Nachhaltig gibt's nicht!

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Die Wirtschaft und die Nachhaltigkeit

Auch wenn ich nicht mehr wirklich weiß, warum, begann ich 2007 nach Abschluss meiner Kochausbildung – damals war ich zwanzig – Recht und Wirtschaft zu studieren. Als Prämisse der Betriebswirtschaftslehre galt und gilt: Wie kann man möglichst viel Geld verdienen und Gewinne maximieren? Wie kann die Wirtschaft immer weiterwachsen? Hier fragte sich scheinbar niemand, ob Kaffee fair gehandelt wurde oder Milchkühe glücklich waren. In dieser Zeit gab es medial und im Internet die ersten größeren Berichte über die katastrophalen Sweatshops in Asien, wo tausende Menschen für Hungerlöhne ausgebeutet werden, um unsere Technik und Kleider anzufertigen. Es gab Bilder von verendeten Elefanten, die für das Elfenbein ihrer Stoßzähne von Wilderern getötet wurden. Ausgehungerte und todkranke Kinder in Afrika. Tierarten, die vom Aussterben bedroht waren. Urwälder, die für Sojaplantagen niedergebrannt wurden. Doch davon war in den Vorlesungen nichts zu hören. Warum fand all das keinen Platz in einem Studium, dessen Absolvent*innen die wirtschaftlichen Prozesse der Zukunft gestalten werden? Wie sollte es möglich sein, – die so unbestreitbar nötige – Rücksicht auf die Umwelt zu nehmen, wenn sie nicht mal thematisiert wird? Mit jeder Vorlesung wurde mir mehr und mehr bewusst, warum es unglückliche Kühe und unfairen Kaffee gab. Zugleich war ich im Hörsaal umgeben von Menschen, die sich diese Fragen nicht stellten und die daran auch nichts ändern würden. Prozessoptimierung, Kostenminimierung und Effizienzsteigerung waren alles, was zählte. Die Umwelt hatte offensichtlich keinen Platz in der Wirtschaft. Das hat mich zutiefst bedrückt. Unterdessen wurde meine bis dahin noch kurze Liste an Verhaltensweisen, die nötig schienen, um der Umwelt nicht zu schaden, mit jedem Bericht von Tag zu Tag länger und unübersichtlicher. Ich erkannte, dass vor allem durch die Entwicklung der Wirtschaft und unseres Wohlstands überall auf dieser Welt Menschen, Umwelt und Tiere leiden mussten, und ich wusste nicht, was ich dagegen tun konnte. Das große Finale meiner damaligen Enttäuschung erlebte ich an jenem Tag, als ich den richtigen Raum für die Einführung in meinen rechtlichen Schwerpunkt suchte. Vorbei an riesigen überfüllten Hörsälen, in denen Studierende für Steuer- und Wirtschaftsrecht sogar schon am Boden sitzen mussten, fand ich endlich im letzten Eck den kleinen Raum für Umweltrecht. Bei freier Platzwahl mit nur zwei Kolleginnen begrüßte uns der Professor mit den Worten: „Wenn ihr irgendwann in eurem Leben ein Haus und zwei Autos haben wollt, dann sitzt ihr jetzt im falschen Zimmer.

Aus dem System aussteigen

Ich fühlte mich traurig und machtlos. In so einer Welt wollte ich nicht leben. Zu diesem System wollte ich nicht gehören. Also entschied ich mich dazu: Ich steige aus! Zwei Wochen nach Abschluss meines Studiums bezog ich mein neues Zuhause in einem autark lebenden Dorf im Süden von Portugal. Es war ein alter ausrangierter Zirkuswagen, der nur mit einem Bett, einem Schrank, einem Tisch und einem Stuhl ausgestattet war. Als ich die Tür öffnete, kreuchte und fleuchte jegliches Getier in die Ritzen und Ecken des Wagens. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und hielt mir vor Augen, dass ich dieses einfache Leben tatsächlich wollte und dies nur ein verhältnismäßig kleiner Preis dafür war. Auf 34 Hektar Wald und Wiese lebte ich zusammen mit zwanzig Gleichgesinnten völlig autark ohne Strom und ohne fließendes Wasser inmitten der Natur. Wir arbeiteten täglich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang an der Permakultur, den Wassergräben und den ökologischen Toilettenanlagen. Den Großteil unserer Zeit verbrachten wir damit, unsere eigene Ernährung zu gewährleisten. Was als Kind bei meiner Großmutter noch viel Spaß gemacht hatte, entpuppte sich dort als enorme Herausforderung. Noch nie in meinem Leben hatte ich körperlich so hart arbeiten müssen und schon nach drei Tagen machte ich mir beim Schlafengehen keine Gedanken mehr über das vielbeinige Getier in meinem Zirkuswagen, weil ich hundemüde und erschöpft sofort einschlief. Alles um mich herum war im Einklang mit der Natur, so fiel es mir leicht, der Umwelt nicht zu schaden. Alles schien perfekt in meiner kleinen Welt.

