Selbstoptimierung und Enhancement

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2.1.3 Empirische Untersuchungen zum Glück

Nachdem die Philosophen trotz zweieinhalbtausendjähriger Bemühungen keine einheitliche Antwort auf die Frage nach dem Glück fanden, versprechen heute Naturwissenschaftler eine klare Antwort in Form einer belastbaren Wissenschaft vom Glück (vgl. dazu BayertzBayertz, Kurt 2013, 38). In der empirischen Glücksforschung mit Schwerpunkt in der Psychologie und den Wirtschaftswissenschaften wird zwar auf eine Glücksdefinition verzichtet und von einem radikal subjektivistischen Glücksverständnis ausgegangen. Sie versucht aber allgemeine glücksförderliche Faktoren zu ermitteln, indem in repräsentativen Umfragen nach Korrelationen, d.h. Wechselwirkungen zwischen dem selbstgeschätzten Grad an Glück und anderen Faktoren wie Alter, Zivilstand oder sozioökonomischem Status gesucht wird (vgl. ebd., 43/Frey u.a., 29; 43): Bezüglich des Zusammenhangs von Glück und Geld haben viele Studien das sogenannte Easterlin-Paradox nachgewiesen, demzufolge steigende Einkommen in einer Gesellschaft ab einem bestimmten für die Stillung der Grundbedürfnisse ausreichenden Einkommensniveau weder durchschnittlich noch für die reichgewordenen Mitglieder zu mehr Glück und Zufriedenheit führen (vgl. Weimann u.a., 22ff.; 114f./Binswanger, 42ff./Frey u.a., 54ff.). Auch wenn die wohlhabenderen Menschen in einer Gesellschaft aufgrund eines Vergleichs mit den anderen durchschnittlich eine höhere Lebenszufriedenheit angeben als die ärmeren, schwächt sich die Zunahme nach oben hin ab, und nach einer Schweizer Studie kommt es sogar ab einem Einkommen von 10.000 Franken zu einer leichten Abnahme (vgl. Frey u.a., 50f.). Bezüglich der Korrelation von Glück und Arbeit sind der Verlust des Arbeitsplatzes und die Arbeitslosigkeit die am besten nachgewiesenen Unglücksfaktoren im Leben eines Menschen, und das Glück bei der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit hängt maßgeblich von der Bezahlung, dem Grad an Selbständigkeit und Selbstbestimmung sowie an intrinsischer Motivation und Wertschätzung der Leistung ab (vgl. Popp u.a., 193f./Binswanger, 45f./Frey, 95f.). Demgegenüber wird die Gesundheit irrtümlicherweise von sehr vielen Menschen als am meisten glücksrelevant eingestuft, obgleich der Zusammenhang zwischen GlückGlück und objektivem Gesundheitszustand gering ist und kranke und verunfallte Menschen wegen des Vergleichs mit noch kränkeren relativ gut mit ihrer Gesundheitssituation zurechtkommen (vgl. Frey u.a., 15). Grundsätzlich gilt allerdings zu beachten, dass die Korrelation bestimmter Variablen strenggenommen noch nichts über die Kausalbeziehung z.B. zwischen Glück und Ehe aussagt: Eine Heirat muss nicht Glück zur Folge haben, sondern glückliche Menschen könnten auch einfach leichter einen Partner finden (vgl. ebd., 19). Zudem besteht zwischen den ermittelten Glücksfaktoren und dem Glück der Einzelnen keine logische und notwendige Beziehung, sodass sich beim Vorliegen bestimmter Quellen menschlichen Glücks nur mit gewisser Wahrscheinlichkeit tatsächlich ein persönliches Glück einstellt (vgl. BirnbacherBirnbacher, Dieter 2005, 8).

