Deutschland oder Jerusalem

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REISEN

Reisen, in der Welt herumkommen war uns beiden essentiell und existentiell. Immer wenn ich Francesca fragte, was wir machen sollten, wenn wir zuviel Geld hätten (sie war an Luxus à la Autos, Kleidung, Schmuck und dergleichen völlig desinteressiert), sagte sie »reisen«. Sie wollte die ganze Welt sehen. Nicht nur, um die diversen Naturformationen und die großen Orte der Kulturen, sondern auch die verschiedenen Völker kennenzulernen. Das war schon als Teenager der Fall und wurde nach unserer Hochzeit systematisch ausgeweitet. Ihre, unsere Reisen waren ein integraler Teil unseres Politikverständnisses. Gerade hier, beim Reisen, zeigte sich unsere Syntonie. Wie oft sind Urlaube oder Besichtigungen belastet, weil die Partner, was Geschwindigkeit und Interessenlage betrifft, divergieren. Nicht so bei uns. Wir waren intensiv, gründlich, gut vorbereitet und absolvierten unser Programm zügig.

Unsere Reisen waren generell eher kurz, eine Woche oder zehn bis zwölf Tage, aber nicht länger. Nach acht Tagen meldete sich die Arbeit, wir mußten zurück an den Schreibtisch. Entsprechend waren unsere Reisen vollgepackt. In den zwölf Tagen China hatten wir immerhin vier Binnenflüge. Und auch Ägypten mit der Route Luxor, Assuan, Abu Simbel, Kairo mit einem Abstecher nach Sinai schafften wir in zehn Tagen, ohne daß wir das Gefühl hatten, etwas zu versäumen. Wir waren schnelle, schnell aufnehmende Menschen. Die Vorstellung, man hielte sich beispielsweise drei Wochen in einer Stadt auf, um deren Flair einzusaugen, war uns fremd. Auf Achse waren wir beide allein schon unseres Berufes wegen. Hinzu kamen das ständige Pendeln für die Lehrtätigkeit, die regelmäßigen Besuche bei der Familie in Rom sowie die längeren Studienaufenthalte.

Francesca kam viel herum, in der Schulzeit bereits nach Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Österreich, in unserer gemeinsamen Zeit Kalifornien, New York, Granada, Krakau/Auschwitz, St. Petersburg, Budapest, Ägypten, Israel, Jordanien, China und Burgund. Moskau, Hawaii, Oxford, Toronto mit den Niagarafällen und einige amerikanische Städte wie Las Vegas, Cincinnati und Princeton besuchte sie ohne mich. Wir hatten für die Zukunft viele große Reisen geplant: Mexiko, Tibet (das war einer ihrer sehnlichsten Wünsche), Marokko, Indien, Zentralasien, Syrien, Laos/Kambodscha, eine Safari durch die Tierwelt Afrikas und zahlreiche Städte wie Dublin, Prag oder Istanbul. Ihr Wunsch war es auch, in Hiroshima zu beten. Im Vordergrund standen Bildungsreisen, die wir selber zusammenstellten. Reisegruppen wollten wir uns niemals anschließen. Lieber buchten wir organisierte Touren mit einem persönlichen Reiseführer und einem Fahrer, der auf uns wartete, so daß wir uns nach Belieben einrichten konnten. Wir waren Individualisten.

Francesca bewegte sich ganz ungezwungen im Ausland. Sie beherrschte die Sprachen, hatte keine Angst, auf Menschen zuzugehen. Ja, sie war auf einem Tourismusgymnasium gewesen – ob das sie geprägt hatte? Jedenfalls spürte man, daß sie auf der ganzen Welt zu Hause sein konnte. Sie war eine Kosmopolitin, die Freude daran hatte, neue Völker und deren Gepflogenheiten kennenzulernen. Eine Konstante war das Kartenschreiben. Gleich, wo Francesca sich aufhielt, im Urlaub oder auf einem Kongreß, der erste Gang führte zu einem Ständer mit Ansichtskarten. Sie bedachte die Familie, die Freunde und Kollegen. Natur interessierte sie nur insofern, als sie keine körperliche Anstrengung bedeutete. Eine von Francescas Ideen war eine Schiffsreise zu den Pinguinen in der Antarktis. Sie hatte sich schon eine Route von der Südspitze Argentiniens aus überlegt. Auch Island wollte sie sehen, ohne dort groß herumwandern zu wollen. Für Inseln wie Madeira oder Hawaii wurden Leihwagen organisiert.

