Deutschland oder Jerusalem

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Ab September 2002 – wenige Wochen, nachdem bei ihr die chronische Krankheit des juvenilen Diabetes (Typ 1) diagnostiziert worden war – lebte sie in Jerusalem, um an der dortigen Bibliothek über ihr Habilitationsthema zu forschen. Es war nicht ihr erster Aufenthalt im Heiligen Land, die Dauerresidenz war freilich eine Phase größter Intensität. Es war die Zeit des täglichen Terrors in Israel. Auch Francesca, die auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen war, mußte auf Busfahrten mit dem Schlimmsten rechnen. Die Anspannung im Land war unerträglich. Francesca flüchtete sich in die Arbeit, las von morgens bis abends, lernte Ivrit und nahm gründlich Arabischunterricht. Auch hier suchte sie zielstrebig Freundschaften, nicht zuletzt zu deutschen Juden, die diese neue Heimat gewählt hatten. Als ich 2004 Francesca besuchte, war ich erstaunt, wie sehr sie in gewissen Kreisen integriert war. Sie war ein Kommunikationstalent. Sie flog nach Hause, wenn sie Termine hatte. Ab dem akademischen Jahr 2003/04 nahmen ihre Lehrtätigkeiten in Europa derart zu, daß sie ihre Zeit in Jerusalem öfters und länger unterbrechen mußte. Sie wuchs in den akademischen Betrieb hinein und war bald eine gefragte Dozentin.

Im Frühjahr 2002 war Francesca zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten. Es sollte nicht das letzte Mal sein. Immer wieder forschte sie dort, besuchte Kongresse, hielt Vorträge und stellte sich für Stellen vor. Sie genoß die großzügigen Selbstverständlichkeiten des akademischen Lebens in den USA, die üppig ausgestatteten Bibliotheken, die Ungezwungenheiten des sozialen Austauschs unter den »scholars«. Vor allem das Hebrew Union College mit der Klau Library in Cincinnati war seit 2005 der Ort, an dem sie für mehrere Wochen am Stück arbeitete. Dort war sie in die amerikanische jüdische Community integriert und pflegte, auch von Deutschland aus über Mails und Skype, intensive Freundschaften. Späterhin, als sich ihre Position in Deutschland festigte, klärte sich ihr Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Dort arbeiten und forschen, das sicher, aber für immer leben, dorthin zu ziehen, das kam nicht in Frage. »Die Arbeitsbedingungen«, sagte sie, »sind phantastisch, aber wenn du den Campus verläßt, beginnt die kulturelle Leere.« Sie war und blieb eine Europäerin, und das sowohl kulturell wie politisch. Mit Deutschland wollte sie kein Land tauschen.

2007 nahm Francesca sich eine Zweitwohnung in Frankfurt, wo sie eine Professur vertrat. Die Universität hatte ihr ein Gästeappartement zur Verfügung gestellt. So konnte sie sich besser auf die Arbeit konzentrieren und mußte nicht, wie bisher, wöchentlich pendeln und im Hotel nächtigen. Das hatte zudem den Vorteil, daß sie auch in dieser Stadt, in der das jüdische Leben viel reger und geschichtsträchtiger ist als im kleinen Freiburg, ein Netz von Kontakten aufbauen konnte.

Ab Herbst 2007 bezog sie, nachdem der Ruf an die Universität Potsdam erfolgt war, eine Wohnung in Berlin, natürlich in der Hauptstadt und nicht in der benachbarten, kleineren Stadt. Sie, die Römerin, die immer erklärte, »man« könne in keiner Stadt leben, die weniger als vier Millionen Einwohner hat, war endlich in der Metropole angekommen. Frankfurt war bis dahin die Stadt, in die wir fast gezogen wären. 2004 hatte die Universität ihr eine Vertretungsprofessur mit Gästewohnung angeboten, die Stelle mußte dann aber anderweitig vergeben werden. So blieben wir zunächst in Freiburg, von wo aus jedoch Francesca immer wegstrebte; dabei war Frankfurt ihre erste Wahl. Später räumte sie ein, daß Berlin natürlich die bessere sei. Frankfurt war definitiv zu klein und längst von einer linksintellektuellen Hochburg zu einer kalten Kapitalismusstadt mutiert. Ihre lange Odyssee fand ins neue Zuhause, von Rom über Freiburg nach Berlin, mit den Zwischenstationen Jerusalem, Frankfurt und Cincinnati. In Kairo erklärte sie mir 2001, daß ihre Reise viel verschlungener war: von der ägyptischen Gefangenschaft über Kanaan, die sephardische Diaspora mit Spanien und dem Elsaß nach Rom und von dort nach Deutschland. Wer sonst kann auf eine fünftausend Jahre lange Reise zurückblicken als das jüdische Volk?