2.2 Gerechtigkeit als sozialethischer Maßstab

Während „Glück“ bzw. das „gute Leben“ die Grundbegriffe der individual- oder strebensethischen Perspektive bilden, ist das Ideal der Sozial- oder EthikSozial-, Sollens-Sollensethik die GerechtigkeitGerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“. Im Gegensatz zum vertikalen Selbstbezug bei der prudentiellen Suche nach dem persönlichen Glück tritt bei moralischen Reflexionen über die gebotene Rücksichtnahme auf andere die horizontale Achse mit Interaktionen zwischen den Menschen in den Fokus. Insbesondere wenn es um das Enhancement auf der Basis neuerer Biotechnologien wie etwa Psychopharmaka oder Gentechnik geht, wirft die Selbstoptimierung neben der Frage nach der Verbesserung der Lebensqualität der Einzelnen oft auch diejenige nach der Qualität des Zusammenlebens auf. Aus einer sozialethischenEthikSozial-, Sollens- oder moralischen Perspektive befürchten viele Kritiker des Selbstoptimierungstrends den Zerfall der Gemeinschaft in egozentrische und narzisstischeNarzissmus Einzelindividuen, die asozial sind und sich nicht mehr um das Gemeinwohl kümmern (vgl. Balandis u.a., 149/KingKing, Vera u.a., 295). Es wird mit Sorge beobachtet, wie sich das ausgeprägte Streben der Individuen nach Selbstoptimierung mit immer wirksameren Mitteln auf ihr Verhältnis zu den Mitmenschen und auf die GerechtigkeitGerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“ und Chancengleichheit in einer Gesellschaft auswirkt. Was „Gerechtigkeit“ genau bedeutet, darüber gibt es allerdings nicht weniger vielfältige Vorstellungen und Konzeptualisierungsweisen als beim Glücksbegriff. Die alltäglichen Gerechtigkeitsvorstellungen genauso wie die philosophischen Gerechtigkeitstheorien basieren aber in aller Regel auf einer der beiden grundlegenden Intuitionen: Zumeist bildet die Idee der Gleichheit („EgalitätEgalitarismus“) sowohl im Alltagsverständnis als auch in der philosophischen Tradition den Kern von Gerechtigkeit: Es wird ein interpersonaler Vergleich zwischen den Menschen vorgenommen und als gerecht gilt, wenn alle in ähnlichen Situationen gleich behandelt werden. Es stellt sich dann jedoch die von Amartya SenSen, Amartya aufgeworfene Frage „Equality of what?“, also worauf genau die Gleichheit ganz konkret bezogen werden soll. Wie zu sehen sein wird, kann es z.B. die Gleichheit an Regeln, Gütern, Chancen oder Wohlergehen sein. Im Kontrast zu dieser Idee der Gleichheit und des interpersonalen Vergleichs ist es nach der zweiten Grundidee von Gerechtigkeit vielmehr gerecht, wenn jede Person ohne Vergleich das bekommt, was sie verdient: Es steht dann einzelnen Menschen etwas an sich oder absolut gesehen zu, ganz unabhängig davon, was andere haben (vgl. KrebsKrebs, Angelika, 7ff.). Diese grundlegende Alternative spiegelt sich auch in der aktuellen philosophischen Gerechtigkeitsdebatte mit den gegensätzlichen Positionen des „Egalitarismus“ und „Non“- oder „InegalitarismusNonegalitarismus (Inegalitarismus)“ wider, denen jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet ist:

 Egalitarismus: komparative egalitäre Gerechtigkeit (Kap. 2.2.1)

 Nonegalitarismus: adressatenbezogene inegalitäre Gerechtigkeit (Kap. 2.2.2)

2.2.1 Egalitarismus: komparative, egalitäre Gerechtigkeit

1) Wirtschaftsliberaler EgalitarismusEgalitarismuswirtschaftsliberaler: VerfahrensgerechtigkeitGerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“Verfahrens- in der freien Marktwirtschaft

