Lernen ist meine Sache (E-Book)

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Z serii: hep praxis
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Die normierende und bewahrende Funktion der Schule ist weitgehend im System abgesichert: im obligatorischen Pflichtprogramm und durch mannigfache Rituale und Konventionen, beispielsweise in Form von Bewertungen und Selektion, in der Ausbildung von Lehrpersonen, in Probelektionen und der (lohnwirksamen) Qualifikation bis zur Pensionierung. Das begründet die Dominanz dieser bewahrenden gegenüber der befreienden, der Selbstentfaltung verpflichteten Funktion. Diese hat ihren Platz – im besseren Fall – im Kürprogramm der Lehrpersonen. Wahlthemen und Randstunden, ausserordentliche Anlässe und Belohnungszugeständnisse sind die tolerierte Nebenbühne dafür.

Liegt es eventuell am Selbstverständnis der Lehrpersonen, dass emanzipatorische Ziele so oft das Nachsehen haben? Ich denke eher nicht, denn es gibt wohl wenige in ihren Reihen, die in ihrem pädagogischen Credo nicht Werte wie «Selbstentfaltung fördern» hochhalten. Und die Fachliteratur überquillt mit Appellen an die Lehrpersonen, sich, «über den Tellerrand hinaus ... als Agenten des Wandels ... mit Veränderungen auseinanderzusetzen, ... als kreative Mitgestalter der Schule als lernendes Unternehmen» (Müller, 2007). Weshalb also müht sich der Pädagoge als ein Sisyphos am Berg der Sachzwänge ab? Vorauseilender Gehorsam? Hat er das verhängnisvolle Götterurteil nie schriftlich verlangt, gar nie nachgefragt, ob es denn dieser schwere Brocken sein müsse, ob er ihn unbedingt allein stemmen müsse? Ist es ihm nie in den Sinn gekommen, wenigstens einmal ohne Ballast aufzusteigen und sich eine andere Perspektive zu eröffnen?

Lehrpersonen agieren in aller Regel auf der Grundlage eines mittelständisch geprägten, auf liberaler, christlicher Tradition ruhenden Bildungsverständnisses, das in unterschiedlicher Ausprägung die Bildungspläne aller Stufen durchdringt. Dient dieses Bildungsverständnis der gleichberechtigten Entwicklung aller Bildungssubjekte? Und fast noch wichtiger, inwieweit deckt es sich mit deren subjektiven Vorstellungen und Zielen? Im Klartext: Von sogenannt Bildungsfernen, von strukturell und/oder intellektuell Benachteiligten oder von Menschen mit Migrationsbiografien kann nicht ernsthaft erwartet werden, dass sie vorrangig am klassischen Bildungskanon interessiert sind und willig auf den hinteren Plätzen sitzen bleiben, wenn vorne die gesellschaftlichen Chancen verteilt werden. Sie haben ausreichend eigene und fremde Erfahrungen, um daran zu zweifeln, dass sich Erfolg einstellt, wenn man sich nur genug anstrengt. Genug hiesse angesichts des schlechten Startplatzes mehr zu tun als all jene, die mit Vorsprung in die Rallye der Chancenverteilung starten.

Strukturelle Lernbehinderungen

Einige der mannigfaltigen strukturellen Lernbehinderungen, von der Absenzenregelung bis zur Zimmerbestuhlung, sind im Text von Jürgmeier ausführlich beschrieben. Hier begnüge ich mich damit, auf deren Existenz hinzuweisen.

Diagnose-Förder-Karusselle

Das, was ich als Diagnose-Förder-Karussell bezeichne, ist ein ausgesprochen verbreitetes Phänomen, das an vielen Berufsfachschulen in Gang gesetzt wird, meistens zu Beginn einer Ausbildung, im Laufe des ersten Quartals. Landauf, landab werden Eintrittstests und Lernstandserhebungen durchgeführt. Mit unterschiedlichen Instrumenten, Marke Eigenbau oder eingekauft, werden Mathematik- und Sprachleistungen objektiv erhoben, mit Soll- und Durchschnittswerten verglichen, das Ganze manchmal gar auf dem Gebiet der Sozial- und Selbstkompetenzen. Solche Klassenscreenings finden in manchen Schulen oft flächendeckend statt. Sie zeigen in erster Linie Standardabweichungen Einzelner, machen zum Zeitpunkt X gemessene Rückstände in Bezug auf definierte Anforderungsstandards sichtbar, und im besten Fall geben sie einigen Lernenden auch Auskunft über ihre Reserven in Bezug auf die Minimalanforderungen.