Die Konstante unserer Reisen war natürlich Italien. Ich kann nicht zählen, wie häufig wir dort waren, einzeln oder gemeinsam. Sie hatte dort beruflich zu tun und besuchte ihre Eltern vor allem zu jüdischen Festen, bei denen sie Heimweh, »nostalgia«, verspürte. In Rom bewegten wir uns wie zu Hause, Francesca sowieso, aber auch ich behandelte diese Stadt wie meine zweite. Wir trafen die Familie und Freunde und genossen die großen Ausstellungen, so zum Futurismus im Herbst 2001 oder »I tesori degli aztechi« im Frühjahr 2004. Nachdem wir von der Villa Massimo aus Venedig, Neapel und die Abruzzen besucht hatten, machten wir unsere Hochzeitsreise von Rom aus, wo im erweiterten Familienkreis gefeiert wurde, nach Florenz.

Allein, unser Herz schlug die ganze Zeit für Venedig. Die Serenissima war unser beider Traum, und das viel länger, als wir uns kannten. Man bedenke: Francesca, italienabstinent, wäre für Venedig – genauer: einen Lehrstuhl mit einem amerikanischen Gehalt nebst einem Palazzo – bereit gewesen, nach Italien zurückzukehren. Das will etwas heißen. Wir waren dreimal gemeinsam dort. An jenem Wochenende 1998, als Rot-Grün die Bundestagswahl gewann, 2005, als ich für zwei Monate Stipendiat am Centro Tedesco di Studi Veneziani war und Francesca mich besuchte, und 2010 im Frühsommer. Venedig war für uns der Inbegriff dessen, was Italien für die Menschheit bedeutet: Kunst, Größe, Eleganz, Kultur, Renaissance, Republik, aber auch die spezifische Morbidezza tat uns gut. Dann die Abwesenheit von Autos, das Wasser, das jüdische Ghetto. Venedig war für uns außergewöhnlich, und das heißt buchstäblich: wie nicht von dieser Welt. Eine Gegenwelt. Gewiß, die Touristen, die diese Stadt bevölkern, muß man ignorieren; wir als Italiener konnten dies auch. Wir kannten die Schlupflöcher.

Unsere erste ganz große Reise ging nach China – wohin sonst? Wenn wir schon so viel Geld ausgaben, dann für das Land, das uns naheliegend und zugleich fremd erschien. Im September 2000 war es so weit. Francesca plante: Beijing, Xi’an, Shanghai, Guilin, Hongkong. Wir landeten frühmorgens mit einem schrecklichen Jetlag in Peking bei bestem Sommerwetter. Endlich eine Weltreise, endlich das Land der Mitte, wir fühlten uns wie in Sektlaune. Wir liefen in die Stadt, zum in jeder Hinsicht geschichtsmächtigen Tian’anmen-Platz. Vor uns lag der Kaiserpalast, an dessen Eingang das überdimensionierte Mao-Bild thront. Wir waren angekommen. Die Pekingente verschmähten wir, nicht aber die wahrhaftig imposante Pekingoper. Für die Verbotene Stadt hatten wir genauso Zeit wie für den Sommerpalast, den Himmelstempel und die großen Parkanlagen. Wir wurden auch in Fabriken und zur traditionellen Medizin geschickt. Von Peking aus besuchten wir die Große Mauer, sicherlich so berühmt wie kaum etwas auf der Welt, aber die Faszination hielt sich überraschenderweise in Grenzen.

Natürlich ist China eine Diktatur, die mit drakonischen Strafen droht. Bezeichnenderweise haben wir auf der Straße davon kaum etwas mitbekommen, ganz im Gegensatz zu Ägypten, wo die Touristen andauernd Polizeikontrollen passieren mußten, zumindest im Hinterland. Ägypten erlebten wir als Polizeistaat, nicht China. (Was nicht heißt, daß dort heile Welt herrscht; unser studentischer Reiseführer in Shanghai versuchte uns auf plumpe Weise zu betrügen.) Uns überraschten das freudige, sonnige, sanguinische Naturell der meisten Chinesen auf der Straße, ihre kommunikative Art, ihr zwangloser Umgang untereinander, die Emanzipiertheit der Frauen, die Tai-Chi-Übungen und die Gesangsgruppen. Dieser Eindruck hielt sich in ganz Rot-China. Wir wurden auch regelmäßig angesprochen, sehr höflich, aber überhaupt nicht steif. Umgekehrt wurden wir als potentielle Käufer nicht andauernd angemacht. Nur einmal wollte ein »Künstler« uns unbedingt etwas verkaufen und wurde ausfällig, als wir ablehnten. Wir spürten etwas von einer vom Westen gänzlich verschiedenen Kultur, vom Fehlen des monotheistischen Gottes. Francesca sollte Jahre später den Buddhismus für sich entdecken. Wir dachten seither anders über die westliche Rationalität, die in Hegels System gipfelt.

