Lernen ist meine Sache (E-Book)

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Z serii: hep praxis
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–Der Gesprächsanteil der beratenden Person soll nicht grösser sein als derjenige der lernenden Person.

–Zwingend enthalten solche Pläne Ziele und idealerweise auch Optionen, die von der lernenden Person selbst stammen.

–Unterschreiben müssen die Pläne vor allem diejenigen, die damit eine Verpflichtung eingehen. Das ist fast ausnahmslos die lehrende Partei, in seltenen Fällen die Lernenden, und nur in jenen Ausnahmefällen sind es Dritte wie Eltern oder Berufsbildner, wenn ihnen eine Funktion übertragen wird.

–Lern- und Entwicklungspläne sind weder Kontrollinstrumente noch Lügendetektoren. Eine Berufsbildner-Unterschrift hat oft nur reinen Kontrollzweck. Und weshalb sollte die Lernende unterschreiben, wenn man ihr glaubt, dass sie das erreichen will, was geplant ist? Glaubt man ihr jedoch nicht, ist der Plan nichts wert.

–Lern- und Entwicklungspläne müssen die jeweils aktuellen Lern- und Entwicklungsbedürfnisse wiedergeben. Wenn das nicht mehr zutrifft, sind sie neu zu justieren.

Lern- und Entwicklungspläne eignen sich sehr gut als personalisierte Förderinstrumente in unterschiedlichen Unterrichts- und Lernsettings: in individualisierten Stützkursen, im Rahmen von institutionalisierter Aufgabenhilfe oder auch eingebettet in den obligatorischen Unterricht. Ein idealer Rahmen für die Erstellung einvernehmlicher Lern- und Entwicklungspläne sind Coachinggespräche (vgl. Text von D. Bach), detaillierte Ausführungen zum Inhalt finden sich im Text von J. Eigenmann.

Konzeptionelle Lernförderung

Pädagogische Lernförderung ist die zweckmässige Antwort auf prekäre Schulleistungen. Es wäre allerdings eine ziemlich technische Sicht der Dinge, wenn derlei Bemühungen sich auf die Anfangsphase der Ausbildung beschränkten im Glauben, ein erkanntes Defizit sei nichts als eine Lücke, die, einmal aufgefüllt, für alle Zeit geschlossen bleibe. Leistungsabfall, gesteigerte Lernhemmnisse und dergleichen können zu jeder Zeit manifest werden, es gibt keinen plausiblen Grund dafür, solches nur in der Anfangsphase zu beachten.

Ein zweiter Kurzschluss aufgrund eines technisch verkürzten Bildungsverständnisses ist der, dass der Förderbereich eine zudienende Reparaturwerkstatt sei, abgekoppelt vom Normalbetrieb und mit einem unterschiedlichen pädagogischen Konzept. Diesen Kurzschluss vermeiden heisst in letzter Konsequenz, dass pädagogische Förderkompetenz in der Schulkultur verankert werden muss und nicht an einige wenige Spezialistinnen und Spezialisten delegiert werden kann.

Soll Lernförderung als ein allgemeiner Bildungsauftrag einer Schule verstanden, sollen also die Grundregeln für erfolgreiches Lernen nicht in den abgesonderten Förderbereich verbannt werden, dann führt kein Weg an einer konzeptionellen Lernförderung vorbei. Das wäre nichts mehr und nichts weniger als ein schulweites pädagogisches Konzept, das Lernen und Entwicklung in den Vordergrund stellt. Was spricht dagegen? Vielleicht das, dass viele Gepflogenheiten überdacht und manches über Bord geworfen werden müsste, was bisher unbefragt als gültig angenommen wurde.

Lernbehinderungen vermeiden

Der Weg zum erfolgreichen Lehren führt über die Einsicht, dass der oder die Lernende das Subjekt des eignen Lernens ist, und über die Konsequenz daraus, dass nachhaltiges Lernen immer dann geschieht, wenn das Subjekt etwas können will, was ihm sinnvoll oder erstrebenswert scheint. Selbstbestimmtes Lernen halt, um des Könnens willen und nicht um des Lernens willen. Solche unspektakulären Aussagen sind so oft in der Literatur zu finden, dass allein die entsprechenden Quellenhinweise wohl Dutzende von Seiten füllen würden. Entscheidend und deshalb spektakulärer ist die Folgerung für die pädagogische Professionalität: Pädagogisches Handeln setzt den unerschütterlichen Glauben voraus, dass man es mit lernwilligen Subjekten zu tun hat. Und sollten doch mal Zweifel aufkommen, ersetze man das Wort lernwillig mit dem Synonym entwicklungswillig.