Man fragt sich, ob Francesca arbeitswütig war, ob sie überhaupt das Leben genießen konnte, ob sie so etwas wie Hobbys kannte. Immerhin: In den zwölf Jahren in Deutschland schrieb sie zwei Bücher, übersetzte zwei, veröffentlichte etwa 30 Aufsätze, hielt über 50 Vorträge und bestritt gut 60 Lehrveranstaltungen zu stets unterschiedlichen Themen. Nach Francescas Tod fragte mich einer ihrer Kollegen, wie denn Francescas unglaublicher Ehrgeiz bei gleichzeitiger Höchstgeschwindigkeit zu erklären sei. Ich konnte eine mehrschichtige Antwort geben. Zunächst besaß Francesca eine unstillbare Neugierde und Freude am Entdecken, einen Wissensdurst, der nicht zu stillen war. Sodann wußte sie im Inneren (oder ging davon aus), daß sie nicht lange leben sollte. Schließlich, und das dürfte der tiefere Grund sein, war diese Art von geistiger Existenz eine Lobpreisung Gottes. Der letzte Grund für Francescas enzyklopädisches Verhalten war ein religiöser, und zwar ein zutiefst jüdischer.

Ich fragte sie einmal: »Hast Du wirklich den ganzen Shakespeare gelesen?« Sie antwortete: »Natürlich, das ist doch eine Mitzwa.« Mithin eine Pflicht, eine gute Tat im jüdischen Denken. Gott habe uns Menschen auferlegt, daß wir uns mit der Schöpfung ausgiebig beschäftigten, und dazu gehört alle Kunst, alle Weltkultur, alle Musik, und so auch die Weltliteratur mit ihrem Shakespeare. Ein umfassendes Bildungsideal, aber grundiert von der emphatischen Idee einer universalen Gelehrsamkeit. Und diese ist prinzipiell unendlich, also unerreichbar. Francesca schrieb mit zwanzig in eines ihrer Notizbücher, wie sehr sie darunter litt, so wenig zu wissen, so unreif zu sein, gerade weil sie so viele Bücher gelesen habe, wisse sie von ihren Defiziten und Lücken. Schon damals verkörperte sie die sokratische Weisheit, daß mit dem Wissen das Nichtwissen zunehme. Auch noch in Freiburg glaubte sie in Augenblicken der Niedergeschlagenheit, die »schlimmste Lehrerin der Welt« zu sein, was nun wirklich reiner Unsinn war.

Francesca hielt nichts von Halbheiten oder Schummellösungen. Bereits im ersten Studienjahr in Rom ging sie aufs Ganze. Seminare zur Theoretischen Philosophie mußten alle Studenten besuchen, sie aber schrieb eine Hausarbeit über Hegels Wissenschaft der Logik – sicherlich das ungenießbarste seiner Werke – und darin über das Kapitel des Grundes. Sie verkörperte das genaue Gegenteil einer gewissen populären Pädagogik, die glaubt, junge Menschen langsam an die Dinge heranführen zu müssen, um sie bloß nicht zu überfordern. Francesca, die dafür nur Spott übrig hatte, bevorzugte das Gegenmodell: ins kalte Wasser springen, sich dem Größten aussetzen, sich von den letzten Maßstäben herausfordern lassen.

Gewiß, ihre Intelligenz half dabei – oder umgekehrt, diese bedurfte der entsprechenden geistigen Nahrung. Francesca besaß ein phänomenales Gedächtnis, vor allem für Sprache und Geschichte. Sie konzentrierte sich beim Lesen so sehr, daß selbst ich, ihr Lebensgefährte, staunte: Betrat ich das Zimmer, in dem sie las, bemerkte sie das nicht und erschrak aufs Heftigste, wenn sie meiner, vor ihr stehend, gewahr wurde. Sie hatte eine extrem schnelle Auffassungsgabe. Man mußte nicht lange erklären. Wenn Francesca einmal etwas nicht verstand, dann weil sie es nicht wollte, weil sie ihren Kopf freizuhalten suchte. Deswegen hatten wir auch kaum längere Diskussionen, der Dissens, wenn er denn bestand, war in wenigen Schritten erkannt und benannt. Und sie besaß ein sicheres, zumindest für ihr eigenes Denken sicheres Urteilsvermögen, das ich nicht anders denn als Ausdruck einer äußerst starken Intuition erklären kann.