Doch bloß, weil ich mich hier im Süden Portugals versteckte, würden sich die Probleme da draußen in der weiten Welt nicht lösen. Ungeachtet der Versuche einiger weniger Engagierter, mit dem bestehenden System zu brechen, wird der Urwald weiterhin gerodet, werden Kinder ausgebeutet und Elefanten getötet. Die Wirtschaft und der Konsum werden auch ohne mich wachsen, koste es, was es wolle. Es dauerte nur wenige Wochen, bis ich spürte, dieser Mikrokosmos wird mir auf Dauer nicht reichen. Ich muss außerdem eingestehen, dass mir mein gewohnter Wohlstand und Lebensstandard fehlten. Damit meine ich nicht nur einfache Dinge wie Elektrizität und fließendes warmes Wasser zum Duschen, sondern auch den Luxus, mir an manchen Abenden mein Essen nicht mühsam am Feld verdienen zu müssen, sondern mir einfach faul eine Pizza auf die Couch liefern lassen zu können. Da wusste ich: Nur aus dem System auszusteigen war nicht die richtige Lösung für mich. Nach sechs Wochen verließ ich das Dorf wieder.


Zurück in der „echten“ Welt, wollte ich mich jedoch nicht damit abfinden, dass mein Bedürfnis nach Wohlstand und der Schutz der Umwelt nicht vereinbar sein sollten. Es muss doch möglich sein, einen angenehmen Lebensstandard zu haben, ohne dafür die Umwelt, Menschen und Tiere ausbeuten zu müssen. Ich wollte mich angesichts meiner immer länger werdenden Listen der Erfordernisse eines umweltfreundlichen Lebens nicht mehr machtlos fühlen. Um zu lernen, wie ich die Umwelt trotz Konsum schützen kann, begann ich im Jahr 2010 Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur in Wien zu studieren. Ich wollte lernen, Umweltschutz und Konsum in Einklang zu bringen, und mehr zu gesundem Wachstum erfahren. Nach dem Wirtschaftsstudium war es eine Wohltat für mich, von so vielen Idealist*innen umgeben zu sein, die alle die Welt ein kleines Stück besser machen wollten. Etwa zu dieser Zeit lernte ich auch endlich den Begriff und das Konzept von Nachhaltigkeit wirklich kennen.

WAS BEDEUTET EIGENTLICH NACHHALTIGKEIT?

„Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die den Bedürfnissen heutiger Generationen Rechnung trägt, ohne die Möglichkeiten zukünftiger Generationen zu gefährden, ihren eigenen Bedürfnissen nachzukommen.“ – UN World Commission on Environment and Development 1983

Diese Definition aus dem Bericht Our Common Future der Brundtland-Kommission ist im wissenschaftlichen Kontext die wohl anerkannteste. Was dieser abstrakte Satz genau bedeutet, bleibt leider – wie es in Zusammenhang mit dem Konzept der Nachhaltigkeit so häufig der Fall ist – offen für weitreichende Interpretationen. Den größten Aha-Effekt verschaffte mir das „Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit“. Dieses Modell beruht auf der Annahme, dass nachhaltige Entwicklung nur möglich ist, wenn ökologische, soziale und wirtschaftliche Ziele gleichzeitig und gleichberechtigt umgesetzt werden. Was heißt das genau? Alle Akteur*innen – sprich


Menschen, Unternehmen oder Staaten – müssen alle drei Bereiche bei jeder Handlung als gleichwertig ansehen, da sie nur miteinander langfristig und damit nachhaltig funktionieren können. Kommt eine der Säulen zu kurz, entsteht langfristig ein Ungleichgewicht.