Früherkennung ist ein häufig benützter Begriff für solche zum Standard gewordene Übungen, um allen Beteiligten die Notwendigkeit von Stütz- und Fördermassnahmen vor Augen zu führen, belegt mit Zahlen und Quoten. Der Zweck besteht darin, vom Besuch der nachgelagerten Angebote zu überzeugen (wen?), die unter ganz unterschiedlichen Titeln (Stützkurse, Förderkurse, Lernateliers …) angeboten werden und versprechen, die erkannten Defizite zu beheben. Nach den absolvierten zwanzig bis vierzig Lektionen entlässt das Karussell die Passagiere und wartet auf den Einsatz im Folgejahr. A prima vista scheint es sehr plausibel, Förderkursaufgebote an die Befunde von Diagnostikscreenings zu koppeln. Problematisch wird es dann, wenn solche Kernaussagen einschlägiger Publikationen isoliert rezipiert und verkürzt umgesetzt werden: «Die zentrale Frage für die Berufsbildenden an Berufsfachschulen in der Phase der Früherfassung lautet: Bringen die Lernenden die nötigen Voraussetzungen mit, um die schulischen Leistungsziele ... zu erreichen?» (Grassi et al., 2014, S. 47). Problematisch deshalb, weil es dazu führt, den Blick einseitig auf die Defizite zu richten, und in der Folge, analog zum Vorgehen der Schulmedizin, die vermeintlich probaten Gegenmittel verabreicht werden.

Diagnostik-Förder-Karusselle drehen alljährlich ihre Runden mit ungebrochenem Glauben ihrer Betreiber an die selbst zugeschriebene Wirkung. Bei dieser rituellen Mechanik ist kaum Platz für Fragen, dabei gäbe es ein paar ganz zentrale angesichts des betriebenen Aufwands, der notabene in den meisten Curricula weder inhaltlich noch mit der nötigen Zeitdotierung budgetiert ist:

•Ist die Wirkung der Förderprogramme nachgewiesen, wird sie auch mittel- und langfristig geprüft?

•Ist Lernmotivation durch Mahnfinger und Knüppel tatsächlich ein probates Mittel für Lernanstrengungen?

•Sind die Angebote optimal auf die erhobenen Mankos abgestimmt?

•Wie werden Erfolgserlebnisse sichergestellt, die anerkanntermassen wichtig sind für wirksame Lernprozesse?

•Weshalb werden nur Lernende mit ungenügenden Resultaten gefördert?

Wie berechtigt diese Fragen sind, zeigt das Resümee einer grossen Berufsfachschule, das sich auf eine mehrjährige Erfahrung bei den Elektroberufen stützt, einem der meistgewählten Berufsfelder industriell-gewerblicher Richtung. Es dürfte mit Sicherheit kein Sonderfall sein: Früherfasst wurden schulweit alle Lernenden im ersten Lehrjahr, dabei stellte man in rund 40 Prozent aller Fälle einen Förderbedarf fest, grossmehrheitlich in Mathematik. Rund 50 Lernende beziehungsweise 90 Prozent der «Förderbedürftigen» des betreffenden Berufs besuchten anschliessend Stützkurse aufgrund ihres Defizits. Erstaunlich dann das Resultat der Wirkungsmessung jeweils ein paar Wochen nach Stützkursende mit dem identischen Test wie in der Früherfassung: Es gibt keine oder nur sehr geringfügige Unterschiede im Vergleich zur Leistung beim Schuleintritt. Anzumerken ist, dass besagte Schule die Förderkurse auf vorbildliche Art durchführt: an zusätzlichen Schulhalbtagen, ergänzt mit nachgelagerten Kursblöcken samstagvormittags – besucht von rund 50 Prozent der Stützkursabsolvierenden (wegen noch unbefriedigender Lernerfolge). Zusätzlich laufen weitere Förderprogramme, wie die betreute Aufgabenhilfe von Montag bis Samstag. Nullwirkung schon kurze Zeit nach den Stützkursen! Dabei wird die eigentliche Wirkung, auf die solche Förderung implizit ausgerichtet ist, meines Wissens nirgends erfasst: Wie erfolgreich schliessen die Stützkursgeförderten ihre Ausbildung in den entsprechenden Fächern ab? Oder anders formuliert: Hat das Diagnose-Förder-Karussell seinen Anspruch, Defizite zu beheben, erfüllt, die Versprechen gegenüber den Lernenden eingelöst?