Zu jener Zeit begann das chinesische Konsumzeitalter. Das bedeutete ein schroffes Nebeneinander von bitterer Armut sowie vorindustriellen Wohnverhältnissen und der schicksten Moderne (so der neue Flughafen in Hongkong oder der Jin Mao Tower in Shanghai, die neuen Shoppingmalls, die Bankenhochhäuser). Als wir von oben die wie Pilze aus dem Boden schießenden Wolkenkratzer von Shanghai sahen, meinte ich zu Francesca, man müsse hier Aktien kaufen. Die schiere Größe dieser Städte hatte für uns etwas Monströses, aber es stand uns nicht an, Wertungen vorzunehmen. Wir wurden stets ausgesprochen zuvorkommend behandelt und spürten, daß hier die kommende Supermacht erwacht.

Die Touristen erlebten wir von ihrer unangenehmen Seite. Im Restaurant an der Großen Mauer wurde eine größere ostdeutsche Reisegruppe verpflegt, welche die Unterscheidung zwischen »red wine« und »white wine« nicht verstand, so daß Francesca der armen chinesischen Bedienung beisprang und dolmetschte. Später traf sie auf der Toilette eine Frau, die sich beklagte, daß in China niemand deutsch spreche. Francesca stimmte dem ironisch zu, allerdings auf Italienisch. Im Frühstücksraum eines Hotels hörten wir eine ältere Französin in voller Lautstärke: »Die Chinesen haben überhaupt keine Kultur; die einzige Kultur, die sie haben, verdanken sie den Franzosen.« Das war heftig. Auf der Fahrt durch den für seine Karsthügel weltberühmten Lijiang-Fluß bei Guilin warfen Amerikaner spielenden Kindern im Wasser Eindollarscheine zu. Wir kamen auf unserer ersten Fernreise ins Nachdenken darüber, ob der Pessimismus von Schopenhauer nicht doch berechtigt ist.

Bei unserer Rückkehr erfuhren wir einen Kulturschock. Über die Vororte von Frankfurt fliegend, sahen wir, daß hierzulande jeder für sich ein Häuschen hat, undenkbar in China, dem Land der Wolkenkratzer; der Bahnbeamte am Servicepoint war so abweisend wie die Chinesen hilfsbereit, und im Zug wurden wir des Preises für die europäische Individuation inne: Die allermeisten schauten traurig drein, ihre je persönliche Leidensgeschichte hat die Gesichtszüge geprägt. Liegt es am Monotheismus? Wie auch immer, unsere erste ganz große Reise war ein Erfolg.

 

Die nächste größere Fahrt führte uns zu den Ursprüngen der abendländischen Kultur, nach Ägypten. Wieder hatte Francesca alles zusammengestellt: erst nach Luxor, von dort in den Süden, dann nach Kairo mit einem Abstecher auf die Sinaihalbinsel. In Luxor angekommen, gingen wir sofort in den Karnak-Tempel. Wir waren überwältigt von den Proportionen, die im Verhältnis zu den griechischen so viel größer dimensioniert sind, daß wir Menschen ganz klein und demütig werden. Francesca winkte mich zur Seite und fing plötzlich an, eine Wand zu dechiffrieren, so als ob sie eine Reiseleiterin sei, die sich hier auskennt. »Hast Du nicht gewußt, daß ich in Rom etwas Ägyptologie studiert habe?«, fragte sie. Nein, ich wußte das nicht. Am nächsten Tag ging es ins Tal der Könige mit den berühmten Todesgräbern, es war sehr aufregend, sie von innen zu sehen. Von Luxor fuhren wir hoch nach Dendara – genauso begeisternd wie der Karnaktempel, vielleicht sogar noch mehr.