Francesca, das würde man von außen blickend sagen, war eine Workaholikerin. Eine Frau, die immer arbeiten mußte und dabei von einem Perfektionismus angetrieben wurde, der zuweilen dazu führte, daß dieser sie beherrschte. Dazu kam Francescas Ungeduld. Alles mußte rasch und möglichst sofort geschehen. Häufig mußte ich sie ermahnen, niemand könne erwarten, daß sie, die Frühaufsteherin, die nach acht Uhr abends zu größeren geistigen Anstrengungen kaum in der Lage war, am Samstag- oder Sonntagabend nach einem Besuch des Theaters oder eines Konzertes noch E-Mails beantworte. Aber so war sie nun einmal. Hatte sie erst einmal einen Blick in ihre Mailbox geworfen, konnte sie gar nicht anders, als die Briefe zu bearbeiten, sie hätte keinen Schlaf gefunden, obwohl sie todmüde war.

Workaholismus ist auch der Name für ein Krankheitsbild, eine Symptomatik, die bis zum Tode führen kann, weil Menschen zu Dauerhyperaktiven werden, zu kleinen Hamstern, die sich im Laufrad drehen, bis sie umfallen. In diesem Sinne war Francesca definitiv keine Workaholikerin. Sie konnte sehr wohl einen zweckfreien Fernsehabend verbringen, mit Freunden in Cafés und Restaurants Stunden geselligen Zusammenseins genießen oder zehn Tage am Strand des Lago Maggiore (und noch mehr im Whirlpool) faulenzen. Offen gesagt, eine Workaholikerin an meiner Seite hätte ich nicht ertragen. Nein, was Francesca tat, machte ihr Spaß. Sie sagte mit großem Ernst und aller sachlichen Richtigkeit, daß wir, die Professoren, das unbeschreibliche Glück hätten, für unsere »sinnlosen Hobbys« auch noch gut bezahlt zu werden. Francesca war somit durchaus der Ferien fähig. Allerdings mußte das Gehirn stetig gefüttert werden, wenn nicht mit Arbeit, dann mit Romanen oder Sightseeing, Museen, Ausstellungen, Veranstaltungen. Dolce far niente, »das süße Nichtstun«, war ihr fremd. Schließlich, und das macht Francesca in der Rückschau sehr menschlich, wurde sie auch von Depressionen, von Melancholie, ja Defätismus befallen. Dann litt sie, und sie litt auch darunter, nichts zu haben, worauf sie sich konzentrieren konnte. Dann fehlte ihr die Arbeit.

Trotz ihrer beeindruckenden Karriere war Francesca das genaue Gegenteil einer Karrieristin, zumindest, wenn man darunter eine Person versteht, die jede Minute durchplant und jeden menschlichen Kontakt unter einem strategischen Gesichtspunkt betrachtet. Francesca war viel zu individualistisch, als daß sie sich einem, auch unter Frauen, immer verbreiteteren Typus von Managerverhalten angepaßt hätte. Es wäre ihr wie ein Verrat am Leben vorgekommen. Sie war hier wie eine Schriftstellerin, die ihre Einsamkeit braucht, um zu Sinnen und zur Besinnung zu kommen. Francesca hatte stets Zeit für zwanglose Treffen mit Freunden, Nachbarn, Kollegen, Gemeindemitgliedern. »Laß uns einen Cappuccino trinken«, war fast so etwas wie ihr Lebensmotto.

 

Gewiß, sie reagierte gereizt, wenn man ihr Zeit stahl, sie haßte sinnlos vergeudete – ihr Gehirn hatte dann nichts zu tun oder, schlimmer noch, wurde von unnötiger Verwaltungsarbeit und Bürokratie fremdbestimmt. Da konnte sie wild und fuchtig werden, regelrecht ungerecht, unerträglich – besser, man ging ihr aus dem Wege. Doch sie arbeitete schnell, faßte rasch Entschlüsse und ging konsequent vor. Sie zauderte nicht und hatte eine präzise Auffassungsgabe. Das sparte ihr Zeit, und diese hatte sie dann auch. Für die Weihnachtsferien 2010/11 kündigte sie ein großes Arbeitspensum an, das keinen Aufschub duldete. In der Tat machte sie sich gleich ans Werk, vollführte das aber so schnell, daß sie dann mehrere Tage einfach nur frei hatte.