Diagnostikfalle

Die Köder in der Diagnostikfalle sind mit arithmetischer Genauigkeit nachgewiesene Defizite. Die Falle schnappt bei all jenen zu, denen ein wissenschaftlich errechnetes Ungenügen kein ausreichender Lernanreiz ist. Sei es, dass sie um ihre Defizite wissen und schon längst in der Spirale der negativen Attribuierung (vgl. J. Eigenmann in diesem Buch) gefangen sind; sei es, dass entweder ihr aktuelles Selbstbild oder die persönlichen Prioritäten keine genügende Motivationsgrundlage für die Defizitbehebung darstellen. Zugeschnappte Diagnostikfallen wie auch allzu grosse Soll-Abweichungen erzeugen unweigerlich hartnäckige Lernhemmungen.

Diagnostik per se der Fallenstellerei zu bezichtigen, wäre falsch. Es gibt Lernende, die bekannte und/oder aufgezeigte Lücken schliessen wollen, es gibt auch solche, für die ein externer Fingerzeig durchaus Lernprozesse in Gang setzen kann (vgl. Typ B). Diagnoseinstrumente sind ebenfalls geeignet, Potenziale und vorhandene Stärken sichtbar zu machen. Diagnostikverfechter preisen die mitgemeinte Ressourcenförderung denn auch oft und gerne an. Und dennoch münden in aller Regel Übungsanlagen mit der Bezeichnung «Früherfassung» oder ähnlich in eine Empfehlung zur Aufarbeitung der Defizite, die Vorlieben und besonderen Fähigkeiten bleiben aussen vor. Ich unterstelle, dass die meisten Diagnosen in Berufsfachschulen auf der Sekundarstufe II, unter welchem Titel auch immer, einer Denkfigur folgen, wonach zuerst die Defizite zu erkennen und zu beheben sind, bevor man vorhandene Ressourcen (Interessen und Fähigkeiten) entwickelt. Aussagen wie diese werden an mancher Berufsfachschule als Empfehlung gelesen, um unmittelbar zur Tat zu schreiten: «Am Ende der Früherfassung bekommen die Lernenden von den Berufsbildenden aller drei Lernorte eine differenzierte Rückmeldung. Im Fokus stehen dabei zunächst Lernende mit Unterstützungsbedarf oder schlechter Passung (Anforderung zu tief oder zu hoch) sowie Lernende, bei denen ein Abbruchrisiko besteht» (Grassi, 2014, S. 45). Das heisst, es werden Stützkursempfehlungen, -einladungen oder gar -aufgebote verfasst. Der wichtige Nachsatz im Text von Grassi wird dann oft und gerne überlesen: «In solchen Situationen treffen sich alle Beteiligten an einem runden Tisch, analysieren die Lage und entscheiden im Einvernehmen über das weitere Vorgehen.» Diese Defizit-zuerst-Denkfigur ist auch gesetzlich untermauert: Freifachbesuch setzt genügenden Notendurchschnitt voraus (BBV Art. 20, Abs. 3), was für all jene bedeutet, die auch nach der Stützkursdusche im Noten-Grenzbereich verbleiben, dass sie vom Freifachunterricht weitgehend ausgeschlossen sind – in Anbetracht der Bedeutung des Ressourcenbegriffs eine Absurdität. Die Ressource, die Quelle, nährt den Fluss, das gilt gleichermassen für den Lernfluss. Ressourcen bilden den Ausgangspunkt von Entwicklungen und müssen deshalb auch im Zentrum aller Lehrbemühungen stehen.

 

Stützkursfalle

Wer die Diagnostikfalle mit einem Manko-Etikett verlässt, läuft Gefahr, in der Stützkursfalle zu landen. Man muss nicht so weit gehen, dem Stütz- und Förderunterricht jedwede positive Wirkung abzusprechen, obwohl es empirische Befunde gibt, die belegen, dass Stützunterricht sogar dysfunktional ist (Moulin, 1998). Die Stützkursfalle schnappt aber dann unerbittlich zu, wenn Fördermassnahmen gegen den Willen der defizitbehafteten Schüler und Schülerinnen angeordnet werden, meist und gerne im Anschluss an diagnostiziertes Ungenügen. Für viele Lernende, die bereits Bekanntschaft gemacht haben mit Stütz- und Förderbemühungen, sind solche Erfahrungen mit Enttäuschung, persönlicher Kränkung oder Fatalismus verbunden. Werden sie ein weiteres Mal mit Nachdruck oder gar offenem Druck dahin getrieben, gibt es primär ein Ziel: entkommen oder in den Abwehrmodus gehen. Das erneute Bearbeiten von Defiziten ist ein schlechtes Lernmotiv und lässt deshalb keine grossartige Erfolgsprognose erwarten. Oder wie gerne tun Sie die Dinge, die Sie am wenigsten gut können, wie erfolgreich lösen Sie Aufgaben, an die Sie mit Misserfolgserwartungen herantreten? Widerstände und Misserfolgserwartungen gehören mit zu den stärksten Verursachern von Lernbehinderungen.