Die ökologische Säule umfasst die wohl bekanntesten Aspekte der Nachhaltigkeit: Schutz der Umwelt, Schonung natürlicher und begrenzter Ressourcen, Förderung von Biodiversität und Wasserqualität und die Reduktion von CO2-Emissionen. Kurzum: Der Umwelt soll kein irreparabler Schaden zugefügt werden und es sollen nicht mehr Ressourcen entnommen werden, als die Erde nachproduzieren kann. Ein gutes Beispiel hierfür ist die biologische Milch, die ich schon als Kind auf meiner Liste hatte. Bei der ökologischen Landwirtschaft geht es nicht nur darum, die Natur mit so wenig Pestiziden wie möglich zu belasten, sondern auch die Boden- und Wasserqualität zu sichern und zu verbessern, alte Rassen und Sorten von Obst und Gemüse zu fördern, Tiere artgerecht zu halten oder durch Blühstreifen einen Lebensraum für Insekten zu schaffen.

Bei der sozialen Säule steht der Mensch mit seinen Grundbedürfnissen im Mittelpunkt. Hier geht es zuallererst um Grundlegendes wie den Erhalt von Frieden, das Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit, Gleichberechtigung und Antidiskriminierung. Arbeitsplätze sollen gesund und sicher sein. Löhne müssen fair sein. Es geht aber auch um regionale Entwicklung und Wertschöpfung, wie man beispielsweise das Leben am Land lebenswert halten kann. Ein gutes Beispiel hierfür ist fair gehandelter Kaffee. Produkte, die beispielsweise mit dem Fairtrade-Siegel ausgezeichnet sind, kommen aus dem Globalen Süden. Das Siegel dient Konsument*innen als Versprechen, dass bei der Erzeugung keine Kinder- oder Zwangsarbeit erlaubt ist und die Gesundheit der am Anbau Beteiligten geschützt wird. Produzent*innen erhalten für ihre Ware einen fairen und stabilen Preis, der ihre Existenz absichert.

Selten hört man im öffentlichen Diskurs zum Thema Nachhaltigkeit von der ökonomischen Säule – der dritten und ebenso wichtigen in diesem Modell. Das ist umso bemerkenswerter, als gerade die Wirtschaft und der Konsum meist als der Ursprung allen Übels angesehen werden. Eine Wirtschaftsweise ist aber nur dann nachhaltig, wenn sie dauerhaft betrieben werden kann. Wenn die Produktion von sozial gerechten oder biologischen Waren nicht auf einem funktionierendem Geschäftsmodell basiert und Umsatz generieren kann, ist sie langfristig wirtschaftlich nicht überlebensfähig und damit auch nicht nachhaltig.

 

Viele Menschen denken bei dem Wort Nachhaltigkeit nur an die ökologische Säule. Das greift jedoch zu kurz, wenn man Nachhaltigkeit – im Sinne des Drei-Säulen-Konzeptes – als Zielsetzung begreift, die langfristig stabile schädigungsfreie (Lebens-)Prozesse anstrebt. Um dieses Ziel zu erreichen, darf keiner der genannten Bereiche außer Acht gelassen werden. Überspitzt formuliert, rechtfertigen ökologische Ziele nicht die Ausbeutung von Menschen. Kinder- und Zwangsarbeit zum Schutz der Natur wären für uns undenkbar. Andersherum darf soziale Gerechtigkeit nicht dazu führen, die Natur auszubeuten. Hier geht es stark um den Diskurs, dass auch der Wohlstand von Menschen, die derzeit noch in Armut leben, verbessert werden muss. Allerdings leben wir jetzt schon längst über der Belastungsgrenze der Umwelt. Ökonomische Zielsetzungen standen und stehen bis heute oftmals im Zentrum unserer Gesellschaft. Wirtschaftliches Wachstum soll das Wohlbefinden der Menschen im eigenen Land erhalten und weiterhin fördern. Ich habe bereits in meinem Wirtschaftsstudium gelernt, dass dafür oftmals die Umwelt, Menschen und Tiere schonungslos ausgebeutet werden. Dank des Berichts Die Grenzen des Wachstums vom Club of Rome wissen wir aber schon heute, dass dies nur noch wenige Jahrzehnte möglich sein wird, bis unsere Ressourcen erschöpft sind. Ziel der Nachhaltigkeit ist es, dass der wirtschaftliche Wohlstand weiterhin gefördert werden kann, ohne dass die ökologischen oder sozialen Aspekte darunter leiden müssen, und auch zukünftige Generationen noch ausreichend Ressourcen zur Verfügung haben. Gemäß diesem Ansatz dürfen wir Geld, Wachstum und Konsum nicht einfach nur verteufeln, sondern müssen sie dringend in das Gesamtkonstrukt der Nachhaltigkeit integrieren.