Bevor ihr Ehemann allzu sehr ins Schwärmen kommt, sei eine vergleichsweise neutrale Stimme wiedergegeben, die Francesca nur einmal, für wenige Tage am Stück, erlebte. Tamara Albertini, Professorin für Philosophie an der Universität Honolulu, lud sie nach Hawaii ein, um dort für eine Woche zu weilen und Vorträge zu halten. Im Sommer 2008 flog Francesca von Cincinnati auf die Pazifikinsel. Trotz des gleichen Namens sind die beiden Damen nicht verwandt. Francesca hatte eines Tages im Internet Tamara entdeckt und über E-Mail Kontakt aufgenommen, wie sie das mit Hunderten von Kollegen oder anderweitig interessanten Menschen zu tun pflegte. Francesca war begeistert von dieser Vulkaninsel, die sie mit einem Leihwagen durchquerte. In einem Kondolenzbrief erzählt Tamara: »Francesca hat einen kolossalen Eindruck auf meine Kollegen und unsere Studenten gemacht. Sie war sehr professionell, zeigte aber anders als deutsche Akademiker keine Arroganz. Ihre römische Seele schien immer durch. Sie konnte sehr technisch sein und zugleich große Flexibilität zeigen. Sie besaß intellektuelle Demut und wußte sich doch zu verteidigen, wenn sie unfair angegriffen wurde. Ich konnte das hautnah erfahren, nachdem sie ein orthodoxer Jude nach einem Vortrag des Verrats am Judentum beschuldigt hatte. Francesca antwortete souverän, daß man das Judentum nicht auf Kriterien der Bronzezeit reduzieren könne.«

NATURELL

Die meisten, die Francesca im öffentlichen Raum erlebten, würden sie als eine Sanguinikerin, eine Optimistin beschreiben. Und sie war es. Sie war eine Italienerin, eine Römerin, eine Frau des Mittelmeerraums, auch dann noch, wenn sie so deutlich deutsch war. Sie konnte lachen, strahlen, mit den Augen funkeln, sie konnte auf die Menschen zugehen, war präsent, direkt, sie konnte schauspielern, theatralisch sein. Ihr Auftreten hatte etwas von Inszenierung, nur daß es authentisch war. Es war ihre Lebendigkeit, ihr Feuer. »Love and compassion appeared to me as the most natural connection to the world«, erklärte sie einmal.

Die Menschen beschrieben Francesca als warmherzig, gesellig, begeisterungsfähig, sympathisch, fröhlich, konzentriert, heiter, engagiert, klug, voller Zukunft, lebendig, quirlig und belegten sie mit Attributen wie Herzensgüte, Menschlichkeit, Liebenswürdigkeit, unbedingter Leidenschaft, Freude; es hieß, sie sei eine »eindrucks- und ausdrucksvolle Person ganz besonderer Art« gewesen; eine religiöse Stimme sprach von »einer von Gottes Wort durchdrungenen und bewegten Frau«. Ein hervorragender Menschenkenner unter den Komponisten beschrieb Francesca, die er nur ein paar Mal kurz erlebte, mit einer »Art Schweben«, als »einen Menschen voller Helligkeit und dabei von freundlichem Dunkel, etwas Ernstes und Heiteres zugleich war um sie …« Das trifft es.

Die positiven Attribute dominieren. Aber sie decken nur eine Seite ab. Francesca konnte immer auch wieder zusammenbrechen, weinen, sich unter der Bettdecke verkriechen. Himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, das konnte sich rasch abwechseln. Ich habe Jahre erlebt, in denen sie auch deprimiert, ja depressiv war und Tabletten nehmen mußte. Dann strengte sie sich an, daß die Außenwelt davon nichts bemerkte, verlangte doch ihre Ethik den Respekt vor dem Anderen. In diesen Augenblicken war der Schatten ihrer Existenz ganz auf den Partner und die Familie gerichtet. Sie hat immer wieder betont, daß sie im Verhältnis zu mir die Pessimistin sei, und zwar sowohl was die private, ihre ganz persönliche Zukunft anbelangt, als auch die zukünftige Weltentwicklung. Andererseits ging sie wie selbstverständlich davon aus, daß die Menschheit eines Tages andere Planeten bewohnen wird, was ein hohes Maß an Zukunftsoptimismus unterstellt. Francesca, eine Frau voller Sehnsüchte, war extrem widersprüchlich. Das muß man immer im Auge behalten.