Der bestmögliche Fall, von dem die meisten Diagnostik-Apologeten per se ausgehen, tritt ein, wenn ein Lernender einsieht, dass aufgrund seiner erkannten Lücken und Defizite Fördermassnahmen notwendig sind, wenn die Lücken nicht allzu gross und ausreichend Ressourcen vorhanden sind. Dies ist eine günstige, aber noch keine ausreichende Voraussetzung, um die Stützkursfalle zu umgehen. Damit nachhaltiges Lernen tatsächlich erwartet werden kann, müssten die Förderangebote dann noch mit den Zielen der Benützer korrelieren und auf die individuellen Ressourcen abgestimmt sein. Schematische Förderangebote erfüllen diese Voraussetzungen nicht oder nur in zufälligen Ausnahmen, es fehlt ihnen die personalisierte, einvernehmliche Lernplanung.

Lehr-Lern-Irrtümer

Vier Lehr-Lern-Irrtümer scheinen unausrottbar, und das, obwohl wahrscheinlich kaum jemand zu finden ist, der sie verteidigen würde. Diese Irrtümer, nachfolgend richtiggestellt, sind:

Gelehrt ist nicht gelernt. Diese Formel wie auch Abwandlungen und Verfeinerungen davon (gehört ist nicht verstanden, verstanden ist nicht begriffen) sind trivial und kaum bestritten. Trotzdem wird im Alltag laufend dagegen verstossen. Welche Lehrperson kennt nicht Lehrerzimmersätze der folgenden Art, meist noch gestisch verstärkt: «… ich habs ihnen doch erklärt», «… der will das einfach nicht begreifen», «… dieser Klasse muss ich alles zweimal sagen»? Spätestens bei Lernkontrollen tritt nicht selten zutage, was schon Generationen von Lehrpersonen zur Verzweiflung brachte und keine Didaktik bisher gemeistert hat: Was genau die Lernenden mit dem gelehrten Inhalt anfangen, entzieht sich weitgehend dem Einfluss der Lehrenden.

Lehrziele sind keine Lernziele. Auch wenn das in praktisch allen Lehrplänen so steht und es die klassische Schule der Lehrerinnen- und Lehrerbildung in Endlosschlaufen stipuliert: Die von der Institution, der Schule und der Lehrperson geplanten Ziele sind nicht Lernziele, sondern Lehrziele. Zu Lernzielen werden sie erst, wenn die Zielscheiben, pardon, die Lernenden das damit Bezeichnete auch tatsächlich lernen wollen, es zu ihrem eigenen Ziel machen.

Das Lehrmittel vermittelt nicht den Stoff, es bildet ihn lediglich ab, und zwar so dicht und komplex, dass die von Krapf kolportierte Behauptung in den mehr als zwanzig Jahren seit ihrer Publikation nichts von ihrer Relevanz verloren hat: «Bei der Einführung eines neuen Lehrmittels müsse man [die Lehrperson] mindestens einmal das ganze Buch mit einer Klasse durchgearbeitet haben, bevor man den Stoff genügend beherrsche. Durch das Lehren würde man schliesslich die nötige Sicherheit gewinnen.» Und er folgert: «In welch hoffnungsloser Lage sind die Schülerinnen und Schüler, die trotz der geringeren Vorbildung den Stoff schon im ersten Durchgang beherrschen sollten» (Krapf, 1995, S. 23).

•Der Grundlagen-zuerst-Irrtum dürfte darauf fussen, dass eine logische Figur mit einer lernpsychologischen Abfolge verwechselt wird. Sprachlogisch baut das Besondere auf dem Allgemeinen auf, Lernprozesse funktionieren gerade umgekehrt. Die Neugierde und der Wunsch, etwas zu können, zielen zuerst auf das Konkrete, die Anwendung, den Einzelfall, den Output, das Produkt. Das Interesse an Regeln, an Erklärungen ist nachgelagert; «Grundlagen sind Endpunkte des Lernens» (Kuster, 2011, S. 11), Fragen nach Zusammenhängen von Einzelphänomenen können erst gestellt werden, wenn die Phänomene bekannt sind. Wer mit den Grundlagen der Bewegungsabläufe beginnt, lernt niemals gehen. Oder näher beim schulischen Lernen: Grammatik büffeln ist kein besonders guter Einstieg in eine neu zu lernende Fremdsprache.