Eine mögliche Konkretisierung der egalitären Idee der Gleichheit ist ein formaler EgalitarismusVerfahrensegalitarismusEgalitarismusVerfahrens-, bei dem wie in einem Sportwettkampf für alle Beteiligten ungeachtet ihrer Herkunft oder Religion und ohne jede Privilegierung die gleichen Regeln gelten. GerechtGerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“ oder ungerecht können nämlich nicht nur Personen und ihre Handlungen genannt werden, sondern auch Institutionen oder Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen, die das Zusammenleben der Menschen regeln. Wirtschaftsliberale halten die liberale Marktwirtschaft für gerecht, weil für alle Marktteilnehmer die gleichen Regeln gelten und sich jeder frei nach seinen persönlichen Interessen am Tausch von Gütern oder Dienstleistungen beteiligen kann: Ein Tausch kommt nur dann zustande, wenn beide Interaktionspartner vor dem Hintergrund ihrer subjektiven Präferenzen das Eingetauschte als gleich wertvoll erachten. In dem etwa von Friedrich von Hayek und Robert NozickNozick, Robert vertretenen LibertarismusLibertarismus stellen die uneingeschränkte Herrschaft des Marktprinzips und die Handlungsfreiheit der Einzelnen die obersten normativen Orientierungsmaßstäbe dar (vgl. dazu Kymlicka, 98ff./Hinsch 2016, 83f.). Die allgemein geltenden Normen beschränken sich dabei im Wesentlichen auf ökonomische Regeln eines fairen Tausches und das Recht auf Eigentum, d.h. insbesondere das Recht auf die Erträge aus den je individuellen Begabungen und Leistungen. Gemäß Nozicks Anspruchstheorie der Gerechtigkeit haben die Bürger einen Anspruch auf alle Besitztümer, die sie durch Tausch, Kauf oder Schenkung erworben haben (vgl. NozickNozick, Robert, 144f.). Die Rolle des Staates beschränkt sich im Sinne eines Minimal- oder Nachtwächterstaates auf den Schutz der Rechte auf Leben und Eigentum seiner Bürger, das Verhindern von Betrug und die Durchsetzung von Verträgen, ohne dass er aber ein öffentliches Schul-, Gesundheits- oder Verkehrswesen bereitstellen würde. Denn eine Besteuerung zu solchen allgemeinen Zwecken sowie eine staatliche Umverteilung von persönlich erwirtschafteten Gütern wird als eine ungerechtfertigte Form von Gewaltausübung und Verletzung individueller menschlicher Freiheitsrechte angesehen (vgl. ebd., 11; 143). Abgelehnt werden damit die Ideen einer Verteilungs- und sozialen Gerechtigkeit, die gegen das liberale Marktprinzip verstoßen und aus libertärer Sicht auf einem Missverständnis von Gerechtigkeit basieren. Die Marktwirtschaft als spontane Ordnung lässt beliebige soziale und ökonomische Ungleichheit zu, die als Resultat eines gerechten Verfahrens stets als gerecht gelten. Bezüglich der teilweise kostspieligen, neu auf den Markt kommenden Enhancement-Methoden wäre gemäß Libertarismus folglich jede Verteilung in der Gesellschaft gerecht, wenn sich nur alle an die geltenden Regeln des freien WettbewerbsGerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“Wettbewerbs- halten.

Gerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“EgalitarismusAus Sicht der Kritiker des libertären Gerechtigkeitsverständnisses kann aber das Marktprinzip solange nicht zu einer Egalitarismuswirtschaftsliberalergerechten Güterverteilung führen, als dabei die sehr ungleichen Startbedingungen in keiner Weise berücksichtigt werden (vgl. Kymlicka, 102/Fenner 2010, 364f.). Zu denken ist v.a. an das Erbe von Vermögen oder Privateigentum und die stark abweichenden persönlichen physischen und psychischen Dispositionen. Fast ebenso gravierend wie angeborene Charakterschwächen oder Behinderungen sind aber die ungleichen sozialen Entwicklungschancen, weil Kinder aus einkommensschwachem oder bildungsfernem Elternhaus in viel geringerer Weise unterstützt und gefördert werden. Sie bilden entsprechend weniger Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl aus und entwickeln geringere Marktkompetenz, d.h. verfügen über weniger gute Ausbildungsmöglichkeiten, Produktivität und Fähigkeiten zur Selbstvermarktung (vgl. Kymlicka, 128f.). Da diese ungleiche Erstausstattung an Gütern und Eigenschaften nicht auf eigene Verdienste und Leistungen zurückgeht, steht sie den Begünstigten schwerlich berechtigterweise zu und scheint damit nicht als gerecht bezeichnet werden zu können. In der Gerechtigkeitsdebatte wird der Einfluss von Glück, Zufall oder Schicksal (englisch „luck“) von den Vertretern des Schicksals-EgalitarismusEgalitarismusSchicksals- („luck“-) („Luck Egalitarianism“) thematisiert, der im Deutschen irreführend als „Glücks-Egalitarismus“ übersetzt wird (vgl. Wollner, 249). Ihnen zufolge ist eine ungleiche Verteilung aufgrund unterschiedlicher Herkunft, Anlagen und Talente moralisch problematisch, weil diese zufällig sind und niemand „etwas dafür kann“. Gerecht können nach dieser überzeugenden Argumentation nur diejenigen Ungleichheiten sein, die sich auf individuelle Entscheidungen, Anstrengungen und Handlungen zurückführen lassen. Die ungleichen Marktchancen werden aber in der liberalen Marktwirtschaft nicht beseitigt, sondern vielmehr weiter ausgebaut und durch Lohnunterschiede bestätigt. Ohne staatliche Umverteilung kommt es zu einer großen Ungleichverteilung der Einkommen und des Wohlstands, die wiederum unterschiedliche Chancen zum Erwerb von Gütern oder zur Erfüllung der persönlichen Wünsche und Interessen mit sich bringen. Nur formal besteht dann für alle Marktteilnehmer die gleiche negative HandlungsfreiheitFreiheit, weil Neoliberalismuskritikauch die Schlechtergestellten von niemandem am Nachfragen von Gütern und der Stillung ihrer Bedürfnisse auf dem Markt gehindert werden. Da ihnen aber unter Umständen die notwendigen materiellen Ressourcen und Kompetenzen beispielsweise zum Erwerb der neusten Enhancement-Technologien fehlen, können sie ihre Handlungsfreiheit nicht ausüben und ihre Wünsche nicht verwirklichen (Kap. 2.3).

 

