reinigung und Zusammenkleben der Wunde (fürs Nähen war es bereits zu spät) und eine Halskrause. Summa summarum brachte mir der Unfall zwei Wochen Krankenstand, in denen ich aufgrund der Kieferverletzung kaum feste Nahrung zu mir nehmen konnte, außerdem eine tiefe Schnittwunde am Kinn, eine leichte Gehirnerschütterung und heftiges Kopfschütteln über die Ursachen von so vielen Missgeschicken. Heute verstehe ich es. Heute lebe ich unfallfrei.

Sie werden sich jetzt wahrscheinlich denken, dass ich nicht ganz bei Sinnen war und Sie haben recht. Das wahre Problem ist nur, dass die meisten Menschen in vergleichbarer Situation längst jedes Gefühl für sich selbst und ihren Körper verloren haben. Wenn ich noch Gespür für mich gehabt hätte, wäre ich niemals in eine solche Lebenslage gekommen. Sprechen Sie mit einem Workaholic nach einem gerade überstandenen Zusammenbruch. Er wird mit allen Mitteln versuchen, Sie zu überzeugen, dass es ihm bestens gehe und alle anderen maßlos übertreiben – obwohl genau hier die Chance zur Genesung liegt: gegen ALLE UMSTÄNDE Stopp zu sagen und sich am besten sofort in eine Therapie zu begeben. Leider schaffen es nur die wenigsten, ins Rad des Schicksals rechtzeitig einzugreifen. Meist muss es erst zu einer lebensbedrohlichen Krankheit oder einem schweren Unfall kommen, die entweder das Leben des Betroffenen auf eine mehr oder minder gewaltsame Weise beenden oder – wenn man Glück hat und überlebt – eine radikale Lebensveränderung erzwingen.