Der Eisberg Nachhaltigkeit

Das „Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit“ hat mir gezeigt, dass es langfristig nicht sinnvoll ist, ökologische und soziale Maßnahmen nur durch Subventionen umzusetzen, die durch Steuern und Abgaben von zerstörerischem wirtschaftlichen Wachstum finanziert werden. Was es braucht, sind ökosoziale Produkte und Dienstleistungen, die sich langfristig auch wirtschaftlich selbst tragen können. Das Studium an der Universität für Bodenkultur hatte zum Ziel, ein gutes Verständnis für die komplexen Zusammenhänge und Wechselbeziehungen von Mensch, Umwelt und Technik zu etablieren – sowohl auf betrieblicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Es sollte einen Überblick geben über Disziplinen, die zur Entwicklung einer zukunftsfähigen, nachhaltigen Gesellschaft benötigt werden. So hatte ich Vorlesungen zu den verschiedensten umweltrelevanten Themengebieten wie Klima, Wasser, Abfall, Energie, regionale Entwicklung, Biodiversität, Landnutzung, Mobilität, Verkehr und Boden. Auch wenn ich durch das Studium einen guten Überblick dafür bekommen habe, was ich in meinem Bestreben alles bedenken musste, wurde jeder dieser Bereiche nur oberflächlich berührt. Jede einzelne sich damit beschäftigende Disziplin für sich ließ unendliche Tiefen erahnen. Unzählige Aspekte, über die ich mir bislang noch keine Sorgen gemacht hatte, weil ich nicht einmal wusste, dass sie überhaupt existieren. Dadurch hatte ich nach dem Studium immer noch das Gefühl, sicher zu wissen, dass ich nichts weiß.

Also weiter, dieses Mal nach England, um einmal mehr zu studieren. Immer noch hatte ich die Hoffnung, so endlich die Antworten auf all meine Fragen zu finden. Ich wollte zurück zu meinen Wurzeln und mich auf die Produktion von biologischen und fair gehandelten Lebensmitteln spezialisieren, die allen drei Säulen der Nachhaltigkeit gerecht werden.

Bei meinem Studium Design and Innovation for Sustainability, auf Deutsch nachhaltiges Produktdesign, ging es weniger darum, wie das Produkt aussieht, sondern vielmehr darum, wie ein Produkt nachhaltiger produziert werden kann. Das war einerseits die Überlegung, wie ich Produkte schonender und mit weniger Ressourcen produzieren kann, und andererseits, wie Produkte Menschen dabei unterstützen können, nachhaltiger zu leben. Ein Beispiel dafür ist eine smarte Heizung, die automatisch erkennt, wann jemand zu Hause ist, und dementsprechend selbstständig die Temperatur anpasst. Dadurch kann es nicht mehr passieren, dass man versehentlich den ganzen Tag oder vielleicht sogar den ganzen Urlaub hindurch mehr heizt, als tatsächlich notwendig ist. Durch Ansätze wie diesen wird ein nachhaltiger Energiekonsum automatisiert und intelligent in das eigene Leben integriert, ohne dass man sich ständig Gedanken darüber machen muss. Ich war begeistert von diesem Ansatz. Bewusstseinsbildung in der breiten Bevölkerung – beispielsweise zum energieeffizienten Heizen – ist zwar essenziell für die Nachhaltigkeit. Doch noch viel größer ist das Potenzial von intelligentem Produkt- und Dienstleistungsdesign, die Menschen dabei unterstützen, ein nachhaltigeres Leben zu führen, ohne dass sie sich täglich damit beschäftigen müssen.