Auf unserer Fahrt nach Assuan besichtigten wir den Tempel des Horus in Edfu, Kom Ombo, in Assuan das Sowjetisch-ägyptische Memorial mit dem Blick auf den Stausee und natürlich die Insel mit dem Philae-Tempel. Von dort ging es mit dem Flugzeug in den Süden, wo die Überlandstraßen für Touristen gesperrt sind. Die beiden Tempel von Abu Simbel gehören zum Eindrücklichsten, was wir je in unserem Leben sahen. Selbst die Pyramiden schienen Tags darauf harmlos dagegen. Erst mit Petra im März 2011 haben wir etwas Ebenbürtiges aus Menschenhand erlebt. Die drei Pyramiden von Gizeh erschienen beim ersten Anblick verhältnismäßig klein. Wir sind eben an hohe Gebäude gewöhnt. Je näher wir ihnen indessen kamen, desto bescheidener wurden wir. Sie sind in der Tat ein Wunder, bis heute. Wir durften in die Cheops-Pyramide eintreten und fühlten uns sehr geehrt. Der Besuch der Sphinx wurde überschattet von zwei Italienern, die, natürlich in ihrer Landessprache, fragten, ob denn der Besuch sich lohne, und dies ein paar hundert Meter von ihr entfernt. Francesca schämte sich maßlos. Wir bewegten uns in der Metropole Kairo ganz zwanglos, trafen einen guten Freund aus der römischen Zeit, der dort lebte. Von hier aus machten wir Ausflüge nach Saqqara, Memphis und zur al-Fayoum-Oase. Eingeplant war auch eine zweitägige Reise auf die Sinaihalbinsel, zum Katharinenkloster, mithin zu einem Bergmassiv, auf dem der Überlieferung nach Moses Gott traf. Das war für Francesca eine heilige Angelegenheit. Trotzdem haben wir diesen Berg nicht bestiegen; es wäre zu anstrengend gewesen. Francesca fand die Manuskripte im Kloster letztlich interessanter.

Unvergeßlich ist unsere Diskussion in der Cafeteria des Ägyptischen Museums, für das wir uns einen ganzen Tag Zeit nahmen. Anspielend auf die vieldiskutierte Kontroverse, ob der Westen nun eher von Jerusalem oder Athen, also den alttestamentarischen Geboten oder der griechischen Metaphysik geprägt sei, meinte ich, man könne diesen vermeintlichen Streit sehr gut verstehen, da doch hier in Ägypten sichtbar werde, daß das Land zwar eine atemberaubend lange Schriftkultur besaß, diese aber doch eine orientalische sei, die, so folgerte ich etwas naseweis, von der europäischen Kultur abgetrennt sei wie die indische oder andere asiatische. Francesca widersprach sofort, sie als Jüdin wisse um ihre Wurzeln, die eben weiter reichten als das Land Palästina. Ihr Volk war der ägyptischen Gefangenschaft entronnen.

Nach unseren beiden größeren Reisen nach China und Ägypten wollte Francesca so schnell wie möglich nach Krakau reisen, um Auschwitz zu besuchen. Ich stimmte dem sofort zu. Jeder, zumal jeder Deutsche, sollte dorthin fahren. Es gibt nicht nur Vergnügungs- und Bildungsreisen, sondern auch Bußreisen, oder sagen wir weniger pathetisch: Reisen, die einfach zur Allgemeinbildung gehören. Auschwitz-Birkenau ist eben nicht nur ein Symbol der grausamsten und perfidesten Tat der europäischen Geschichte, sondern ein realer Ort, ein empirisches Datum, etwas, das man gesehen haben muß. Wir hatten das Privileg, von dem katholischen Priester Manfred Deselaers, der am »Zentrum für Dialog und Gebet« in Os´wie˛cim arbeitete, persönlich einen Tag lang geführt zu werden. Er hatte über den Kommandanten Rudolf Höß promoviert und war auf Bitten Papst Johannes Pauls II. von seiner Diözese freigestellt worden, um dort Besucher zu begleiten; Bernhard Casper hatte uns das vermittelt. Es gab kein Entrinnen, sowohl im Stammlager wie in Birkenau. Das, was man von den Filmen und Dokumenten kannte, wurde hier Wirklichkeit. Der fürchterlichste Moment war, als unser Führer eine Handvoll Erde in die Hand nahm und kleine graue Splitter herausklaubte, die wie winzige Steinchen aussehen, in Wahrheit aber Knochenreste von den Verbrennungen sind.