Lerngespenster und Schuldämonen

Lerngespenster wirken umso stärker, je mehr man an sie glaubt, und sie verlieren ihren Schrecken, wenn sie ans Licht gezerrt werden. Die bekannteren unter ihnen sind diese:

•Die fehlende Motivation kann sich in stummer Symbol- und Körpersprache äussern, aber auch lautstark artikuliert oder eskapistisch (Ablenkungshandlungen, innere Immigration). In der perfektioniertesten Form versteckt sie sich hinter einer Interesse simulierenden Attitüde: die Schülerin, die scheinbar an den Lippen der Lehrerin hängt, während im inneren Kino der Film über das letzte Wochenende abläuft.

•Die Null-Bock-Haltung ist die grössere Schwester der fehlenden Motivation. Sie präsentiert sich oft und gerne trotzig, verbunden mit einem mehr oder weniger ausgeprägten Imponiergehabe.

•Eine negative Klassendynamik mit latent lernfeindlicher Grundstimmung ist die gespenstische Zusammenrottung von fehlender Motivation und Null-Bock-Haltung. Sie entwickelt sich oft unbemerkt, schwillt an, bis sie bleiern durch den Raum schwebt und doch nirgends und bei niemandem eindeutig festgemacht werden kann.

•Die fehlende Leistungsbereitschaft und andere Mankozuschreibungen aus der gleichen Familie, beispielsweise «geringes Durchhaltevermögen», «mangelhafte Konzentrationsfähigkeit», geistern durch Lehrerzimmer und werden von Berufsbildnern, Branchenvertretern und Prüfungsexpertinnen beschworen. Sie müssen herhalten als vorschnelle und oft pauschalisierende Erklärungen für ganz unterschiedliche Phänomene wie persönliche Schwierigkeiten mit Lernenden, sinkende Erfolgsquoten oder einfach dafür, dass nichts mehr so ist wie früher.

Von einer anderen Art, aber nicht minder störend sind jene Schuldämonen, die sich das System und dessen Akteure selbst einbrocken. Auch dazu ein paar besonders hartnäckige Exemplare:

•Der Stoffdruck drückt in erster Linie die Lernenden, während er die Lehrenden dazu antreibt, zu viel Stoff in zu wenig Zeit durchzupeitschen, unbesehen davon, wie gut die Lernenden folgen können. Die Bosheit hinter dem Stoffdruck ist die, dass er sich unablässig daran zu laben scheint, den Lehrpersonen wie den Lernenden die Freude und Begeisterung auszutreiben.

•Der Lehrplanzwang tritt äusserst selbstbewusst auf, nimmt gerne die Gestalt einer unverrückbaren Realität an mit dem Effekt, dass dadurch sein dämonisches Wesen aus dem Blickfeld gerät. Dieses zeigt sich etwa dann, wenn ich mich genötigt fühle, Themen zu besprechen oder Fertigkeiten zu beüben, obwohl für mich oder die Klasse im gegebenen Zeitpunkt anderes bedeutsam wäre.

Arbeitsblätter können in ganz unterschiedlicher Gestalt ihre zersetzende Wirkung ausüben, als spröde Lückentexte im A4-Format, als verführerisch aufgemachte Lerndossiers oder als elektronische Dateien. Unheimlich daran ist, dass Arbeitsblätter und deren Surrogate eingesetzt werden, weil sie da sind, weil sie mit viel Mühe erstellt wurden und oft die Erkenntnis der Erstellerin oder des Erstellers in verdichteter Form enthalten. Darob geht vergessen, dass der Erkenntnisgewinn das Resultat des Herstellungsprozesses ist – die Lernenden aber diesen Weg nicht abschreiten können, wenn sie Textlücken füllen, Zuordnungen machen und dergleichen mehr.

Frontalunterricht wird so oft verteufelt, dass er zum Buhmann in der Familie der didaktischen Formen geworden und doch gleichzeitig sehr prominenter Dauergast in fast allen Schulstuben ist. Weshalb peinigt er als Negativstereotyp so viele Lehrpersonen, wenn sie gewahr werden, welchen Anteil er an ihrer Lehrtätigkeit einnimmt? Besonders stark trifft es Lehrpersonen, die von der Lernwirksamkeit eigenaktiver Stoffaneignung überzeugt sind.