Ich war fasziniert davon, wie praxisorientiert mein drittes Studium war. Abseits von bloßer Theorie, wie alles sein sollte, ging es hier nun um die Umsetzung in der Praxis. Ein wesentlicher Teil beschäftige sich mit dem Gedanken, dass man Produkte im Sinne der Nachhaltigkeit nicht an den aktuellen Vorstellungen von Konsument*innen vorbei designen kann. Das klingt vielleicht kryptisch, ist aber anhand von einem Beispiel leicht erklärt. Die Produktentwicklerin einer sehr bekannten Smoothie-Marke hat bei uns einen Vortrag gehalten und uns von ihren nachhaltigen Betriebsprozessen erzählt. Doch die Verpackung stellt bis heute eine ihrer größten Herausforderungen dar. Die Flasche des Smoothies wird aus 400 Prozent mal so viel Plastik hergestellt, als es für die Produktsicherheit und den Transport notwendig wäre. Wir Menschen sind aber darauf konditioniert, dass ein festeres Material auch eine höhere Wertigkeit und damit einhergehende Qualität bedeutet. So empfinden wir bis heute oftmals Produkte in Glas automatisch wesentlich wertiger als die in Plastik. Würden die Smoothies in Plastikflaschen abgefüllt, die nur die für die Produktsicherheit notwendige Menge an Plastik aufweisen, wäre die Flasche so weich wie beispielsweise eine günstige Sodaplastikflasche. Die Haptik dieses dünnen Materials würde bei Konsument*innen unterbewusst jedoch sofort die Wertigkeit des Inhalts mindern und der Verkauf als Premiumprodukt wäre unmöglich. Dies ist aber nur selten eine bewusste Entscheidung von Konsument*innen, sondern eine unterbewusste Konditionierung, die mir erst ab diesem Moment so richtig bewusst wurde. Produkte im Supermarktregal bekommen von uns nur einen Bruchteil einer Sekunde Aufmerksamkeit und unser Gehirn entscheidet anhand einer Vielzahl von Faktoren, wie wir ein bestimmtes Produkt wahrnehmen.

So spannend diese Einblicke in die menschliche Psyche und ihr Konsumverhalten für mich auch waren, umso herausfordernder schien es mir, ein klares und strukturiertes Bild von einem nachhaltigen Leben zu entwickeln. Denn die Festigkeit von Materialien und unsere Konditionierung im Zusammenhang mit Wertigkeit war auch wieder nur einer von unzähligen Aspekten, die man bedenken musste, und so stieg die Komplexität weiter ins Unermessliche. Meine Hoffnung, dass ein weiteres noch tiefgreifenderes Studium im Bereich Nachhaltigkeit mir dabei helfen würde, endlich zu verstehen, was es bedeutet, ein wirklich nachhaltiges Leben zu führen, schwand von Tag zu Tag mehr. Jede Vorlesung brachte mehr Faktoren, Wissen, Konsequenzen, Blickwinkel, Aspekte und Disziplinen mit sich, die ich bedenken müsste. Ich verlor den Überblick. Nachhaltigkeit wurde zu einem enormen Konstrukt, ich wusste nicht mehr, wo beginnt es und wo endet es. Es war mittlerweile unmöglich geworden, alles an nachhaltigen Verhaltensweisen in einer übersichtlichen und überschaubaren Liste anzuführen.