Wir reisten im September 2001 nach Krakau und besichtigten diesen Ort des radikal Bösen am neunten des Monats. Die beiden darauffolgenden Tage galten den Sehenswürdigkeiten der Stadt Krakau mitsamt ihrem jüdischen Erbe. Am 11. September bewegten wir uns in ihr, ohne daß uns irgend etwas aufgefallen wäre, selbst im Restaurant beim Abendessen nicht. Abends im Hotel brannte im Fernseher New York. Ich dachte unwillkürlich an einen Dritten Weltkrieg und rief sofort Francesca, die allerdings auf der Toilette war und meinte, so dringend könne es nicht sein. Am nächsten Tag flogen wir nach Frankfurt; überall war Polizei. Die Welt hatte sich verändert, für uns war der 11. September mit diesem Besuch unauflöslich verknüpft. Francesca schrieb bald darauf einen Text zur Ethik im 21. Jahrhundert.

Von einer Indienreise sahen wir ob der veränderten Weltlage ab; außerdem bekam Francesca 2002 eine Einladung in die USA und ihr Israelstipendium. Wir blieben auf Achse. Die Reise in die USA war für uns nicht deshalb wichtig, weil es dort so vieles und Spannendes zu sehen gegeben hätte (das war nicht der Fall), sondern um das »Land der unbegrenzten Möglichkeiten«, die Supermacht kennenlernen zu können. Wir kamen mit gemischten Gefühlen zurück. Francesca hatte in Sedona zu tun und besuchte den Slide Rock State Park sowie in San Diego die gigantische Sea World. Ich besuchte eine Kollegin, eine gute israelische Freundin von uns, und hielt einen Vortrag an der Universität von San Diego. Zwei Tage waren wir in Los Angeles. Francesca war extrem frustriert, wegen des 11. Septembers waren die Paramount Studios für Touristen geschlossen. Ihr war es verwehrt, die Studios für Star Trek zu besuchen. Vielleicht war das der Grund, warum wir danach alles so schal fanden: der doch letztlich schäbige Ort, wo der Oscar verliehen wird (mit dem Hollywood Walk of Fame – mehr Schein als Sein), Beverly Hills, wo die Reichen in geschmacklosen Häusern wohnen, das milliardenschwere Getty Museum mit seinen drittklassigen Werken aus der Zeit vor 1900, Hollywood mit seinem gigantischen Kitsch. Das Beste waren noch der Strand und das chinesische Essen. Mit der Familie der Kollegin fuhren wie nach Disneyland. Wenn wir uns schon im Land der Kulturindustrie bewegten, dann richtig. Ja, es hat Spaß gemacht, das Angebot ist tadellos. Aber wir dachten an den Satz von Jean Baudrillard, Amerika habe Disneyland erfunden, um zu kaschieren, daß es Disneyland ist. Wie wahr! Die Bilder, die wir empfingen, waren nicht zuletzt zu große Autos und überfette Leiber.

Als wir uns 2003 für eine Woche St. Petersburg entschieden, hatten wir Glück. Präsident Putin hatte zuvor seine Geburtsstadt herausputzen lassen. Wir konnten uns nicht beklagen. Für den Winterpalast, die berühmte Eremitage hatten wir zwei ganze Tage eingeplant. Wir haben uns wirklich alles angeschaut. Und zugleich etwas gespürt von der Atmosphäre, die wir zuvor in dem einzigartigen, nur mit einer einzigen Kameraeinstellung gedrehten russischen Film Russian Ark von Alexander Sokurow gesehen hatten. Die Massierung von Kunst und Malerei versetzte uns ins Entzücken. Der Reichtum hatte etwas Überwältigendes, auch im Katharinenpalast, wo wir das gerade originalgetreu nachgebildete Bernsteinzimmer sehen konnten, auf dem Schloß Peterhof mit den überwältigenden Wasserspielen und der Pawlowsk-Sommerresidenz. Wir bestaunten die Bausubstanz allerorten in der Stadt, die orthodoxen Kirchen, die kleineren Museen, auch dasjenige zur nationalsozialistischen Belagerung, die bekanntlich fürchterlich war, wir genossen die beginnende Prosperität auf dem Nevsky Prospekt, sprich die Cafés, diese sonderbare Mischung aus europäischer Weltstadt und russischer Seele. Francesca, die im Jahr zuvor schon Moskau besucht hatte, wo sie sich ihrer sozialistischen Ursprünge erinnert glaubte, fühlte sich dieser Kultur, deren Romane sie als Teenager verschlang, sehr zugewandt. Und doch rief sie am Flughafen »Lufti!«, als sie unsere Lufthansamaschine sah. Sie hatte sich mit den Jahren so sehr mit Deutschland identifiziert, daß sie es kaum erwarten konnte, zurückzufliegen, auch wenn sie von Frankfurt aus gleich nach Tel Aviv weiterreisen sollte.