Sergio war einer ihrer Lehrer am Gymnasium, ein sehr linker Römer mit großem Vermögen. Er entdeckte Francescas Hochbegabung, war von ihrer sozialkritischen Wachheit fasziniert und wurde ihr väterlicher Freund. (Genaugenommen war er der Lehrer für Maschinenschreiben, ein Fach, das er jedoch nicht beherrschte, was die Schulbehörde freilich ignorierte. So bat er Francesca, die diese Fähigkeit in kurzer Zeit erwarb, informell den Unterricht zu übernehmen, und bezahlte sie dafür aus eigener Tasche, womit diese wiederum, ganz typisch, Bücher kaufte.) Sergio sagte einmal, er habe in seinem ganzen Leben keine Frau kennengelernt, die wie Francesca zugleich so stark und so zerbrechlich sei. Das muß man wörtlich nehmen. Francesca war stark in ihren Ansichten und Handlungen. Aber sie konnte auch zusammenbrechen, und dies ziemlich unerwartet. Dann half nur, wie sie sagte, daß ich sie in den Arm nehme und einfach nur drücke. Francesca konnte eine beispiellose Empathie entwickeln. Als in der letzten Zeit wieder einmal in Israel eine Bombe hochging, schrieb sie sofort allen Freunden und Bekannten vor Ort und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Zugleich war Francesca nicht frei von Wutausbrüchen, auf die schwere Anschuldigungen folgen konnten, und Projektionen, die ihr Umfeld in ungebührlicher Weise belasteten.

Wie erklärt sich dieses Doppelwesen? Sicherlich lag eine bestimmte charakterliche Grundprägung vor. Diese aber wird in der Entwicklung abgeschliffen oder verschärft. Wenn man mit der zartesten Poesie, den erhebendsten Romanen, der hehrsten Philosophie lesend und im Umfeld der weltweit beeindruckendsten Kunstschätze aufwächst, zugleich jedoch mit der politischen und gesellschaftlichen Realität eines durch und durch korrupten Landes, das Italien nun einmal ist, konfrontiert wird, stumpft man ab und läßt es mit der Literatur und den großen Gedanken oder, wie Francesca es tat, entwickelt diese eigentümliche, fast schizophrene Doppelexistenz, die viele an ihr bewunderten. Eine Doppelexistenz führen auch die Juden. Sie sind Teil der Gesellschaft und doch wieder nicht. Sie sind auserwählt, exklusiv, mit hohem universalistischem Impetus und zugleich eine Minderheit, die Haß auf sich zieht. Eine Doppelexistenz führte sie auch als Italienerin, die Deutsche wurde, und als Frau in einer immer noch von Männern dominierten Wissenschaftswelt. Eine Doppelexistenz führte sie als Kind, als sie nicht wie die anderen draußen spielte, sondern sich hinter ihren Büchern fast versteckte. Und natürlich führte sie eine Doppelexistenz als chronisch Kranke unter »Gesunden«. Doppelexistenzen befördern Komplexität, die sich bei Francesca als Vielseitigkeit und extreme Schnelligkeit artikulierte. Und es führt zum »humani nihil a me alienum puto« (»nichts Menschliches ist mir fremd«), wenn man das ganze Auf und Ab des Lebens durchmißt.

Man denke aber nicht, daß Francesca mit der Welt eins gewesen wäre. Sie litt auch unter Einsamkeitsgefühlen, unter Verlassenheit, was selbst ich nicht immer ausgleichen konnte. Hinzu kam die Todesangst wegen des Diabetes. Manchmal schien sie wie verloren. Ich erinnere mich, wie sie einmal am Bahnsteig auf dem Berliner Hauptbahnhof auf mich wartete. Eine große Menschenmenge, nichts Ungewöhnliches. Und doch stand sie dort, als ob sie nicht dazugehörte, und erwachte zum Leben erst in dem Augenblick, als sie mich erblickte. Wieder eine Doppelexistenz. Als ob sie aus einer zweiten, nur ihr zugehörigen Welt gekommen wäre.

Diese zweite Welt, verstärkt durch die diversen Doppelexistenzen, ist typisch für Sonderbegabungen, die – etwas kitschig formuliert – eine intensivere Welt in sich tragen, als es die äußere ist. Francesca blieb auch ein Kind bis zum Schluß, typisch für Wunderkinder und Hochbegabte, die keine Zeit, sprich keinen Willen und keine Energie aufbringen, »normal« zu werden. Sie verweigern sich der Anpassung an die ordinäre Welt, an das Realitätsprinzip. Letztlich ist das auch sehr vernünftig, wenn es darum geht, Kreativität zu bewahren und zu steigern. Für eine juvenile Diabetikerin kann es freilich fatal sein.