2) Sozialer Egalitarismus: Verteilungsgerechtigkeit im Sozialstaat

EgalitarismusWährend Libertäre sämtliche Eingriffe in die liberale Wirtschaftsordnung zur Durchsetzung sozialer GerechtigkeitGerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“ für ungerecht erklären, geht es dem sozialdemokratischen egalitären LiberalismusLibertarismus um Gleichheit als Resultat einer gerechten Sozialordnung. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit wurde erstmals Mitte des 19. Jahrhunderts anlässlich der sogenannten sozialen Frage gestellt. Sie erlebte Ende des 20. Jahrhunderts nach dem Erscheinen von John RawlsRawls, John Theorie der Gerechtigkeit (1967) eine Renaissance, worin eine soziale Grundstruktur von Gesellschaften zur Herstellung einer substantiellen Verteilungsgerechtigkeit entworfen wird. Gerecht oder ungerecht ist gemäß der Verteilungs- oder distributiven GerechtigkeitGerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“Verteilungs-, distributive die Art und Weise, wie Handlungssubjekte, Institutionen oder der Staat bestimmte Rechte und Pflichten, Güter oder Lasten verteilen. Soziale GerechtigkeitGerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“soziale bzw. spezifischer eine soziale Verteilungsgerechtigkeit kann als Gesamtheit von Regeln zur Verteilung von Gütern und Lasten durch gesellschaftliche Institutionen verstanden werden, die auf eine Gleichverteilung von gesellschaftlichen Gütern abzielt und Ungleichverteilungen nur unter triftigen Gründen akzeptiert (vgl. Koller, 121f./Hinsch 2016, 82). Zu „gesellschaftlichen Gütern“ zählen sämtliche Güter, die erstens unabhängig von individuellen Lebensentwürfen grundlegende Voraussetzungen für ein gutes Leben bilden und zweitens anders als natürliche angeborene Güter im Besitz der Gesellschaft sind und von dieser verteilt werden. Welche konkreten Güter genau dazuzurechnen sind, wird in verschiedenen Gesellschaften und auch im Egalitarismus verschieden beurteilt. Übereinstimmung herrscht aber zumindest darüber, dass elementare Grundrechte und Grundfreiheiten wie etwa die Rechte auf Leben, Eigentum, Wahlrecht, Meinungsfreiheit und freie Berufswahl allen Gesellschaftsmitgliedern gleichermaßen zukommen sollen. Etwas weniger strikt fällt die Gleichheitsforderung in aller Regel gegenüber ökonomischen Gütern oder Ressourcen wie materiellen Mitteln, Ausbildung und Zugangsmöglichkeiten zur Arbeitswelt sowie sozialen Stellungen aus, d.h. beruflichen Positionen und öffentlichen Ämtern, die mit unterschiedlich viel Einkommen, Macht und Ansehen verbunden sind (vgl. ebd.). Nach RawlsRawls, John sind wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten nur ethisch zulässig, wenn alle gleich Begabten und Motivierten die gleichen Chancen auf den Erwerb höherer sozialer und wirtschaftlicher Positionen haben und alle anderen Gesellschaftsmitgliedern von den mit solchen Positionen verbundenen Vorteilen profitieren können (vgl. 81; 122f.). Durch ein gesellschaftliches Institutionensystem und geeignete Maßnahmen wie Besteuerungen soll dafür gesorgt werden, dass dank des gestiegenen Wirtschaftswachstums den am wenigsten Begünstigten mehr Güter zugeteilt werden können.

Gerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“EgalitarismusKritisiert wird an RawlsRawls, John sozialem Egalitarismus die unzureichende ChancengerechtigkeitChancengerechtigkeit, s. Chancengleichheit bzw. ChancengleichheitChancengleichheit, also Gleichheit an effektiven Chancen zum Erwerb sozialer und wirtschaftlicher Güter und Positionen. Dabei ist aber zwischen einer formalen und einer materiellen Chancengleichheit zu unterscheiden (vgl. Meyer, 164.): Die durch eine rechtliche Ausgestaltung gesellschaftlicher Institutionen zu gewährleistende formale ChancengleichheitChancengleichheitformale liegt bereits dann vor, wenn sich die Kriterien der Vergabe von Positionen sinnvoll aus dem jeweiligen Aufgabenbereich einer Institution ergeben und ohne jede Diskriminierung allein die Qualifikation der Bewerber ausschlaggebend ist. Eine solche formale Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit ist in RawlsRawls, John Gerechtigkeitsmodell gewährleistet, weil die Menschen relativ zu ihren individuellen Begabungen die gleichen Zugangschancen zum Erwerb gesellschaftlicher Güter und Positionen erhalten sollen (vgl. RawlsRawls, John, 81). Materielle ChancengleichheitChancengleichheitmaterielle erfordert jedoch zusätzlich eine Gleichheit der Startbedingungen, die sich auch auf ungleiche natürliche Ausstattungen und auf unterschiedliche, für die Entwicklung der Bedürfnisstruktur und Persönlichkeit der Heranwachsenden bedeutsame Umstände erstrecken. Es werden dann nicht lediglich gleiche Chancen für gleich begabte Individuen gefordert, sondern gleiche Chancen für alle Individuen. RawlsRawls, John begrüßt zwar im Sinne einer materiellen Chancengleichheit umfassende Gerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“sozialeSozialprogramme wie etwa öffentliche Bildungseinrichtungen zum Abbau sozialer Benachteiligungen. Gemäß seinem „Differenzprinzip“ sind aber Vorteile durch unverdient bessere Startbedingungen nicht ungerecht, sofern sich die langfristigen Aussichten der am schlechtesten Gestellten dadurch verbessern (vgl. 122f.). Es ist jedoch fraglich, wie das gestiegene Wirtschaftswachstum oder verbesserte Dienstleistungen etwa im Gesundheitsbereich tatsächlich den am schlechtesten Gestellten zugutekommen und Chancengleichheit auf sozialen Aufstieg der Lebensaussichten schaffen sollen (vgl. Meyer, 365). Arbeitslose oder Menschen mit einer Behinderung sind auch dann benachteiligt, wenn sie gleich viel Einkommen und Besitz erhalten oder sich dank Innovationen der besonders geförderten Talentierten langfristig die Lebensbedingungen zukünftiger Generation ihres Gesellschaftssegments verbessern sollten. Während bei RawlsRawls, John nur unverdiente Nachteile sozialer Herkunft beseitigt werden, könnten in Zukunft durch immer bessere Enhancement-Verfahren zusätzlich unverschuldete natürliche Defizite an physischen oder psychischen Fähigkeiten und Talenten angeglichen und so noch weitergehende materielle ChancengleichheitChancengleichheitmaterielle erzielt werden (Kap. 4.4).

3) Wohlergehens-Egalitarismus: Gleichheit an Wohlergehen / Chancen auf gutes Leben

Gerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“EgalitarismusAn RawlsRawls, John sozialem Verteilungsegalitarismus wurde ganz grundsätzlich immer wieder kritisiert, dieses Gerechtigkeitskonzept sei zu einseitig auf die Verteilung von materiellen und sozialen Grundgütern fokussiert (vgl. dazu Hinsch 2016, 80f./Mazouz, 374). Gerechtigkeit dürfe aber nicht ausschließlich an der Menge der zur Verfügung stehenden Güter bemessen werden, da aufgrund der großen Verschiedenheit der Menschen mit ihren individuellen Voraussetzungen, Bedürfnissen und Lebensplänen ein Mehr an Gütern nicht zwangsläufig für jeden eine Verbesserung darstelle (vgl. SenSen, Amartya, 365f.). Irrtümlich gerate dann aus dem Blick, dass Menschen mit einer unverschuldeten schwächlichen physischen oder psychischen Konstitution und wenig Talenten oder ihrer Herkunft aus bildungsfernem Elternhaus nicht den gleichen Nutzen aus der gleichen Menge an gesellschaftlichen Gütern ziehen können. Veranschaulichen lässt sich dies am Beispiel eines Menschen mit schwerer Behinderung, bei dem die Gleichheit an Bewegungsfähigkeit unter Umständen ein ganz unterschiedliches Maß an Gütern verlangt. Zudem bedeutet die Gleichheit an Einkommen und Besitz noch lange keine Gleichheit an Lebensaussichten oder Wohlergehen. Amartya SenSen, Amartya und Martha NussbaumNussbaum, Martha haben mit ihrem Fähigkeiten-Ansatz („capabilities approach“) eine Alternative zu RawlsRawls, John Grundgüteransatz entwickelt, der den erheblichen Unterschieden in den natürlichen individuellen Anlagen und Fähigkeiten der Menschen sowie ihrer verschiedenen sozialen und kulturellen Situation Rechnung trägt (vgl. ebd., 367f.): Maßgebliche Hinsicht der Gleichverteilung sollen nicht elementare Güter sein, sondern die realen Entfaltungsmöglichkeiten grundlegender menschlicher Fähigkeiten („capabilities“). Denn niemand schätze Einkommen und Besitz um ihrer selbst willen, sondern nur mit Blick auf sinnvolle Tätigkeiten oder Funktionen, zu denen sie befähigen. Dabei gelten beim Fähigkeiten-Ansatz nur diejenigen Fähigkeiten als ethisch relevant, die für ein gutes menschliches Leben und menschliches Wohlergehen wichtig sind (vgl. NussbaumNussbaum, Martha, 200f.). Der Fähigkeiten-Ansatz rückt damit in die Nähe des Wohlfahrts-Egalitarismus („welfare-Egalitarianism“) oder Wohlergehens-EgalitarismusEgalitarismusWohlergehens- („welfare“-, demzufolge in Abgrenzung von einem Güter- oder Ressourcen-Egalitarismus die Gleichheit am Grad des persönlichen Wohlergehens bemessen werden soll (vgl. dazu Hinsch 2016, 80/Meyer, 166). Es liegt dann ein ergebnisorientiertes Gleichheitsideal vor, bei dem es auf den tatsächlich aus bestimmten Gütern gezogenen Nutzen bzw. das Wohlergehen ankommt. Damit wird der Bezugspunkt der Chancengleichheit auf die allgemeine Dimension menschlichen Wohlergehens oder wesentlicher menschlicher Fähigkeit für ein gutes Leben ausgeweitet.

Gerechtigkeit, s. auch „Egalitarismus“/„Nonegalitarismus“EgalitarismusSolche „equality of welfare“-Ansätze haben allerdings die schwierige Aufgabe, in pluralistischen Gesellschaften ein umfassendes, konsensfähiges Konzept von Glück oder Wohlergehen vorzulegen (vgl. dazu Kap. 2.1). Utilitaristische Konzeptionen etwa, die Glück als Maximum an Lustempfindungen oder Erfüllung von Präferenzen definieren, kämpfen mit den allgemeinen Problemen des UtilitarismusEthikutilitaristische (vgl. Hinsch 2016, 81/Knell, 578): So hinge dann das Wohlergehen der Menschen von beliebigen faktischen Bedürfnissen und Wünschen ab, die im Utilitarismus keiner Kritik unterzogen werden. Darunter könnten sich aber die Lust und Befriedigung am Quälen oder Vergewaltigen anderer Menschen („offensive tastes“) befinden, die aus moralischer Perspektive höchst verwerflich sind. Darüber hinaus scheinen exquisite und äußerst kostspielige Wünsche oder Vorlieben der in Wohlstand aufgewachsenen Gesellschaftsmitglieder („expensive tastes“) zu einer ungerechten Verteilung zu führen, wenn gleichzeitig die aus bildungsfernem Milieu Stammenden viele Wünsche zur Ausübung menschlicher Grundfähigkeiten gar nicht ausbilden können und mit ganz Wenigem zufrieden sind („adaptive Präferenzen“). Prominente Vertreter wie Richard ArnesonArneson, Richard und John Roemer fordern aus diesen Gründen nicht die Gleichheit des faktischen Wohlbefindens, sondern die Gleichverteilung der realen Chancen auf das Erlangen von Wohlergehen (vgl. Meyer, 166/Knell, 581ff.). Bei Arnesons Chancen-auf-Wohlergehen-EgalitarismusEgalitarismusChancen-auf-Wohlergehens- werden nur reflektierte, rationale Präferenzen berücksichtigt, nicht aber unerfüllbare, auf Fehlentscheidungen basierende Vorlieben beispielsweise für erlesenen Champagner (vgl. Arneson, 336f.). Im Sinne des erwähnten Schicksals-EgalitarismusEgalitarismusSchicksals- („luck“-) sollen nicht solche selbst vergebenen, sondern nur unverschuldet eingeschränkte Chancen auf Wohlergehen kompensiert werden, die beispielsweise auf verminderte Intelligenz oder körperliche Gebrechen zurückgehen. Verfechter des Chancen-auf-Wohlfahrts-EgalitarismusEgalitarismusChancen-auf-Wohlergehens- blenden die praktische Schwierigkeit nicht aus, dass ein Staat kaum über die notwendigen Informationen über die Selbstkontrollmöglichkeit der Bürger verfügt und allen in vergleichbaren Lebenslagen ein gleichwertiges Spektrum an Optionen zum Befriedigen ihrer Neigungen verschaffen kann (vgl. ebd., 340ff.). Letztlich verschieben sich bei dieser Konkretisierung materieller Chancengleichheit also lediglich die Schwierigkeiten der begrifflichen Bestimmung sowie der empirischen Messbarkeit und Vergleichbarkeit von „Wohlergehen“ auf die „Chancen“ zum Wohlergehen.Egalitarismus