Francesca wohnte seit Herbst 2002 in Jerusalem. Sie, die schon 2000 dort einen Sommerkurs besuchte, hatte bereits alles für sich entdeckt und einen Freundeskreis aufgebaut, als ich im April 2004 eine Woche bei ihr war, wir einen Wagen mieteten und das Land durchquerten. Vom Toten Meer mit dem Quell Ein Gedi, über die Festung Massada mit der römischen Rampe, Tel Aviv als die moderne, ja amerikanisierte Stadt bis hoch nach Haifa mit dem Bahai-Tempel und Akko, zum See Genezareth, zurück über Megiddo und Nazareth. Überall Geschichte, Religion, Überlieferung, überall jüdische, aber auch arabische Kultur, und über allem liegt der ganz große Konflikt zwischen den monotheistischen Religionen, zwischen Europa und der östlichen Welt, zwischen Aufklärung und Tradition und – innerjüdisch – zwischen Orthodoxie und Liberalität. Wie ein Motto las ich im Anflug auf Israel in Derridas Buch Marx’ Gespenster diesen gespenstischen, aber allzu wahren Satz: »Der Krieg um die ›Aneignung von Jerusalem‹ ist heute der Weltkrieg.« Das war der erste Schauder.

Am nächsten Morgen liefen wir in die Stadt hoch, am Haus von Martin Buber vorbei, und kamen zur Altstadt. Welch ein Anblick, welch erhebende Gefühle! Die Klagemauer, der Felsendom, die Aksa-Moschee, der Blick auf Ostjerusalem. Golgatha, das armenische Viertel, dieses Sprachgewirr, die unterschiedlichen Gerüche, und immer wieder christliche Pilger, aber auch Soldaten und Polizei. Dann die Universitätsbibliothek, dort die Privatbibliothek von Gershom Scholem, in die Francesca eingelassen wurde. Die Widmungsbücher von Adorno und Horkheimer, und das alles inmitten der vormaligen Wüste. Welche Kontraste! Gibt es ein widersprüchlicheres Land?

Francesca zeigte ein gespaltenes Verhältnis diesem Staat gegenüber. Auf der einen Seite fühlte sie sich heimisch, Israel war ihr, der Jüdin, Land, sie identifizierte sich mit der Aufbauleistung der Siedler und Einwanderer, mit dem Schicksal fast aller, die dorthin gelangt sind, mit dem Projekt einer jüdischen Heimat. Sehr stolz zeigte sie mir »ihr« Land. Zugleich kam sie mit der Mentalität nicht zurecht, einerseits die Arroganz und Borniertheit, andererseits das südliche Machogehabe, das sie sehr an Italien erinnerte. Hinzu kamen die politischen Spannungen, nicht nur die drohende Kriegsgefahr – bedrückend die Polizeipräsenz, an jedem Restaurant, an jedem Supermarkt –, sondern die Apartheidpolitik gegenüber den Palästinensern. Wir ließen uns von diesen in die Territorien des Westjordanlands fahren. Gespenstige Szenerie: teilweise schick, weil von EU-Mitteln gebaut, so Bethlehem, dann wieder bettelarm, wie aus den 1950er Jahren, so Jericho. Beschämend waren die Schikanen an den Kontrollposten. Das war der zweite Schauder. Am Donnerstag, dem 11. März, kreisten die Helikopter über Jerusalem. Sofort dachten wir, es müsse etwas Schlimmes passiert sein. Und in der Tat war es der Tag des verheerenden Terroranschlags in Madrid. Allein, es handelte sich um einen Marathonlauf. In Israel wird man paranoid.

Nach Auschwitz war Jad Vashem der nächste und nächstliegende Ort des Gedenkens. Sie, die deutsch gewordene Frau, führte ihren deutschen Mann dorthin. Ich gedachte und schwieg. Es war der dritte Schauder. Von dem, was vor allem die Künstler sich ausgedacht hatten, um der Erinnerung Tribut zu zollen, hatten wir großen Respekt, ihre Lösungen waren sehr überzeugend. Ich spürte bei allen, die wir trafen – aber es waren Freunde und Bekannte von Francesca –, keinen Groll gegen mich als Deutschen. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn ich nicht eine solch polykulturelle Partnerin gehabt hätte.