Zusätzlich habe ich neben meinen Studien auch für Umweltschutzvereinigungen gearbeitet, einschlägige Medien verfolgt und unzählige wissenschaftliche Artikel rund um das Thema Nachhaltigkeit gelesen. Täglich kam Neues hinzu, worüber ich mir Sorgen machen musste. Mir wurde bewusst, dass ich als Kind nur die Spitze des Eisbergs gesehen hatte: die biologische Milch von glücklichen Kühen und den fairen Kaffee. Heute wage ich nicht einmal mehr zu behaupten, dass ich weiß, was ich alles noch nicht weiß. Welche unüberschaubare Größe dieser Berg tatsächlich hat. Wie tief er ist. Wie allumfassend. Je mehr ich mich mit Nachhaltigkeit beschäftigte, desto bewusster wurde mir, dass es nicht einige wenige Verhaltensweisen sind, auf die ich achten musste, sondern dass vielmehr jede einzelne Handlung, die ich treffe, eine Auswirkung darauf hat, wie nachhaltig ich tatsächlich lebe.

Jetzt übertreibst du aber!

Wie sehr sehne ich mich manchmal zurück nach der überschaubaren kurzen Liste der kleinen Cornelia, denn meine aktuelle Liste würde hier nun definitiv den Rahmen sprengen. Klingt übertrieben? Um es deutlicher zu machen, bis in wie viele unzählige Details unseres Alltags die Anforderungen an nachhaltiges Leben reichen, möchte ich hier nur einige wenige Fragen formulieren, die ich mir allein an einem einzigen Morgen – vom Aufstehen bis zu dem Moment, in dem ich das Haus verlasse – stellen müsste:

1. Welches Gerät weckt mich auf und wer hat es wo unter welchen Umständen aus welchen Ressourcen hergestellt?


2. Aus welchem Material ist mein Bett? Meine Matratze?


3. Womit sind meine Decke und mein Kissen gefüllt?


4. Womit wasche ich meine Bettwäsche?

5. Mit wie viel Grad wasche ich meine Bettwäsche?

6. Sind Weichmacher in meinem Waschmittel?

7. Ist meine Bettwäsche luftgetrocknet oder verwende ich den Wäschetrockner?


8. Auf wie viel Grad heize ich in meinem Schlafzimmer?


9. Welche Bohnen verwende ich für meinen


10. Kaffee? Nehme ich dazu regionalen Biozucker oder lieber fair gehandelten Zucker aus dem Globalen Süden?

11. Verwende ich Kuhmilch für meinen Kaffee oder eine pflanzliche Alternative?

12. Wenn ich Kuhmilch verwende, kaufe ich biologische?

 

13. Kaufe ich Kuhmilch im Tetra Pak oder in der Ein- oder Mehrweg-Glasflasche?

14. Wenn ich eine pflanzliche Alternative verwende, nehme ich Sojamilch aus Brasilien, Mandelmilch aus Kalifornien oder doch lieber Dinkelmilch aus Österreich?