Sie wußte sich zu schützen. Ab einem bestimmten Zeitpunkt wollte sie keine Spielfilme zum Thema Judenverfolgung mehr sehen. Ich glaube, der Pianist von Polański war der letzte. Ein Lied von Liebe und Tod – Gloomy Sunday, diesen Film verweigerte sie; aber auch Pane e tulipani (»Brot und Tulpen«), trotz der Paraderolle von Bruno Ganz. Dieser Film erinnerte sie wohl zu sehr an ihr eigenes Land. Den Untergang über Hitlers letzte Tage hingegen sah sie mit großem Interesse.

Francesca war eine hochemotionale Frau, deren Gefühlshaushalt zwar ihre Lebenslust und den Arbeitseifer antreiben, aber auch ihre Entscheidungen und Überlegungen bestimmen konnte. War sie erst einmal in Rage, konnte sie zu schnell reagieren und machte Fehler, die sie bei besonnenerer Haltung vermieden hätte. Francesca fehlte das Abgebrühte und Ausgebuffte. Sie war ein klarer Kopf, kein kühler. Sie hatte nicht das lebenserleichternde Privileg, intellektuell oder emotional zu sein. So konnte sie, wenn sie sich, weniger im Berufs- als im privaten Leben, angegriffen fühlte, aggressiv und launig werden. Es kam auch zu unschönen Szenen. Francesca war alles andere als ein Mensch ohne Schwächen. Sie kam aus der Spur, wenn es nicht so klappte, wie sie es vorbereitet hatte.

Francesca war von schnellem Urteil und von großem Selbstbewußtsein in ihren Ansichten. Was »man« denkt, war für sie niemals eine Größe. Sie lebte ihre »determinazione«, ihre Bestimmtheit. Sie war nicht arrogant in der konkreten Begegnung mit einem Menschen, konnte aber vernichtende Urteile fällen und abfällige Meinungen bilden. Im Sommer 1999 war sie auf einer berühmt gewordenen Tagung auf Schloß Elmau, zu der Bernhard Casper sie mitnahm. Sie kam zurück und erzählte lebhaft. Als ich in der Zeitung las, daß auch Peter Sloterdijk aufgetreten war, und sie danach fragte, warum sie denn diese Berühmtheit nicht erwähnt hatte, wurde sie energisch: »Was, dieser Schwätzer, dieser aufgeblasene Pseudophilosoph soll berühmt und anerkannt sein? Das kann ich nicht glauben!« Sie hat späterhin ihre Ansicht nicht geändert. Hatte sie einmal jemanden »gefressen«, so die Ministerin Ursula von der Leyen, war jedwede Diskussion vergebens.

Verlief das Leben hingegen, wie sie es sich eingerichtet hatte, dann war sie relativ ruhig und berechenbar. Dabei konnte sie sehr wohl Melancholie befallen, und das nicht erst, seit die Krankheit ihr Leben zur Gänze umwarf. Francesca litt mit, wenn im Privaten oder Politischen Unglücke passierten. »Ich fühle mich schwach und zerbrechlich«, schrieb sie an Freunde nicht nur einmal. Allein, diese Schwächen sind – fast trivial zu sagen – menschlich, die Melancholie gehört zu allen tiefsinnigen Menschen, und ohne das Leiden ist Kreativität kaum vorstellbar.

»Kollektive haben in meiner Lebensphilosophie keine Bedeutung: Ich betrachte jeden Menschen als ein singuläres, einmaliges Phänomen, das zwar seinen besonderen kulturellen, sozialen und anthropologischen Hintergrund hat, aber mit der Auseinandersetzung mit diesem Hintergrund zu einem einmaligen, besonderen, individuellen Geschöpf wird.« Damit erklärte Francesca ihr Menschenbild. Mir ist das sehr früh aufgefallen: Sie hatte keine Probleme mit »normalen« Menschen, zeigte mithin genau dasjenige Verhalten nicht, das bei Intellektuellen häufig zu beobachten ist, deren Unfähigkeit zu umgangssprachlicher Kommunikation in der Normalsprache. Es gibt Bilder, da sitzt sie inmitten ihrer Tauchergruppe in einer Blockhütte und strahlt. Ich möchte nicht wissen, mit wie vielen Menschen sie per Du war. Es ging schnell. Ihre Freiburger Zimmervermieterin sagte nach der Beerdigung, sie sei die einzige Studentin gewesen, mit der sie sich geduzt hatte. Statussymbole waren Francesca absolut gleichgültig. Sie kommunizierte auf Augenhöhe, war stets extrem höflich und fragte lieber einmal zuviel als zuwenig. Sie war ein Exemplar der sprichwörtlichen jüdischen Herzlichkeit, Weltoffenheit und Gastlichkeit.

 

Das zeigte sich am deutlichsten in Berlin und Potsdam, an ihrer Arbeit, an ihrer Wirkungsstätte zusammen mit den Kollegen und Studenten. Dort verschränkte sie das Persönliche mit dem Universitären. Es sei ein längeres Zitat wiedergegeben, Ausschnitte aus einer studentischen Rede. Sarah Pohl, die eine Freundschaft mit ihrer Professorin Francesca verband, sprach auf der akademischen Trauerfeier der Universität. Sie beschreibt die Lehrerin, die stets nicht nur eine Lehrerin war. Gewiß, auf einer Abschiedsfeier wird nur Gutes gesagt, aber was hier steht, ist authentisch und könnte von mir nicht besser formuliert werden.

»Ich werde die Gespräche mit ihr vermissen, die italienischen Sprichwörter und Redewendungen. Ich werde mich an ihre Kindheitsanekdoten erinnern, die sie in ihre Vorlesungen und Seminare einwob, an ihre manchmal weltfremden und um so intellektuelleren Witze und Vergleiche. Ihre Energie, die übermenschlich wirkte, die auch bei einer spontan einberufenen Zweimann-Vorlesung an einem Samstagmorgen acht Uhr jede Müdigkeit vertrieb und immer den Wissenshunger auf mehr versprach. Ganz besonders jedoch werde ich das persönliche und oft private Gespräch mit ihr vermissen, ihre aufmunternden und, Zitat, ›aufpumpenden‹ Worte. Ihren Optimismus, dessen Herkunft mir unersättlich und unergründlich zugleich schien. Ihren enorm starken Willen, um den ich sie nicht nur einmal beneidete, Francescas unglaubliche Lebensfreude.

Ich kann und möchte euch, liebe Studenten und Kommilitonen, dazu aufrufen, dies in euren Herzen zu bewahren, diesen enormen Willen nach Fortschritt und Erkenntnis. Bewahrt euch diesen Willen und das Streben nach Weisheit und gleichzeitiger Menschlichkeit. Das, was von Francesca Albertini in uns allen weiterlebt, ist ihre Lehre. Sie war ein Mensch der unvergleichlichen Sorte, eine Frau und Dozentin, die ihre Arbeit lebte, wirklich lebte. Sie lebte ihre Ethik, ihren Anspruch an Moral und Wahrheit. Für sie gab es schlicht keine Grenzen, sie nahm ihre Arbeit, wenn man überhaupt davon sprechen kann, stets mit nach Hause. So war es Tatsache und Beruhigung zugleich, daß sie stets erreichbar war, stets und wirklich immer (!) auf E-Mails, SMS oder Telefonanrufe antwortete und reagierte. Hin und wieder verteilte sie sogar ihre private Telefonnummer, um ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden. Auch im Ausland war sie stets zu erreichen und sorgte sich um den individuellen, bestmöglichen Erfolg eines jeden einzelnen Studenten.

Es geschah oft, daß ihre Sprechstunden neben der offiziellen zum Beispiel in einen Freiblock gebettet wurden, vor oder hinter einen Kurs geschoben wurden oder gänzlich außerhalb der universitären Maßstäbe stattfanden. Ich erinnere mich an sehr lange und erschöpfende, doch zufriedenstellende Sprechstunden und Termine, die nicht selten in einem mehrstündigen Gespräch endeten. Sie wurde nicht müde, Literaturlisten zu versenden, Hinweise auf Zeitungsartikel und Gedanken zum zuvor Besprochenen.

Sie wurde nicht müde, ihr Engagement für ihre Lehre und ihre Studenten auch in Zeiten schwerer Krankheit oder auch nur unvorhergesehener Situationen und Pannen aufrechtzuerhalten. Mit einem Lächeln und allergrößter Hochachtung erinnere ich mich an den Beginn des letzten Sommersemesters im April 2010, als dieser unaussprechliche Vulkan auf Island ausbrach. Francesca war zu dieser Zeit in London gestrandet, machte aber das Beste aus der Situation und versuchte unerbittlich, nach Berlin bzw. Potsdam zurückzukehren. Statt das erste Seminar wegen ›höherer Gewalt‹ und unvorherzusehender Umstände ausfallen zu lassen, konnte sie eine Fahrkarte für die Fähre Dover-Calais ergattern und fuhr ungefähr 24 Stunden nonstop nach Berlin zurück. Ihr erster Halt war dabei nicht etwa ihr Bett oder ihre Wohnung, wie wir Studenten es erwartet hätten, sondern der Seminarraum, in dem sie uns müde, aber zufrieden und voller Optimismus und Freude auf den Unterricht begrüßte. Diese Situation ist eine von vielen. Sie zeigt das unglaubliche Pflichtgefühl Francesca Albertinis, das ein Teil von ihr war, das sie lebte und gleichzeitig auch so menschlich und vorbildhaft erschienen ließ.