Im Sommer 2006, nachdem wir ein Auto gekauft hatten, durchfuhren wir das Burgund, etwa vier Autostunden von Freiburg entfernt. Jede Nacht in einer anderen Stadt, stets morgens mit dem Handy ein Hotel in derjenigen Stadt buchend, die wir anvisiert hatten: Dijon, Cluny, Autun, Avallon, Sens, Montbard, Beaune. Wir waren sehr flexibel, fühlten uns zum ersten Mal als Autobesitzer. Auf diese Weise konnten wir pro Tag vier Sehenswürdigkeiten und mehr anschauen: Schlösser, Kirchen, Klöster, historische Städte. In einer Woche erreichten wir etwa dreißig Orte. Francesca war dabei die Reiseleiterin und Übersetzerin. Solch eine Bildungsreise war nach ihrem Geschmack.

 

Francesca war zu einem Vortrag nach Princeton eingeladen, ich konnte einen Vortrag an der Columbia University halten, und wir konnten endlich Carl Djerassi, den hochbetagten Erfinder der Antibabypille und nun Schriftsteller, der uns seit längerem kennenlernen wollte, treffen, weil er eine Theaterpremiere hatte. Grund genug, nach New York City zu reisen. Wir sagten immer, die USA sind die USA, und New York ist anders. Wir sollten im September 2008 recht bekommen. Unser Hotel lag in der Nähe des Times Square, mithin zentral. Am ersten Morgen betrachteten wir vom Bistro aus die Vorbeilaufenden. Welch eine Energie, welch ein Vielvölkergemisch, welch eine Geschwindigkeit, welch eine Eleganz (zumindest in diesem Teil von Manhattan). Wir spürten etwas von dem multikulturellen Ideal. Gerade die Frauen liefen mit »determinazione«, wie man auf Italienisch sagt. Das Panorama hoch oben auf dem Empire State Building war grandios. Wir ahnten etwas von der weiten Visions- und Pionierhaftigkeit der amerikanischen Existenz, so daß wir, an der Freiheitsstatue vorbeifahrend, nicht das Bedürfnis verspürten, auszusteigen und hochzulaufen. Überhaupt sind die hohen Gebäude so massiert (mehr noch als in Hongkong), daß wir unwillkürlich am Boden bleiben wollten.

Das Guggenheim-Museum war eher enttäuschend, nicht jedoch das Museum of Modern Art mit einer Dalí-Sonderausstellung. Wir waren erstaunt von der großen Professionalität der Museen, vor allem beim Museum of Natural History. Wieder kam uns in den Sinn: »Wenn die Amerikaner etwas tun, dann tun sie es richtig.« Das legendäre Metropolitan Museum of Art überforderte uns. Wie betraten den Seitenflügel und befanden uns in der antiken Welt. Als wir bei den Etruskern ankamen, fragten wir uns, wie groß das Museum denn sei, und beschlossen, nachdem wir uns über die Ausmaße erkundigt hatten, zwei ganze Tage zu reservieren. Dieser Ort allein schon ist eine Reise wert. Die altägyptische Sammlung versetzte uns in unsere Reise an den Nil, in der Musikinstrumentensammlung konnte ich Francesca das Staunen lehren. Und dann gab es noch ein Dutzend Sonderausstellungen, darunter eine sehr große zu William Turner. Wir waren begeistert. Überhaupt: Dieses Museum ist so gigantisch und enzyklopädisch, daß man den Eindruck gewinnt, die ganze Welt sei darin versammelt, einschließlich des europäischen Bürgertums des 18. Jahrhunderts. Tja, Amerika, die imperiale Macht, war auf »Einkaufstour« gewesen.

Es war die Woche des 11. Septembers. Wir fuhren zum Ground Zero erst gegen Abend, da tagsüber die beiden Präsidentschaftskandidaten auftraten. Eine sonderbare Stimmung. Einerseits diese gigantische Großbaustelle, die anscheinend so langsam vorankommt; sodann Tausende, die in der Rushhour zur U-Bahn nach New Jersey strömten und an dieser Baustelle vorbeidrängelten; dann wieder eine Gruppe Tiefreligiöser, die beteten und sangen; überall Poster und Aushänge, als ob das Attentat erst vor kurzem geschehen wäre; ein paar Halbstarke, die mit ihren großen Autos ankamen, deren Karosserien vollständig mit Bildern der Rocky Mountains und für uns Europäer schwer verständlichen Parolen bemalt waren: »We trust in God. God bless America.« Die Szenerie glich einem Film; es schien, als handelten diese Leute, damit sie ins Fernsehen kamen, aber sie meinten es ernst. Wir machten die Runde um die Baustelle und fanden, daß es genug sei.