•Die Normalverteilung oder auch Gauss’sche Kurve ist die fieseste Figur unter den Noten- und Bewertungsdämonen. Dem schemenhaften Glockenbild folgend, verteilen Lehrpersonen nach einer Klassenarbeit die Noten der einzelnen Schüler aufgrund dieser imaginären Kurve. Individualleistungen werden nicht mehr in Bezug auf die Zielerfüllung, sondern in Relation zur Klasse beziffert. Das beruht auf einem fatalen Irrtum. Die Normalverteilung bildet lediglich die statistische Leistungsverteilung einer grossen Population ab, und nur in ganz seltenen Zufallskonstellationen entspricht sie auch dem Leistungsmuster einer Schulklasse.

Wie immer bei Metaphern gilt es, sich von ein paar Unstimmigkeiten ab- und den Kernaussagen zuzuwenden: Gespenster und Dämonen sind ungemütlich, gelegentlich boshaft, manchmal auch unheimlich, solange man an sie glaubt. Sie werden schnell entzaubert, wenn sie auf Rationalität und Überzeugung stossen, hier auf die pädagogische Überzeugung, dass sich unsere Lernenden grundsätzlich weiterentwickeln wollen, dass sie mit Ressourcen ausgestattet sind, deren Potenzial es zu nutzen gilt für gelingendes Lernen. Eine zentrale pädagogische Aufgabe besteht darin, stereotype Attribuierungsreflexe zu durchbrechen, und dabei hilft, um die Gespenster-Metapher ein letztes Mal zu bemühen, die Gewissheit, dass Lerngespenster keine realen Lernhemmer sind, sondern nur allzu oft bequeme Vorwände, um eigenes Handeln nicht überdenken zu müssen.

Normierungsfalle

Das Problem von Normierungen, ganz egal, auf welchem Gebiet, ist in aller Regel nicht die Norm, sondern die Normabweichung. Wie aufgezeigt, liegen der Diagnostikfalle und der Stützkursfalle festgestellte Normabweichungen zugrunde. Eine Fundgrube für normative Vorstellungen, was Lernende benötigen, um zu reüssieren, sind Lehrpläne mit ihren verbindlichen Setzungen. Solche findet man in Form von Lernzielen, Handlungskompetenzen, Pflichtprodukten, Begriffen usw., und als verbindliche Vorgaben sind sie auch bewertungsrelevant. Beispiele gewünscht? In aktuell gültigen Schullehrplänen für den allgemeinbildenden Unterricht an Berufsfachschulen stehen solche Lernziele: «den eigenen Lerntyp beschreiben», «Mindmap anwenden», «die gesellschaftliche Stellung der Berufslehre und der Berufslernenden im geschichtlichen Zusammenhang erklären». Mit Verlaub, man kann eine Matura und ein Universitätsstudium abschliessen, ohne die geringste Ahnung von seinem Lerntyp zu haben und ohne je eine Mindmap gezeichnet zu haben. Das drittgenannte Lernziel scheint mehr ein professioneller Standard für Lehrpersonen zu sein als ein notwendiges Basiswissen, das Lernende im ersten Lehrjahr einer dreijährigen Ausbildung im Rahmen von acht Lektionen erwerben sollten. Auch die als verbindlich erklärten Begriffe wie «Oligopole», «Dubliner Abkommen», «drei Pfeiler der EU» oder «Zersetzer» (unter dem Aspekt Ökosysteme) in einem Lehrplan für dreijährige Berufslernende wirken schon ziemlich bizarr.

Die eigentliche Perfidie der Normierungsfalle sind unausgesprochene Normen in Form von Erwartungen, von Durchschnittswerten oder «Normalverhalten», die zum Massstab genommen werden, mit dem man Menschen vermisst, die weder von der Existenz dieses Massstabs, geschweige denn von dessen Skalierung Kenntnis haben. Solche Normvorstellungen geistern dann in einzelnen Köpfen herum, gelegentlich auch als kollektive Normen in Kollegien, und haben den Effekt, dass sie zu impliziten Kriterien für die Berechtigung an der Ausbildung gedeihen, so oder ähnlich aufgeschnappt: «Wer Niveau B2 nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GER) in Deutsch nicht erreicht, ist chancenlos bezüglich Abschlusserfolg», «Wer die sieben Bundesräte nicht kennt, gehört nicht an die Abschlussprüfung». Für solche Normvorgaben kann man gerne auch mal das eigene Denken durchforsten, wer wird ehrlicherweise nicht fündig? Man verstehe mich nicht falsch, Sprachkompetenz auf Niveau B2, staatskundliches Grundwissen und noch vieles mehr sind durchaus nützliche Dinge, aber sind es auch notwendige Bedingungen für den Ausbildungserfolg? Müssen alle da durch? Mit welchem Aufwand müssen Normabweicher ihren «Rückstand» verringern, und was verpassen sie in dieser Aufholzeit? Oder umgekehrt gefragt: Weshalb können schwere Legastheniker Unternehmen führen und Spitzenpolitik betreiben?