Sie war ein so nahbarer Mensch, grenzenlos freundlich, offen, bestimmt. Trotz ihres stets so engen Terminkalenders hatte sie stets Zeit für einen Kaffee oder einen Gang um das Unigebäude, stets ein Ohr und erhellende Ratschläge, die jedwede Sorge in die Ferne rückten. Im Sommer verlagerte sie die Seminarsitzungen ob der unerträglichen Raumhitze zumeist hinaus auf die Campuswiese, ›frei nach Aristoteles‹, wie sie gern scherzte. Intensiv konnte sie uns ihre Lehre vermitteln. Dabei ging sie stets frei jeden Skriptes in ihre Seminare, und ließ uns teilhaben an ihrem lexikonumfassenden Wissensschatz. Francescas Ansichten waren dabei allzu oft sehr überraschend und neuartig, sehr nachvollziehbar und perspektivisch einfach einzigartig.

Ihre Ansichten haben Augen geöffnet, zum Nachdenken und Nachfragen angeregt und immer wieder Hunger auf mehr gemacht. Sie versuchte stets, sich in die Reihe der Studenten zu stellen und auf Augenhöhe mit ihnen zu kommunizieren, indem sie zum Beispiel beinahe nach jeder Vorlesung anbot, mit Seraphina, ihrem roten Auto, nach Berlin zurückzufahren.«

Francesca, die keine Kinder wollte, sah in ihren Schülern die Kinder, die sie nicht hatte. Sie sorgte und umsorgte. Das war schon früher so. Aus Frankfurt erreichte mich ein Kondolenzbrief einer ehemaligen Studentin, die Francescas Unterricht nur im Superlativ beschrieb. Ich selber war ja ihr Schüler, anfangs, auf der Villa Massimo, ich spürte etwas von der erzieherischen Kraft eines Menschen, der sich mit dem ihm Anvertrauten gänzlich identifiziert, damit das, was gelehrt wird, auch in die Gesamtpersönlichkeit einwandert.

Für sie waren Theorie und Praxis, also Forschung und Lehre, eine Einheit. Warum? Einfach weil es für die jüdische Ethik der Mitzwot, der guten Taten, keinen Bruch gibt zwischen den Sachen und ihrer unmittelbaren Bedeutung für das Leben der Menschen. Ich hatte sie mehr als einmal auf die Möglichkeit angesprochen, angesichts der meschugge gewordenen Verwaltungsarbeit an der Universität, das pädagogische Engagement zurückzunehmen, um die Forschung zu schützen. Sie widersprach sofort. Das wäre unverantwortlich gegenüber denen, um die es geht, den Studenten, sagte sie. Ihr Büro in Potsdam, obwohl 25 Kilometer entfernt, war wie ein Außenposten ihrer Wohnung. »Ich halte mich für einen sehr glücklichen Menschen, weil Leidenschaft und Arbeit bei mir zusammenfallen«, erklärte sie einmal in einem Interview.

Hatte Francesca Hobbys? Es kommt darauf an, was man darunter versteht. Sicherlich hatte sie keine im Sinne regelmäßiger Freizeitbeschäftigungen, für die bestimmte Zeiten der Woche vorbehalten waren. Auch war sie keine Sammlerin, sieht man von den vielen Büchern ab. Sie war eine Frühaufsteherin, die durcharbeitete, um gegen Abend rasch zu ermüden und dann erschöpft ins Bett zu fallen. Sie hatte jedoch Hobbys im Sinne der Leidenschaft von sehr persönlichem Zuschnitt. Tauchen zum Beispiel. Francesca war unsportlich. Sie fuhr zwar Fahrrad und schwamm gerne, aber körperliche Anstrengung, und sei es um der Fitneß willen, war ihr unangenehm. Erst in den Wochen vor ihrem Tode wurde sie, unter einem medizinischen Standpunkt, »vernünftig« und kaufte sich Trainingskleidung fürs Joggen.