Die Finanzkrise beschäftigte seit einiger Zeit die Weltöffentlichkeit. Wir spürten das Mißverhältnis. Auf der einen Seite ein schwacher Dollar, der uns Europäer zu kleinen Krösusse machte, auf der anderen Seite eine wahnwitzige Energiebilanz: viel zu große Autos, und das im überfüllten Manhattan, überall Wegwerfgeschirr, riesige Konsumhäuser für allerlei Waren, die mit »Made in China« etikettiert sind, überall penetranteste Reklame. Wir sagten uns, daß dies nicht gutgehen könne. Am Sonntag zwang uns eine Umleitung der U-Bahn zum vorzeitigen Aussteigen. Wir gingen die Treppe hoch und starrten auf die New Yorker Börse. Plötzlich und ohne jede Absicht standen wir in der Wall Street. Da sind wir also, im Zentrum der Macht, dachten wir und verließen schnell das Terrain. Wir wußten nicht, daß zu dieser Stunde das Ende von »Lehman Brothers« besiegelt wurde. Abends flog Francesca nach Cincinnati, ich nach Deutschland. Am nächsten Tag brach die Wall Street zusammen. Als ob wir das am Vortag ausgelöst hätten.

An Ostern 2009 reisten wir nach Granada. Es wurde höchste Zeit, das maurische Andalusien, die arabische Al-hambra zu besuchen, beschäftigte sich Francesca doch seit Jahren mit der arabischen Sprache und Kultur. Die Alhambra mit der Generalife war natürlich umwerfend, vor allem in ihrer filigranen Zartheit. Isabel, die Katholische Königin, liegt in der Kathedrale begraben. Als Francesca vorbeikam, zeigte sie ihr den Stinkefinger. Das mußte sein, hatte diese Regentin doch 1492 die Juden aus dem Land vertrieben und damit auch Francescas Vorfahren. Sie nahm das sehr persönlich. Wir machten Ausflüge nach Córdoba, Almería und Málaga und genossen die Überlandfahrten mit dem Bus. Córdoba war für Francesca ein besonderes Erlebnis. »Hier komme ich her«, sagte sie, auf ihre Familiendiaspora anspielend. Stolz und erfreut zugleich lief sie durch das jüdische Viertel. Als wir an Maimonides’ Geburtshaus vorbeikamen, war es um Francesca geschehen. Sie schielte auf das »venta«-Schild, das zufällig am Nachbarhaus hing, und kam ins Schwärmen – hier eine Zweitwohnung mit Blick vom Schreibtisch auf das Denkmal des größten jüdischen Philosophen aller Zeiten. Nach Venedig, New York und Paris war das die vierte Zweitwohnung, die sich in Francescas Phantasie festgesetzt hatte.

In dieser Zeit planten wir für die kommenden Jahre Dreierkombinationen: eine Städte-, eine Erholungs- und eine größere Bildungsreise. Die erstere, 2010, führte nach Budapest, wo wir Francescas Geburtstag feierten. Wir waren von den Herrlichkeiten der Donaumonarchie tief beeindruckt und kamen rasch zum Schluß, daß Wien nicht mithalten könne und Budapest die schönste Stadt Europas sei (von Italien abgesehen). Ausflüge ins Umland, wie wir es mit Prag und Theresienstadt vorhatten, planten wir nicht ein. Die Stadt bot uns genug, die Burg, die Museen, die Bäder und nicht zuletzt die umwerfend schmuckvolle Oper, wo wir Il barbiere di Siviglia sahen, nicht unbedingt unser Geschmack, aber es paßte zur launigen Ferienstimmung. Die taufrisch restaurierte Synagoge, die größte auf dem europäischen Kontinent, war so überwältigend, daß wir kurz meinten, sie sei Anlaß, nochmals zu heiraten. Am letzten Tag entdeckten wir die Antiquariate, denen wir aus dem Wege gehen wollten. Francesca kaufte wieder ein, darunter eine Leusden-Bibel auf Hebräisch von 1705.

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