15. Werfe ich die Milchverpackung in den Restmüll, oder recycle ich?

16. Kaufe ich sie bei einem großen Konzern oder bei meinem Greißler ums Eck?


17. Lese ich die Zeitung in Papier oder am Tablet / Handy?


18. Wer bringt mir unter welchen Bedingungen meine Zeitung?

19. Was frühstücke ich?

20. Woher kommt die Marillenmarmelade auf meinem Brot?

21. Was mache ich mit hart gewordenem Brot?

22. Schmeiße ich die gerade erst abgelaufene Butter weg?

23. Ist das Obst in meinem Smoothie regional, saisonal und biologisch?

24. Wie und wo entsorge ich meinen Kaffeesatz und Biomüll?


25. Welches Geschirrspülmittel verwende ich?


26. Wasche ich mit der Hand ab oder verwende ich einen Geschirrspüler?

27. Schalte ich den Geschirrspüler erst ein, wenn er ganz voll ist?

28. Verfügt mein Geschirrspüler über einen Eco-Modus und verwende ich ihn auch?

29. Sind mein Geschirrspüler, Herd und Kühlschrank energieeffizient oder schon uralt?


30. Tausche ich alte elektronische Geräte auf energieeffiziente Modelle um, obwohl sie noch einwandfrei funktionieren?

31. Wie entsorge ich alte


32. Elektrogeräte? Welche Art von Stromerzeugung verwende ich?

33. Wie heize ich meinen Wohnbereich?

34. Wie erzeuge ich heißes Wasser?

35. Wie lange dusche ich?

36. Lasse ich das Wasser laufen, während ich mich shampooniere?

37. Welches Duschgel und Shampoo verwende ich?


38. Enthalten meine Hygieneprodukte Parabene oder Mineralöl?


39. Hat meine Hautpflege hormonell aktive Inhaltsstoffe?

40. Ist sie vegan?

41. Wurde mein Make-up an Tieren getestet?

42. Verwende ich zertifizierte Naturkosmetik?

43. Verwende ich ein unverpackte gekaufte Handseife oder doch lieber eine Flüssigseife aus dem Plastikbeutel?


44. Aus welchem Material ist meine Zahnbürste?

45. Wo wurde sie produziert?

46. Lasse ich während des Zähneputzens das Wasser laufen?


47. Laufen meine Elektrogeräte wie Radio, Fernseher und Co immer auf Stand-by?


48. Wer hat wo meine Kleidung unter welchen Bedingungen aus welchen Materialien genäht?


49. Ist meine Unterwäsche aus Bio-Fairtrade- Baumwolle?


50. Trage ich Leder, Pelz, Daunen oder Wolle?

51. Wer hat meinen Rucksack aus welchen Materialien gemacht?

52. Wer hat wo meinen Laptop und mein Handy aus welchen Materialien unter welchen Umständen gebaut?


53. Kann man meine Elektrogeräte reparieren oder müssen sie immer gesamt ausgetauscht werden?

54. Wie oft kaufe ich mir ein neues Handy?

55. Wer hat meinen Modeschmuck oder meine Armbanduhr gebastelt?

56. Wer hat wo das Gold und/oder Silber meines Schmucks unter welchen Umständen wo abgebaut?

57. Drehe ich vor dem Verlassen der Wohnung die Heizung zurück?


58. Nehme ich mir Kaffee in einem Thermobecher von zu Hause mit oder kaufe ich mir unterwegs einen To-go-Kaffee im Einwegplastikbecher?


59. Wie komme ich zur Arbeit?


Eine kleine Momentaufnahme von unzähligen Konsequenzen. Man möchte meinen, dass ich aufgrund meiner jahrelangen Bemühungen bereits auf jede dieser Fragen die nachhaltige Antwort in meinem Leben umgesetzt habe. Weit gefehlt. Ich treffe noch immer unzählige falsche Entscheidungen. Gar nicht daran zu denken, was es in Anbetracht meines Lebens alles zu tun gäbe. Wie oft ich trotz meines Wissens mit meinen Entscheidungen der Umwelt, Menschen und Tieren großes Leid zugefügt habe. Manchmal bin ich an der mangelnden Verfügbarkeit nachhaltiger Alternativen gescheitert. Verzicht wäre meine einzige Alternative gewesen. In diesen Fällen bin ich schließlich meist an meiner Selbstdisziplin gescheitert. Die Vielzahl an guten Vorsätzen hätte mich in ein Leben voll Verzicht gedrängt. Verzicht, der nicht einmal in einem autarken Dorf in Portugal leichtfällt und schon gar nicht in einer Welt voller Konsumversuchungen. Leider verhielt es sich mit der Nachhaltigkeit bei mir nicht wie mit dem Vegetarismus, dass irgendwann einfach der Schalter fliegt und sich nichts mehr wie Verzicht anfühlt. Auch ich wurde immer wieder schwach und wollte einen gewissen Wohlstand. Ich habe mir schöne Kleidungsstücke gekauft, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem Sweatshop hergestellt wurden. Ich hatte Handys und Laptops. Ging in Restaurants essen, wo ich keine Ahnung hatte, wo und wie die Lebensmittel erzeugt wurden. Habe mir im Urlaub Kaffee von Konzernen gegönnt, von denen ich weiß, dass sie Menschen ausbeuten. Und mit jeder dieser Handlungen wurde mein schlechtes Gewissen ein kleines Stück größer. Immer wieder war ich von mir selbst zutiefst enttäuscht. Ich sollte es doch (nach drei Studien und einer Berufsausbildung) eigentlich besser wissen! Oder?

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