 

Konzepte gegen Lernhemmnisse

Wer schnödend in Kochtöpfen stochert, in denen überlieferte Gerichte zubereitet werden, sollte dafür einen Grund anführen können. Ich versuche mich zu erklären. Vorausschicken möchte ich, dass ich nicht alles, was in diesen Töpfen traditionellerweise gekocht wird, für ungeniessbar halte. Möglicherweise sind die Gerichte sogar für einen namhaften Teil der Speisenden bekömmlich oder doch zumindest ohne unerwünschte Nebenwirkung. Der Grund liegt im Fokus auf die sogenannt schwächeren Lernenden, deren «Lernschwächen» weder als Persönlichkeitsmerkmal noch als Folge eines bestimmten Sozialstatus zu werten sind, sondern primär darin liegen, dass für sie viele der bisher aus der Bildungsküche servierten Gerichte nicht zuträglich waren.

Pädagogische Lernförderung

Das Rezept, um Förderfallen zu umgehen, liegt in der förderpädagogischen Kernforderung: Ressourcen fördern statt Defizite bearbeiten. So verbreitet diese Forderung ist, so selten findet man eine konsequent umgesetzte Praxis in unseren Berufsfachschulen. In den Diagnose-Förder-Karussellen hat die Ressourcenförderung jedenfalls keinen Platz. Wohl gerade, weil sie so einleuchtend, so unbestritten und tausendfach wiederholt ist, verkommt die Proklamation vom Primat der Ressourcenförderung zur hohlen Phrase, dient oft nur noch als Köder in den Fallen der Früherfasser. Bekanntlich hat ein Köder keine Bedeutung mehr, sobald die Falle zugeschnappt ist. Nachdem die Diagnose gemacht ist, folgen dem Bekenntnis zur Ressourcenförderung in den meisten Fällen keine entsprechenden Taten. Nicht aus bösem Willen, sondern weil die bereitgestellten Verfahren und Instrumente in aller Regel als Reparaturset für die Mängelbehebung konzipiert sind: Man kennt den Mangel, hat Angebote in Form von Förderkursen zu dessen Behebung und schliesst kurz, dass jeder und jede am Ende eines standardisierten Förderkurses sein oder ihr individuelles Defizit behoben habe. Solche impliziten, einzig auf der Defiziterfassung abgestützten Lernprognosen haben ein paar zentrale Wirkungszusammenhänge ausser Acht gelassen: Die Diagnosen müssten nicht nur sehr sorgfältig konstruiert und adressatengerecht dosiert eingesetzt werden, sie sollten auch eingebettet sein in ein System, das individuelle Lernbedürfnisse erhebt, individuelle Lernwege zulässt und sich an Sinn- und Zielfragen der Lernenden ausrichtet. Andernfalls sind unerwünschte Nebenwirkungen bis hin zur Wirkungslosigkeit zu erwarten.

Führen wir uns Typ D vor Augen, bei dem schon x-fach das Ungenügen aufgedeckt wurde, der Glaube an Selbstwirksamkeit und Lernerfolg aufs Kleinstmass geschrumpft ist. Es bieten sich grundsätzlich zwei Ansatzpunkte an. Wenig erfolgversprechend sind die Konfrontation mit dem eigenen Ungenügen und der anschliessende Wink mit einem passenden Förderangebot, unbesehen, ob dieser Wink als Lockruf oder als Ultimatum daherkommt. Der bessere Ansatzpunkt heisst: Ressourcen fördern statt Defizite bearbeiten. Typ D benötigt Erfolgserlebnisse, Erfahrungen von erlebter Selbstwirksamkeit und Gehör für seine Lern- und Entwicklungsbedürfnisse. Dabei ist kaum zu erwarten, dass solche Bedürfnisse den Lernenden des Typs D auf die Stirn geschrieben oder ausformuliert abrufbar seien, es braucht eine gemeinsame Suche, manchmal auch Geduld und Zeit, bis sie stimmig vorliegen. Ein personalisierter Lern- oder Entwicklungsplan, ausschliesslich für D gültig und von D vollumfänglich verstanden und akzeptiert, ist die Grundlage für kleine Schritte auf dem eigenen Lernweg, auf dem jedes erreichte Etappenziel ein Erfolgserlebnis ist.