Und gleich noch ein Tipp in Bezug auf den Sprachgebrauch: bitte sparsame Verwendung des Begriffs «Lernen» in Programmansagen an die Adresse von Schülerinnen und Schülern. Angesichts der Vorstellung, dass ich mich den nicht vorhersehbaren Mühen des Lernens aussetzen muss, sind Lernhemmungen ein urmenschlicher Reflex auf eine Lernerwartung, die von aussen an mich herangetragen wird. Viel unbeschwerter lässt sich der Begriff rückblickend verwenden. Über einen Lernerfolg freue ich mich auch dann, wenn mich der anfängliche Lernauftrag nicht in helles Entzücken versetzen konnte.

Lernbehinderungen sind, bildhaft ausgedrückt, die Stolpersteine auf dem Weg zum Lernerfolg. Die Beseitigung dieser Steinbrocken, das Ebnen des Lernwegs oder aber die Wahl einer anspruchsvollen Route durch den Steinbruch, abgestimmt auf das Können und die Lust auf Herausforderung, zählen zu den wesentlichsten pädagogischen Aufgaben. Lehren heisst nicht für andere Lernen planen, sondern Lernen ermöglichen, Bedingungen schaffen, damit Lernen geschieht – oder auch nicht oder anders als vorgesehen, aber dennoch.

Lehr-Lern-Irrtümer durchschauen

Besonders gewagt sind weder diese zwei an sich gegensätzlichen Thesen noch die Behauptung, dass der scheinbare Widerspruch im Alltag locker geschluckt wird: 1. Unterrichtsprofis sind sich der gängigen Lehr-Lern-Irrtümer mehr oder weniger bewusst. 2. Lehr-Lern-Irrtümer sind weit verbreitet und prägen den Unterrichtsalltag auf allen Stufen. Ich stütze mich bei meiner Behauptung auf langjährige Selbst- und Fremdbeobachtungen. Solche Irrtümer prägen den Schulunterricht und erschweren dadurch erfolgreiches Lernen – unbeabsichtigt, aber höchst wirksam. Weshalb trotz guter Bekanntheit solchen Dysfunktionalitäten nicht beizukommen ist, wäre eine nicht uninteressante Forschungsfrage.

Lehr-Lern-Irrtümer werden sich wohl nie ganz ausrotten, allenfalls auf ein erträgliches Mass schrumpfen lassen, indem man sie aufspürt und nach Möglichkeit aushebelt beziehungsweise aushält.

Aushalten der Lehr-Lern-Irrtümer – oder vielmehr der Frustration beim meist verspäteten Gewahrwerden – könnte heissen, eigene Erwartungshaltungen mit der lernpsychologischen Erkenntnis in Einklang zu bringen, dass sich Lernen nicht von aussen steuern lässt. Als Lehrperson sollte man Abstand nehmen von der Vorstellung, alles Gelehrte müsse als exakte Kopie beim Lernenden abrufbar, das Lehrmittel müsse vollumfänglich verstanden sein. Es braucht eine Blickerweiterung, die Lernerfolg nicht ausschliesslich bezogen auf einen maximalen Wissensstand bemisst, die auch Lernfortschritte und die Qualität der individuellen Lernprozesse wertschätzt, die unerwartete Lernschritte und -ergebnisse erkennt, auch unbeabsichtigte, fragmentarische. Eine vollständige Reproduktion des vermittelten Stoffes in den Köpfen der Lernenden ist weder der Gradmesser für erfolgreiche Lehrtätigkeit noch notwendig für das Bestehen der jeweiligen Ausbildungsanforderungen. Wer daran zweifelt, erinnere sich an Abschnitte in der eigenen Bildungsbiografie, an den persönlichen Wissensstand im Verhältnis zum jeweils vermittelten Stoff – und trotzdem hat es geklappt!

Wie lassen sich solche Irrtümer aushebeln? Indem man die eigene Wahrnehmung justiert und trainiert und indem man Gewichtungen ändert. Beispielsweise kann das eine stärkere Fokussierung auf Lösungswege und Lösungsvarianten sein, zusätzlich betont und verstärkt mittels entsprechender Bewertung/Benotung: wenn ein Lernprozess oder eine Problemlösungsstrategie gleich oder höher wertgeschätzt und/oder bewertet wird als die Wiedergabe von auswendig Gelerntem, wenn Lehrerfeedback in Bezug auf Originalität und Eigenleistung im Zentrum steht anstelle von Kommentaren zu Fehlern oder erteilten Noten. Das ist eine bewusste Anspielung auf sogenannte Notenbesprechungen – eine Zeitverschwendung insofern, als Noten nichts anderes als chiffrierte Verbalaussagen sind (5 = gut, 3 = ungenügend usw.) und keines Kommentars bedürfen, solange sie valide sind. Besser eingesetzt als für rückwirkende Schelte und Mahnung wäre diese Zeit zukunftsgerichtet, für personalisierte Lernplanung.

Lerngespenster entzaubern und einspannen

Motivation der Schülerinnen und Schüler ist keine Kernaufgabe der Lehrperson und liegt insofern nicht in deren Lehrauftrag, als man sich gemäss namhaften Fachautoren (vgl. z. B. Sprenger 2014) nur selbst motivieren kann. Zutreffend ist das sicher für die intrinsische Motivation, da «jeder Mensch immer irgendwelche Motive hat, immer motiviert ist», nur passen diese Motive nicht zwingend zu dem, was im Unterricht gerade verlangt wird. Und bei fehlender Passung «kann man nichts machen, denn Motive lassen sich nicht von aussen erzeugen» (Kaiser, 2004). Die Frage «Wie motiviere ich meine Klasse?» muss anders gestellt werden: «Was kann ein Lehrer oder eine Lehrerin tun, um die Lernenden dabei zu unterstützen, sich selbst zu motivieren?» (Bastian, 2014, S. 6). Das bedeutet erstens, dass sich der Auftrag an die Lehrperson auf eine optimale Versuchsanlage beschränkt und nicht schon den Erfolg voraussetzt. Und zweitens wird klar, dass Motivation bei den Individuen ansetzt und nicht oder höchst selten bei ganzen Klassen.

In der Null-Bock-Haltung schwingt die verdeckte Botschaft, dass das Interesse woanders liegt als beim gerade Verlangten, und keinesfalls, dass null und kein Interesse für irgendwas angenommen werden kann. Klar, gelegentlich «empfinden Jugendliche den Unterricht eher als eine mühsame Unterbrechung der Freizeit, in der man sich Computergames, Sport und Hobbys widmen kann» (Guggenbühl, 2014). Das zeigt doch zweierlei: Interesse ist vorhanden, aber auch ein Interessenkonflikt zwischen Lernenden und Lehrenden. Interessenkonflikte lassen sich aber thematisieren, im besten Fall sogar klären oder zumindest durch Priorisierung entschärfen. Die Standardlösung aufgrund des Machtgefälles ist jedoch, solche Interessenkonflikte gar nicht zur Kenntnis zu nehmen oder zu übergehen, was allerdings viele Lernende dazu veranlasst, sich geistig definitiv aus dem Unterricht abzumelden. Das ist eine (weitere) verpasste Lerngelegenheit, notabene für beide Seiten, hat die Lehrperson doch eine Gelegenheit ausgelassen, zur Lebenswelt und den Interessen ihrer Lernenden vorzudringen.

 

Eine negative Klassendynamik, in welcher Form auch immer (passiver Widerstand, Verweigerungen, organisierte Störungen ...), belastet eine Lehrperson, oft längst bevor sie das Klassenzimmer betritt, und die Eskalation ist fast unvermeidlich, wenn man sie persönlich nimmt. Aber aus Distanz betrachtet: Steckt in einer dynamischen Klasse nicht auch Potenzial im Vergleich zu einer lethargischen, lässt sich allenfalls deren Solidarität und Gestaltungswille für ein gemeinsames Vorhaben einsetzen, das der Klasse sinnvoll erscheint? Einer Schulklasse junger Menschen zu unterstellen, dass sie Destruktion sinnvoll findet, grenzt schon an pädagogischen Nihilismus. Umgekehrt gehört das Wissen, dass die Sinnfrage untrennbar mit menschlicher Entwicklung, mit Lernen verbunden ist, zum professionellen Grundrepertoire.

Wer Leistungsunlust beklagt, verkennt möglicherweise zwei wichtige Faktoren. Leistung ist meist mit Anstrengung verbunden, und Anstrengung selbst ist in aller Regel nicht das Ziel, sondern eine Voraussetzung zur Zielerreichung. Zudem müssen Ziele lohnend und in subjektiver Reichweite sein, damit sie attraktiv sind. Zweiter Faktor ist die Tatsache, dass wir längst in einer Erfolgsgesellschaft und nicht in einer Leistungsgesellschaft leben. Der vorzeigbare, materialisierte Erfolg ist das, was zählt, und nicht der betriebene Aufwand. Belege dafür? Statussymbole jeglicher Couleur garantieren für das Prestige, unbesehen davon, welche Leistung dazu aufgebracht wurde. Der teure Flitzer, das Finisher-T-Shirt, das Gipfelfoto stehen für den Erfolg. Der Weg dahin, die Eigenleistung ist oft zweitrangig, nicht selten auch ein sorgfältig gehütetes Geheimnis, besonders dann, wenn sie die Strahlkraft des Erfolgssymbols beschädigen würde (kreditfinanzierter Autokauf, geborgtes T-Shirt, Gipfelaufstieg mit fremder Hilfe). Wenn die Hypothese stimmt, dass die Pädagogik die Werteverschiebung in grossen Teilen der Gesellschaft vom Leistungsstreben zum «Erfolg-ist-geil-Primat» übersehen hat, dann hätte man es mit einem folgenreichen Dissens zu tun. Die Lehrperson honoriert Produkte und Resultate als erfolgreiche Lernleistungen, derweil die Leistung hinter dem Produkt nicht das Resultat eines Lernprozesses, sondern von erfolgreichem Kopieren, Erschleichen oder Einkaufen ist. Da beide Seiten die Bewertung als gerecht und verdient betrachten, wird der so Belohnte auch künftige Erfolge mit den probaten Mitteln statt mit Lernanstrengung anstreben – und wird mit der erneuten Belohnung darin bestärkt, dass sein Vorgehen erfolgreich und deshalb erwünscht sei.

Lerngespenster können mithilfe von nüchterner Betrachtung und pädagogischer Interpretation entzaubert werden. Etwas schwieriger ist es bei der Kategorie der Schuldämonen, oder nennen wir sie schulseitig lernhemmende Einflussfaktoren. Jedenfalls dann, wenn sie real vorhanden sind. Bei Schul- und Pausenordnungen, bei der Klassenzimmerarchitektur usw. gibt es nichts zu deuten, man kann höchstens auf den eingangs eingeführten doppelten pädagogischen Auftrag zurückgreifen, der da heisst: Hinführung zur Gesellschaftsfähigkeit und Förderung der Selbstbestimmung. Darin liegt der Schlüssel im Umgang mit den Lernhemmern der zweiten Kategorie: die Freiräume ausschöpfen, wenn pädagogisches Handeln gefordert ist.

Beim Stoffdruck ist eine der ersten Fragen die, was davon übrig bleibt, wenn man das minimal Vorgeschriebene zum Massstab nimmt. Ist die Stofffülle im gesamten Umfang Pflicht, oder bildet sie lediglich das zur Verfügung gestellte Angebot ab? Was umfasst das Must-have, und was ist lediglich Nice-to-have? Massgebend sind die Bildungspläne, nicht die Lehrmittel. Und wenn im schlechteren Fall die Menge tatsächlich zu gross, die Stoffdichte zu komplex ist in Bezug auf die Aufnahmefähigkeit? (Vielleicht auch nur auf die Aufnahmebereitschaft, aber könnte das nicht auch eine kurzfristig unveränderbare Variable sein?). An diesem Punkt setzt die pädagogische Verantwortung ein, die zwischen der Vorgabe (allen Stoff behandeln) und der Professionalität (Kenntnis der Formel «Gelehrt ist nicht gelernt») abwägen muss: abspecken oder vollstopfen, exemplarisch vertiefen oder volle Komplexität, Mut zur Lücke oder volles Programm ohne Rücksicht auf Verluste?

Lehrpläne sind verbindlich, und diese Verbindlichkeit scheint umso einschneidender, je mehr ein Lehrplan zum Stoffplan verkümmert daherkommt, aufgeschlüsselt in detaillierte Lern- oder eben Lehrziele, und diese zeitlich und inhaltlich bestimmten Sequenzen zuteilt. Was gut gemeint ist, weil es der Sicherheit für Berufsanfängerinnen und Berufsanfänger dient und Vollständigkeit im Hinblick auf die Abschlussprüfung sicherstellt, hat weitgehend schulorganisatorische Gründe wie einfachere Stellvertretungen, Klassenübergaben bei Lehrerwechsel usw. Ein nicht unbeabsichtigter Nebeneffekt davon ist das Controlling. Was bei dieser Aufzählung nicht vorkommt: die Lernenden, deren Interessen, die Aktualität, die Sinnfrage. Was aber nützen vollständige Themen- und Kompetenzkataloge, wozu dienen reibungslose Übergänge, wenn ein Teil von dem, was die Lehrpläne im Kern bewirken wollen, bei den Lernenden nicht ankommt? Prioritäre Fragen dazu sind: Was ist vermeintliche und was zwingende Verbindlichkeit? Was steht in Präambeln und was im Vollzugsteil? Und im Fall von Divergenzen: Welcher Handlungsspielraum bietet sich, welchen nutze ich? Ein Blick in aktuell gültige Lehrpläne ergibt, dass die Rigorosität der tabellarischen Ziel-, Stoff-, Methoden- und Materialienkataloge oft weit weniger ausgeprägt ist, als man glaubte. Relativierend und dadurch ganz auf grössere pädagogische Handlungsfreiheit ausgerichtet sind sehr oft Präambeln und Einleitungstexte in Lehrplänen, zum Beispiel: «Die Behandlung und Bearbeitung aktueller Themen haben bei der Unterrichtsplanung Vorrang» (aus dem «Vorwort Schullehrplan Allgemeinbildung» der Berufsfachschule für Hörgeschädigte).[3] Parallel zum Lehrplan ist die Lehrperson immer auch ihrem pädagogischen Auftrag verpflichtet. Es gehört zu ihrer professionellen Verantwortung, abzuwägen zwischen Lernzuwachs und Marschieren im Gleichschritt nach den Vorgaben des Lehrplans.

Die von Lehrpersonen erstellten Arbeitsblätter haben ganz unterschiedliche Funktionen, unter anderem auch diese: Sie fassen den Erkenntnisstand der Lehrperson komprimiert zusammen, sie bezwecken die Strukturierung und Rhythmisierung des Unterrichtsablaufs, sie zielen auf Mehrfachgebrauch, bezwecken dadurch Rationalisierung, sie sind der materialisierte Output von arbeitsteiliger Teamarbeit, sie sind Notnägel für akute Situationen, gelegentlich verfolgen sie primär Imponierzwecke (z. B. in Lehrproben). Ja, möglicherweise bewirken sie auch Lerneffekte und Wissenssicherung bei den Lernenden – wobei ich gerade bei dieser Funktion unsicher bin, wie viele eigene Belege ich dazu vorzuweisen hätte. Das konsequenteste Arbeitsblatt ist ein leeres Papier beziehungsweise ein neu eröffnetes Dokument auf dem PC-Bildschirm. Solche Arbeitsblätter verlangen den Lernenden echte Arbeit in jeder Variation ab: Denkarbeit, Strukturierungsarbeit, Schreibarbeit, Gestaltungsarbeit, Selbstkontrolle. Diese unvollständige Aufzählung möglicher Funktionen von Arbeitsblättern ist natürlich eine Zuspitzung und kein Plädoyer dafür, dass als Arbeitsblätter ausschliesslich unbeschriebene Blätter zu verwenden seien. Universalrezepte gibt es diesbezüglich nicht, Monotonie verdirbt den Genuss. Arbeitsblätter können keine punktgenauen Lerneffekte bewirken, höchstens die Art der verlangten Arbeit steuern. Deshalb ist beim Erstellen mindestens so stark wie auf den Inhalt darauf zu achten, welche Qualität von Arbeit zu leisten ist und in welchem Umfang diese Arbeit notwendig ist, um die mit der Aufgabenstellung verfolgten Ziele zu erreichen.

Frontalunterricht ist eigentlich nur dann ein Problem, wenn er belastet: die Lehrperson, weil sie in ihrem subjektiven Empfinden zu viel davon betreibt, oder die Lernenden, wenn sie zu viel am Stück oder zu viel Komplexität oder ein Zuviel an Monotonie vorgesetzt bekommen. Im Übrigen gibt es ausreichend gute Literatur, die dem Frontalunterricht seinen Platz im didaktischen Repertoire zuordnet, zum Beispiel «Unterrichtsmethoden II: Praxisband» (Meyer, 1987, S. 182–225).

Bausteine für lernfördernden Unterricht

Trockenmauern, diese unverwüstlichen Kunstwerke aus roher Natur, verdanken ihre Stabilität einer bedingungslosen Akzeptanz des Rohmaterials und einem guten Augenmass für dessen Individualität. Die spezielle Form eines jeden Steins muss erfasst und dafür ein geeigneter Platz gefunden werden. Für jede noch so eigentümliche Form gibt es einen passenden Ort, vorausgesetzt, man erkennt die Passung; manchmal springt sie ins Auge, oft muss man die Steine drehen, einzelne Prachtstücke zur Seite legen, bis sie ihren Beitrag zur Mauer leisten können. Es gibt fast keinen Stein, der nicht irgendwo hinpassen und dort seinen Zweck weit besser erfüllen würde als jeder andere. Zugehauen wird nur im äussersten Falle und so subtil wie möglich. Am Schluss ist eine solche Mauer ein stabileres und schöneres Unikat als jede schnell hochgezogene monotone Backsteinmauer oder Betonwand – und überdauert Jahrhunderte.

Auch den Lehrpersonen steht Material zur Verfügung, mit dem sie umsichtig, nach allen Regeln der Kunst an ihrem Werk arbeiten – der Bildung junger Menschen. Auch pädagogische Handwerkerinnen und Handwerker haben ihre Pläne dem wertvollen Rohmaterial anzupassen, damit sie sich später an den gewachsenen Unikaten freuen können. Das Baumaterial, das ist einmal das nicht immer ganz augenfällige Potenzial der Lernenden mit ihren zum Teil ausgeprägten schulischen Lernhemmungen, etwa wenn sie in Gestalt der Typen C, D und E auftreten. Wer es erkennt, baut schon längst an seinem Kunstwerk, während andere noch damit beschäftigt sind, Steine zu behauen, oder verzweifelt versuchen, die lieblos aufgeschichteten Klötze mit losem Material und Schnellzement zu stabilisieren. Darüber hinaus verfügen Lehrpersonen über Entscheidungsspielräume und Materialien, die sie selbst beeinflussen und modellieren können, begonnen beim Fundament über die Hilfsmaterialien bis zu den vielen Optionen, die im Ermessensspielraum der professionellen Tätigkeit vorhanden sind.

Das Fundament: Pädagogisches Credo

Die ureigenen Überzeugungen, die pädagogische Grundhaltung, das Credo der Lehrperson, können als das unsichtbare Fundament gesehen werden, auf dem die sichtbare Arbeit aufbaut. Gerade weil dieses Fundament oft un- oder halbbewusst das planmässige Handeln steuert, ist es so zentral. Unter der Annahme, dass in allen Lehrpersonen so etwas wie ein pädagogisches Feuer brennt, wäre die Arbeit an der eigenen Grundhaltung nichts anderes als die Speisung dieses Feuers. Was vordergründig als das Gegenstück zur reinen Pflichterfüllung erscheint, kann – nein soll – genau umgekehrt gesehen werden: Es gehört zur professionellen Pflichterfüllung, seine pädagogische Haltung zu schärfen und zu pflegen. Hierzu im Sinne von Anregungen ein paar Denkanstösse:

Um die eigene pädagogische Haltung zu entwickeln und zu schärfen, können Dilemma- und Konfliktsituationen antizipiert und durchgespielt werden, zum Beispiel:

•Werde ich angesichts eines unvermittelt auftretenden Konflikts in der hintersten Bankreihe

–die Lektion möglichst ordentlich über die Runde bringen oder

–den Konflikt verhandeln?

•Einer in der Klasse nervt schon wieder, ich fühle mich gestört. Werde ich

–den Störer vor der Klasse zurechtweisen oder

–ihm diskret diesen Zettel hinstecken «Machen Sie jetzt bitte zehn Minuten Pause, in der grossen Pause um zehn Uhr höre ich Ihnen dann gerne zu»?

•Wenn wieder zu Unterrichtsbeginn zwei (immer die gleichen!) Lernende fehlen,

–setze ich ohne Aufhebens den Unterricht fort, selbst dann, wenn sie fünfzehn Minuten später lässig, ihren Auftritt geniessend, durch die Klasse zu ihren Plätzen schlendern, oder

–stelle ich sie gleich raus und nehme dabei den unvermeidlichen Unterrichtsunterbruch in Kauf, oder

–klebe ich vorher das Schild an die Türe «Die Veranstaltung hat begonnen, nächster Einlass um 9.15 Uhr» und schliesse ab?

•Wenn zum Unterrichtsbeginn aus der Klasse der Ruf ertönt: «Dieses Thema ist aber langweilig, können wir nicht über … sprechen»,

 

–ist meine Antwort dann normalerweise: «Zuerst machen wir mein Programm, dann können Sie Ihren Vorschlag nochmals bringen», oder

–schicke ich die Interpellantin nach draussen mit dem Auftrag, in einer halben Stunde entweder das Thema zu moderieren oder mit einem Bearbeitungsvorschlag zu kommen?

Diese und weitere Beispiele aus dem eigenen Repertoire dienen dazu, künftiges Handeln statt von Spontanreflexen von seiner pädagogischen Haltung leiten zu lassen. Ein solcher Verhaltenstrainings-Effekt wird begünstigt, wenn man das Dilemma in zwei Dimensionen durchspielt: 1) Wie handle ich spontan in der Situation?, und b) Was wäre die für mich ideale Reaktion? Konfliktantizipationen eignen sich auch perfekt für das Teamtraining im Rahmen von Intervisionen oder ähnlichen Settings.

Eine andere Möglichkeit, die pädagogische Haltung zu schärfen und zu pflegen, setzt bei der Unterrichtsplanung an. Statt zu fragen: «Mit welchen Methoden bringe ich den Stoff am besten durch?», heisst die vorrangige Frage: «Was will ich erreichen?»

Massvolle und dynamische Semesterplanung

Eine mittelfristige Planung der Unterrichtsinhalte und -abläufe ist sinnvoll, da sie entlastet und Transparenz schafft. Ob das Planungsintervall ein Quartal oder ein Semester umfasst, ist weniger von Belang und wird hier vereinfachend als Semesterplanung apostrophiert. Die entscheidenden Aspekte sind die Entlastung (insbesondere der Lehrperson) und die Transparenz (vor allem für die Lernenden). Ich möchte an dieser Stelle für eine massvolle, dynamische und deshalb bewusst lückenhafte Semesterplanung plädieren – auch wenn solches kontrastiert zu vielem, was in didaktischen Lehrbüchern steht. Denn eine bis ins Detail durchgetaktete Semesterplanung übergeht zwingend die situativen Lernbedürfnisse der Hauptpersonen – oder, dramatisiert ausgedrückt, sie zerquetscht die nachfolgenden Bausteine zu Bauschutt.

Die Semesterplanung entlastet die Lehrperson und schafft Transparenz, wenn sie die zu behandelnden Themen nennt und die Inhalte grob umreisst, wenn sie explizit auf geplante Leerstellen verweist und zwingend auch die nicht stoffgebundenen Dimensionen wie soziale Ziele, Methodenziele oder eben auch die Offenlegung des pädagogischen Credos berücksichtigt. Es geht bei der Semesterplanung auch darum, alle (Lernende und Lehrperson, eventuell auch interessierte Lehrmeister) mit einer gewissen Verbindlichkeit auf die vorgesehenen Verhandlungsspielräume hinzuweisen. Solche mehrdimensionalen Semesterpläne sind anpassungsfähig, für alle spannender und mindestens so nützlich wie minutiöse Zeit- und Ablaufpläne. Sie haben als zweite Funktion auch einen zentralen Wert für einen abschliessenden Semesterrückblick, der die Leerstellen und Verhandlungsspielräume reflektiert und zur Diskussion stellt: Wurden sie genutzt? Wie? Warum nicht? Wie könnte man das besser handhaben? Reflektieren wird man solche Fragen selbst oder im Team, diskutieren kann man sie durchaus mit der Klasse, besonders dann, wenn sie im Zeichen von Transparenz auch schon über den Plan ins Bild gesetzt wurde.

Dynamische Unterrichtsplanung

Ein minutiös geplanter Unterricht ist das Gesellenstück einer jeden Lehrerausbildung; die Architektur und die Einhaltung solcher Pläne sind der Gradmesser für die in Noten übersetzte Praxistauglichkeit der Novizinnen und Novizen. Dagegen ist nichts einzuwenden – fast nichts, ausser, dass damit Lernen verhindert wird. Oder mit Krapf ausgedrückt: «Mancherorts wird erwartet, dass vorbereiteter Unterricht sich gemäss der Vorbereitung realisieren lässt. Gerade das dürfte nicht passieren. Wenn es trotzdem geschieht, ist der Misserfolg dokumentiert. Wenn nämlich Unterricht ein gemeinsames Unternehmen von Leiter und Schüler/-innen ist, kann es gar nicht sein, dass die Vorlage der Lehrkraft ihre Gültigkeit behält» (Krapf, 1995, S. 119).

Die hier empfohlene Alternative ist natürlich nicht der gänzlich unvorbereitete Unterricht, sondern eine dynamische Unterrichtsplanung analog zur Semesterplanung, zum Beispiel so:

•Die Lehrperson präsentiert ihr Vorhaben (mehr oder weniger detailliert) und sammelt Reaktionen dazu. Anmerkungen: Das entspricht einem üblichen Sitzungsverlauf, wo zu Beginn die Traktandenliste präsentiert wird, gefolgt von einer Umfrage zu den vorgeschlagenen oder ergänzenden Traktanden.

•Die Lehrperson hat einen (mehr oder weniger detaillierten) Unterrichtsplan, eröffnet jedoch mit einer solchen oder ähnlichen Frage: «Was ist in der vergangenen Woche passiert, das Sie hier besprechen möchten?»

•Der Unterricht ist aufgrund zurückliegender Vereinbarungen bereits sequenziert, inklusive Art und Umfang des (Lehrer-)Inputs. Dieser kann dann nach Plan oder als Option zu alternativen Angeboten realisiert werden.

•Die Lehrperson hat jeweils einen Plan B (zum Beispiel die wasserdichte Stellvertretungslektion), den sie hervorziehen kann, falls ein geplantes, offenes Unterrichtsvorhaben fehlschlägt.

Klar, dass solche dynamischen Unterrichtsplanungen die Bereitschaft erfordern, geplante Inhalte und Abläufe zurückzustellen und situative beziehungsweise spontane Anliegen zu priorisieren.

Dynamische Unterrichtsplanung verspricht lebendigeren Unterricht und garantiert nicht nur spannendere Erfahrungen für alle, sie entlastet mittelfristig auch, da nicht benötigte Vorbereitungen für später zur Verfügung stehen. Auf jeden Fall sind durchpräparierte Musterlektionen reserviert für Probelektionen und funktionieren nur, weil die Schülerinnen und Schüler in aller Regel solidarisch brav mittun.

Unterrichtsreflexion

Sich fragend mit der eigenen pädagogischen Haltung beschäftigen heisst, in der Unterrichtsplanung ab und zu Reflexionsphasen einzubauen. Was habe ich gewollt? Was wurde erreicht? Was funktionierte? Was nicht? Weshalb?

Eine einfache Möglichkeit dazu ist für Krapf (1995) die Nachbereitung: «Wie wäre es, wenn die Zeit, die gewöhnlich für die Vorbereitung eingesetzt wird, neu für die Nachbereitung verwendet würde? Die Konzentration würde sich auf jene Verhaltensweisen richten, die eine besonders günstige Lernsituation entstehen liessen.»

Eine andere Möglichkeit besteht darin, bei mittel- und längerfristigen Unterrichtsplanungen, zum Beispiel bei der Themen-, Quartals- oder Semesterplanung, neben den üblichen Präparationskriterien zusätzlich die pädagogischen Absichten zu notieren: eine Spalte, reserviert für die pädagogischen Ziele, und zwar konkret, überprüfbar und allenfalls auch differenziert nach Individuen. Unnötig zu sagen, dass auch solche Zielsetzungen einer regelmässigen Überprüfung unterstellt werden sollten. Als zugespitzte Kurzformel formuliert: keine Lernzielüberprüfung ohne Lehrzielüberprüfung.

Motivation ist keine Lehrerpflicht

An der Motivationsdiskussion ist für Lehrpersonen und andere pädagogische Handwerkerinnen und Handwerker bedeutsam, dass sie nicht verantwortlich sind für die intrinsische Motivation ihrer Lernenden. Die Konsequenz daraus ist, dass man sich viel Mühe sparen kann, um motivierende Gags und Unterrichtseinstiege zu finden.

Aber, und das ist die schlechte Nachricht, Lehrpersonen sollten sich sehr wohl um die Motive ihrer Lernenden bemühen. Das ist mitunter schwieriger, als sich der Illusion hinzugeben, man könne mit einem Comic, einer Songeinspielung oder dem ultimativen Videoclip eine allgemeine Motivation hervorzaubern. Motive oder Interessen stehen den Lernenden nicht ins Gesicht geschrieben, und die wenigsten sind wohl in der Lage, aus dem Stand heraus auf die Frage «Was interessiert dich?» eine für das Lernverhalten relevante Liste zu erstellen. Aber wenn Lernen stattfinden soll, geht das nur, wenn der Lernstoff auf Interesse stösst.

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