Wenn das simple Rezept heisst: Ressourcen fördern statt Defizite bearbeiten, dann sind die Ingredienzien dazu: ein positiver Erhebungskontext, individuelle Stärken, persönliche Ressourcen, personalisierte und einvernehmliche Förderplanung.

Positiver Erhebungskontext: Ressourcen und Lücken erfasst man sinnvollerweise in einem positiv besetzten Kontext. Anstelle von Erhebungsinstrumenten, die fast zwangsläufig mit Testgeruch und der Gefahr des Scheiterns behaftet sind, bieten sich pädagogische Beobachtungen im Rahmen von «lustvollen» (man verzeihe die Übertreibung) Lernprozessen an. Für eine «Lernstanderhebung Deutsch» eignet sich zum Beispiel ein Text am ersten Schultag, in dem die Lernenden ihre Erwartungen und Interessen formulieren, die mündliche oder schriftliche Auswertung eines Interviews mit der betrieblichen Berufsbildnerin oder zu Papier gebrachte Zukunftsvisionen.

Individuelle Erfolgsfaktoren sichtbar machen: Von persönlichen Erfolgen ausgehen ist ein probater Weg, um individuelle Stärken zu erkennen. Zum Beispiel die Suche nach dem Wie, dem Wann und dem Warum im Anschluss an Fragen der folgenden Art: Wo habe ich mich durchgesetzt? Weshalb habe ich die Lehrstelle bekommen? Woran erinnere ich mich gerne aus der Schulzeit (oder aus anderen Lebenskontexten)? Daraus liesse sich dann ein Stärkeprofil zeichnen, ein Ressourcenfundament, das im weiteren Schulverlauf immer mal wieder konsultiert werden kann.

Persönliche Ressourcen anzapfen: Was nützen Stärken, wenn sie brachliegen, wozu Ressourcen kennen, wenn sie hintanstehen müssen? Für die Förderplanung sollte man postulieren: An der Bearbeitung eines jeden «defizitären» Förderelements sollten mindestens zwei individuelle Stärken mitbeteiligt sein. Wie soll man sich das vorstellen? Eine Schülerin mit Mühe bei mathematischen Proportionen, die gerne nach eigenen Rezepten kocht und beschlagen im Internet navigiert, könnte beispielsweise Rezepte im Internet suchen, diese auf die Menge für ihre siebenköpfige Familie umrechnen und in einem persönlichen Kochbuch editieren.

Personalisierte[2] Lernplanung: Der Förderbedarf wird in aller Regel in Form individuell erhobener Defizitprofile erfasst (im Beispiel von soeben: Probleme bei Proportionen). Auch vermeintlich gleiche oder ähnliche Defizitprofile haben in ihren Ursachen und Implikationen sehr unterschiedliche Grundmuster. Folgerichtig muss auch die Förderplanung eine personalisierte sein, abgestützt auf die Erhebungsbefunde und die Implikationen. Darüber hinaus, weil Lernen nicht gegen den Willen der lernenden Subjekte erfolgen kann, sollte die Förderplanung eine einvernehmliche sein. Etwa die Gestaltung eines Kochbuches, um das mathematische Problem mit den Proportionen zu bearbeiten.

Einvernehmliche Förderplanung: Ausgangspunkt einer pädagogischen Lernförderung ist eine personalisierte, einvernehmliche Lernvereinbarung. Einvernehmlich heisst mehr als mit der Unterschrift des Lernenden versehen, es setzt voraus, dass die Zielsetzung genuin die der Lernenden ist und die Teilschritte auf das Ziel hin verstanden sind, und zwar inhaltlich und quantitativ. Der Dialog, der einer solchen Vereinbarung zugrunde liegt, muss neben der Einvernehmlichkeit auch sicherstellen, dass die Ressourcen (Interessen, Stärken, Vorlieben) gebührend zum Zuge kommen, will heissen, beansprucht werden. Für diesen Dialog muss man ausreichend Zeit einräumen, sich mit eigenen Lösungsvorschlägen zurückhalten und unbedingt darauf achten, dass die Grundregeln für das Erstellen von personalisierten Lern- und Entwicklungsplänen eingehalten werden: