Letzter Tanz auf Sankt Pauli

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Sieben

Irgendetwas lag in der Luft. Während Jette auf den Beginn des Unterrichts wartete, hatten die uniformierten Schüler mitten im Klassenraum einen Kreis um Björn gebildet, der wie ein Hauptmann auf seine Kompanie einredete, nicht besonders laut, aber eindringlich. Seine Hände waren zwei Fäuste, die auf und nieder fuhren, während er sprach. Das Gesicht war rot, und der Eindruck wurde durch den Kontrast zu seinem flachsblonden Haar noch verstärkt. Die Wangenknochen stachen hervor. Er wirkte wie jemand, der immer bereit war für eine Schlägerei.

Jette beobachtete die Gruppe von ihrer Bank aus, genauso wie die Klassenkameraden das taten. Wenn Björn etwas ausheckte, wurde es gefährlich, zwar nicht für sie persönlich, denn Mädchen behelligten sie nicht, das entsprach, wie sie meinten, nicht deutscher Art. Aber sie hatten jemanden im Visier.

Christians Platz war leer, was wiederum Gregor nervös zu machen schien. Er achtete nicht auf die HJ-ler, sein Blick pendelte zwischen der Tür und Christians Platz. Schließlich stand er auf, ging zu Karl hinüber und zeigte auf den Stuhl neben ihm, der noch an die Tischplatte gerückt war.

»Kommt er heute nicht?«

Karl zuckte mit den Achseln. »Woher soll ich das wissen?«

Die HJ-ler schlugen die Hacken zusammen, als Björn seine Ansprache beendete. Sie hatten irgendetwas beschlossen, und das verhieß nichts Gutes. Wie sie da standen, wirkten sie wie ein Trupp halbwüchsiger Soldaten, die auf einen Angriff warteten. Jette glaubte zu wissen, wen sie sich zum Ziel auserkoren hatten. Christian, den Swingboy, den »Tanzbubi«, wie Doktor Petersen einmal zur Freude der Linientreuen gesagt hatte. Seitdem hatten sie ihren Spitznamen für ihn.

Und Gregor, weshalb war der so unruhig? Jette hielt es für möglich, dass er von ihrem Ausflug nach Altona erfahren hatte. Weil sie meistens zusammen nach Hause gingen, schien Gregor daraus eine Art Anspruch auf sie abzuleiten. Vielleicht war Jette in seiner Vorstellung bereits so was wie seine Verlobte, auch wenn sie über solche Dinge noch nie auch nur ein Wort verloren hatten. Aber warum sprach er sie dann nicht auf den Nachmittag in Altona an, sondern wartete auf Christian? Oder hob er sich die Vorwürfe gegen sie für den nächsten gemeinsamen Heimweg auf? Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, sie überlegte bereits, wie sie ihm nach der Schule entkommen konnte, zumal sie auch eine Bemerkung über ihre Kleidung fürchtete. Sie trug nicht ihre üblichen groben Wollstrümpfe zum Rock, sondern die feinen aus Seide, ihre Schuhe waren blank geputzt und die Haare gewaschen. »Junge Dame«, hatte ihre Mutter beim Frühstück gesagt.

In der Klasse hing eine dumpfe, abgestandene Wärme, obwohl es draußen merklich kühler geworden war. Jette öffnete eines der Fenster. Die uniformierten Schüler standen immer noch beieinander, nun aber in jener Haltung, die man »rührt euch« nannte. Jette war erleichtert, als Doktor Petersen eintrat, sein übliches »Heil Hitler« auf den Lippen. Die Schüler brüllten ihren Gruß und setzten sich, Björn und seine Freunde genauso wie Gregor. Doktor Petersen schloss die Tür, die im nächsten Augenblick wieder geöffnet wurde.

Christian. Zu spät.

Grußlos und ohne irgendjemanden anzusehen, ging er zu seinem Platz. Er hatte es auch diesmal nicht besonders eilig, sondern schritt seelenruhig durch den Klassenraum, sodass alle Welt sah, was er anhatte. Er trug nicht sein Jackett, sondern einen hellen Übergangsmantel, der leicht schäbig wirkte, und hielt dazu einen Regenschirm in der Hand, was nicht weniger britisch aussah als die Karos auf dem Sakko. In aller Ruhe lehnte er seinen Schirm gegen die Wand, zog seinen Mantel aus und hängte ihn an einen Haken. Doktor Petersen stand an seinem Pult, drehte seine Brille durch die Finger und fixierte Christian. Eine Ermahnung stand an, womöglich ein Wutanfall, vielleicht eine Strafe. Björn starrte Christian an, seine Freunde genauso.

Doch Doktor Petersen ignorierte ihn. »Wenn dann endlich alle so weit sind, fahren wir fort. Wo waren wir stehengeblieben?«

Mehrere Arme schnellten in die Höhe. Doktor Petersen rief Elisabeth auf.

»Die Völkerschlacht bei Leipzig.«

Weder lobte noch korrigierte Petersen sie. Die Antwort reichte ihm nicht. Er wartete ein paar Augenblicke, ob von ihr noch ein Zusatz kam. Als das nicht geschah, sagte er selber, was er hatte hören wollen: »Die Völkerschlacht bei Leipzig, ein historischer Sieg Preußens und Deutschlands und selbstverständlich des Ariertums. Welchen Feldherren haben wir sie zu verdanken?«

Die Namen Yorck und Blücher hatte er so oft genannt, dass die Schüler wie im Chor antworteten. Petersen nickte und erwähnte auch die anderen beteiligten Armeen, die Österreicher, Russen und Schweden. Ohne Preußen aber, erklärte er, wäre Napoleon nicht besiegt worden.

Jette hörte nur mit einem Ohr zu. Etwas ging im Klassenraum vor sich, das war deutlich zu spüren, und es hatte mit Christian zu tun. Gregor blickte immer wieder zu ihm, genauso wie Björn von seiner Ecke aus. Nur Christian schien davon nichts mitzubekommen. Er lehnte sich gegen die Stuhllehne, strich sein langes Haar zur Seite, säuberte die Brillengläser, schrieb auch hin und wieder etwas in sein Heft. Seine Bewegungen hatten etwas Provozierendes in ihrer Langsamkeit. Doktor Petersen schenkte ihm keine Beachtung. Wenn er sich meldete, was zweimal vorkam, ignorierte er ihn.

Kaum hatte es geläutet, machte sich Gregor auf den Weg zu Christian. »Ich will dich etwas fragen.« Er zeigte mit dem Daumen Richtung Tür. »Draußen.«

Christian zog die Schulter hoch, als interessiere ihn die Aufforderung nicht weiter. »Von mir aus.«

Nebeneinander gingen sie hinaus, was ein ungewohntes Bild war, weil Christian seine Pausen sonst immer alleine verbrachte. Auch Jette hatte es nicht geschafft, diese seltsame Mauer um ihn zu durchbrechen, über ihre gemeinsame Bahnfahrt und den Nachmittag in Altona hatten sie seitdem kein einziges Wort gesprochen. Sie hatte sich überhaupt nicht wieder mit ihm unterhalten, was sicherlich nicht nur an ihm lag. Wenn sie an ihren Ausflug zurückdachte, stellten sich Freude und Scham gleichzeitig ein, und die Scham kam deshalb, weil sie sich so leicht zu dieser Fahrt hatte überreden lassen, und sie war ein Teil der unsichtbaren Grenze zwischen ihnen. So oder so, sie konnte nicht mit Christian an das gemeinsame Erlebnis anschließen, und das lag nicht nur daran, dass es rund um sie so viele Augen und Ohren gab.

Sie ging den beiden Jungs nach, die auf der Rückseite von Christians Eiche zum Stehen kamen.

»Wir haben eine Jazzplatte zu Hause«, sagte Gregor ohne weitere Einleitung. »Ich habe sie gestern angestellt. Von Count Basie.«

Er sprach den Namen deutsch aus, er klang wie »Kont«. Christian korrigierte ihn und betonte den Namen englisch, »Kaunt«, nicht auftrumpfend, sondern in unaufgeregter Weise. Gregor verbesserte sich schnell. Fast hätte man denken können, er habe sich nur versprochen.

»Ich wollte dich fragen«, sagte er, »ob du Lust hast, sie zu hören.«

»Wo?«

»Bei mir zu Hause.«

Anstelle einer Antwort warf Christian Jette einen Blick zu, und sie verstand, was er wissen wollte. In der Bahn hatte er sie gefragt, ob man ihm trauen könne. Jetzt erbat er eine Bestätigung, vielleicht nur ein leises Kopfnicken. Sie kam nicht dazu, denn plötzlich stand Björn bei ihnen, umringt von seinen Freunden. Wie ein erwachsener Mann presste er seine beiden Daumen in den Koppelgürtel, eine Unteroffiziersgeste, in der eine Drohung lag.

»He, Tanzbubi, ich will von dir wissen, in welcher HJ-Gruppe du bist. Jetzt sofort.«

Christian sah ihn durch seine Brillengläser an, er wirkte erstaunt und machte den Eindruck, als müsse er die Aufforderung des anderen Jungen erst einmal verarbeiten. Seine Reaktion war, wie oft in der Klasse, unaufgeregt, eher nachdenklich. Björn war rot im Gesicht, sein Zorn wuchs mit jedem Moment, den Christian ihn warten ließ. Gewalt lag in der Luft. Fünf uniformierte Schüler standen Christian gegenüber, alle trainiert und bereit, ihre Kräfte einzusetzen. Ob sich Gregor auf Christians Seite schlagen würde, war nicht gewiss, erst recht nicht, ob andere Jungen dazukommen würden. Die meisten waren in einem anderen Abschnitt des Hofes.

Christian verzog den Mund. Nun lag die Andeutung eines Lächelns darauf. »Ich möchte auch vieles wissen und erfahre es nicht.«

Björn rückte näher an ihn heran. »Was zum Beispiel?«, zischte er.

»Zum Beispiel, was dir das Recht gibt, mir solche Fragen zu stellen.«

»Deutschland!«, rief Björn. »Also: welche Gruppe?«

Christian trat einen halben Schritt zurück, er versuchte, den Kreis des rotköpfigen Björn zu verlassen und in den Schutz der Eiche zu gelangen. Dabei pustete er Luft aus, als habe der andere Mundgeruch. Als er antwortete, tat er es in einem Ton, als mache er sich über Björn lustig. »Na, wenn’s um Deutschland geht – ich bin suspendiert.«

»Weshalb?«

Christian schüttelte den Kopf. »Darüber muss ich keine Auskunft geben.«

Björn rückte wieder an ihn heran. Seine Freunde folgten ihm und bildeten einen Halbkreis um ihn. »Oh doch. Das musst du.«

»Nein. Das weiß ich zufällig genau.«

Beide standen so nahe beieinander, dass sie auf den jeweils anderen hätten einschlagen können. Keiner von ihnen rührte sich, Christian wich nicht weiter zurück, Björn griff nicht an. Er hatte seine Daumen immer noch in dem breiten Gürtel eingehakt. Inzwischen hatten sich andere Schüler eingefunden, Mädchen genauso wie Jungen, die einen zweiten Kreis um die Streitenden bildeten. Es war nicht vorherzusagen, wer von ihnen im Falle einer Schlägerei wem helfen würde. Man verdarb es sich nach Möglichkeit nicht mit den HJ-lern, denn die vergaßen nie und konnten einen überfallen, besonders wenn man allein war. Zudem schützte sie ihre Uniform. Wenn ein Lehrer eingriff, bekamen sie nie die Schuld.

 

»Wenn er eine Krankheit hat«, mischte sich Gregor ein, »muss er einem Kameraden darüber nicht Auskunft geben, sondern nur einem Vorgesetzten.«

Es war nicht klar, ob er eine offizielle HJ-Vorschrift zitiert oder sich das gerade ausgedacht hatte.

»Das ist einfach so«, setzte er hinzu.

Björn schaute von Gregor zu Christian und wieder zu Gregor. Sein Mund stand halb offen, er zog die Daumen von seinem Gürtel und ballte die Fäuste. Nicht nur die Umstehenden, auch seine Freunde warteten auf seine Entscheidung. Kämpfen oder nicht kämpfen. Nichts bewegte sich. Es war ein Moment, in dem die Zeit eingefroren schien.

Schließlich sagte Björn: »Ich werde mich erkundigen. Diese Sache ist noch nicht zu Ende.« Mit einer energischen Kopfbewegung zur Seite zog er ab. Seine Freunde folgten augenblicklich. Auch der Kreis der anderen Schüler löste sich auf, wenn auch deutlich langsamer. Hier und da wurden Bemerkungen gemacht oder gelacht.

Jette blieb zurück, Elisabeth mit ihr. Christians Entscheidung stand noch aus, seine Antwort auf Gregors Frage. Gregor wartete sichtlich darauf, und als sich Christian nicht äußerte, sagte er: »Also, was ist?«

»Count Basie. Verlockend. Ja, warum nicht? Wo wohnst du?«

Gregor nannte ihm seine Adresse.

»Und wann?«

»Heute Abend?«

»Einverstanden. Vielleicht bringe ich auch zwei oder drei Platten mit.«

»Gute Idee«, sagte Gregor.

»Ich möchte auch kommen«, rief Elisabeth. »Darf ich?«

»Dann bin ich auch dabei«, sagte Jette.

Noch mehr als am Morgen beschäftigte Jette die Kleiderfrage. Es gab gute Gründe dafür, sich umzuziehen, und stichhaltige dagegen. Der graue Rock, den sie anhatte, war bequem, aber man sah ihm an, dass er abgetragen war, die Falten hielten nicht mehr richtig, die Farbe war ausgeblichen, der Bund ausgeleiert und deshalb zu weit. Sie besaß einen schickeren, er lag in ihrem Schrank. Bliebe sie in dem alten, würde sie sich darin wohlfühlen, käme sich aber ähnlich provinziell vor wie neulich bei Christians Freund in Altona. Wenn sie den neuen anzöge, würden es Elisabeth und Gregor und vielleicht auch Christian merken und sich ihren Teil denken, nämlich, dass sie auffallen wollte. Sie konnte sich nicht entscheiden. Erst als es schon dämmerte und sie sich auf den Weg machen musste, ging es schnell. Sie wusch sich gründlich mit dem Schwamm, kämmte sich, ließ die Seidenstrümpfe an, nahm den guten Rock und eine frische Bluse dazu. Ihr Vater war noch bei der Arbeit, ihre Mutter räumte die Küche auf.

»Oh«, machte sie. »Gehst du aus?«

Jette war auf die Frage vorbereitet, auch wenn sie einen so spitzen Ton nicht erwartet hatte. Sie gehe zu Gregor, sagte sie, der ihr etwas in Physik erklären wolle, das sie nicht verstanden habe. Es war eine halbe Lüge. Sie drehte sich weg, damit ihre Mutter ihr Gesicht nicht sah, falls es rot wurde. Zum Glück hatte sie sich wieder dem Geschirr zugewandt, das sie in den Schrank räumte. »Komm nicht so spät zurück.«

Gleichzeitig mit Elisabeth traf Jette bei Gregor ein. Neben dem Messingschild mit dem Namen »Jacoby« drückten sie auf die Klingel. Während sie warteten, nahm Jette wahr, dass ein süßlicher Duft von Elisabeth ausging, und als sie genauer roch, wurde ihr klar, dass ihre Freundin ein Parfum benutzt hatte. Elisabeth war weiter gegangen als sie selber, sie hatte sich mehr getraut, worüber Jette sich ärgerte. Sie wusste nicht einmal, ob ihre Mutter überhaupt Parfum besaß.

Gregor führte sie ins Wohnzimmer. Jette war schon öfter in diesem Raum gewesen, sie kannte die Holzvertäfelung, die beiden braunen Ledersofas, die in Form eines großen L aneinandergestellt waren, das Bücherregal und auch das Hitler-Porträt an der Wand, das deutlich größer war als das bei ihr zu Hause und in einem verschnörkelten Rahmen hing. Auf dem Esstisch lag eine Platte in Papierhülle. Es war die, von der Gregor am Morgen gesprochen hatte. Ein schwarzer Mann am Klavier war auf dem Foto. Count Basie. Jette erinnerte sich daran, wie Christian den Namen ausgesprochen hatte.

Elisabeth stand neben ihr und schaute das Foto ebenfalls an. Jette stieg wieder der süßliche Duft ihres Parfums in die Nase. Sie hatte sich ebenfalls umgezogen, und doch gab es einen Unterschied: Elisabeth war zusätzlich geschminkt. Auf den Augenlidern war schwarze Farbe, auf den Wangen rote, beides ganz leicht, aber so, dass man es sah. Mit ihren Wimpern hatte sie auch etwas gemacht, sie standen einzeln heraus und fielen auf.

Jette verkniff sich eine Bemerkung, die ihren Ärger nur schlecht kaschiert hätte. Sie kam sich blöd vor, als hätte Elisabeth sie bei einem Wettlauf überholt, bei dem sie selbst im Vorfeld siegesgewiss gewesen war.

»Er wird schon noch kommen«, meinte Gregor. Er meinte Christian.

Unschlüssig standen die drei Jugendlichen im Zimmer, betrachteten abwechselnd die Plattenhülle auf dem Tisch, die sie inzwischen kannten, und wussten nicht recht, was sie tun sollten. Endlich klingelte es, Gregor öffnete und kehrte mit Christian zurück, der sich ebenfalls umgezogen hatte, er trug nun wieder sein kariertes Jackett und ein weißes Oberhemd. Unter dem Arm hatte er ein paar Schallplatten, fünf vielleicht oder sechs, die er auf dem Tisch ablegte.

Gregor staunte. »Wo hast du die alle her?«

»Gerettet, als unser Haus bombardiert wurde.«

»Und wie?«

»Ich hatte sie immer bereitliegen. Wenn wir in den Keller mussten, habe ich sie mitgenommen.«

»Klasse«, rief Gregor.

Christian nahm die Hülle von Gregors Platte in die Hand, ließ die schwarze Scheibe herausrutschen und legte sie auf das Grammofon. Er brauchte nicht zu fragen, wie man es bediente, er wusste es. Count Basie war, wie auf dem Plattenfoto zu sehen, ein Pianist. Neben ihm gab es Bläser und Schlagzeuger, die Instrumente harmonierten, aber gleichzeitig waren sie viel freier als in einem Orchester. Die Musik hatte etwas Schnelles und beinahe Vibrierendes. Jette setzte sich auf eines der Sofas und schlug wie eine Erwachsene die Beine übereinander. Elisabeth hockte sich neben sie, während Gregor das andere Sofa nahm. Als das Lied zu Ende war, hob Christian den Arm des Grammofons, drehte die Platte um und stellte die andere Seite an. Die Instrumente waren noch deutlicher zu hören als auf der ersten Seite. Elisabeth bewegte vorsichtig die Fußspitze im Takt. Gregor hatte den Kopf auf ein Kissen gelegt und die Augen geschlossen. Die Musik schien ihn zu verzücken.

»Sind deine Eltern da?«, fragte Christian ihn.

»Nein.«

»Und kommen auch nicht gleich zurück?«

»Ich glaube nicht. Warum fragst du?«

»Pass auf – hör zu.«

Er legte eine von seinen Platten auf. Bläser spielten, und eine Frauenstimme sang auf Englisch. Aber es war nicht nur Englisch – dazwischen kam eine Zeile, die man verstehen konnte, zumindest ungefähr.

»Was bedeutet: Bei mir bistu shejn?«, fragte Jette.

»Bei mir bist du schön«, sagte Christian und schaute sie und Elisabeth abwechselnd an. »Ich finde dich schön.«

»Welche Sprache ist das? Doch nicht Deutsch«, meinte Elisabeth.

»Das ist Jiddisch.«

Nach diesem Wort herrschte Schweigen. Nun war nicht mehr zu leugnen, dass sie etwas Verbotenes taten, alle wussten es. Es war der Apfel, und sie bissen hinein. Erst die Musik eines schwarzen Mannes und jetzt auch noch Jiddisch. Jette hatte diese Sprache noch nie gehört, sie hatte nicht einmal gewusst, dass es sie gab. Aber hier war sie, zusammen mit Englisch. Bei mir bistu shejn. Offenbar war dieses Jiddisch dem Deutschen so ähnlich, dass man die Wörter und sogar ganze Sätze verstand, vielleicht nicht alle, aber viele. Und wen fand Christian nun shejn? Sie – oder Elisabeth?

»Wahnsinn«, meinte Gregor, als das Lied zu Ende war.

Christian nahm die Platte, ließ sie zurück in ihre Hülle gleiten und legte eine andere auf, wieder eine von denen, die er mitgebracht hatte. »Dann hör dieses. Es heißt In the Mood. Glenn Miller und sein Orchester.«

Sofort setzte das Vorwärtstreiben wieder ein, das Jette in der Wohnung von Erik so sehr aufgefallen war, diesmal auf ruhigere, irgendwie undramatische Art. Lässig, dachte sie. Christian setzte sich neben Gregor auf das zweite Sofa. Sein Kopf nickte im Takt, genauso wie an jenem Nachmittag in Altona. Diese Musik passte unglaublich gut zu ihm. Sie war klar und zugleich rätselhaft, voller unbekannter Melodien. Es war eine Tanzmusik, das spürte Jette in ihren Beinen, die sich bewegen wollten, und im ganzen Körper. Sie stellte sich vor, erwachsen zu sein, diese Musik hören zu dürfen und nach ihr zu tanzen, in einem Lokal mit vielen anderen ausgelassenen Leuten. Es war ein schönes Bild, das da in ihrem Kopf auftauchte.

Elisabeth stand auf, ging die drei Schritte auf das andere Sofa und Christian zu und streckte ihre Hand aus. »Zeig mir doch mal ein paar Tanzschritte dazu.«

Augenblicklich kehrte Jettes Ärger zurück. Sie war ein Hase, Elisabeth aber der Igel, der immer schon da war, wenn sie kam. Sie hoffte, Christian würde sie abweisen. Er wirkte überrascht und rückte seine Brille zurecht, aber dann nickte er, kam ebenfalls hoch, nahm ihre Hand und umfasste ihre Hüfte. »Das ist ganz einfach. Der Grundschritt geht so: zurück – vor – vor.«

Jette biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte vom Erwachsensein nur geträumt, Elisabeth dagegen wartete nicht auf eine ferne Zukunft, in der man alt genug war, um in die Tanzlokale zu gehen. Wie mit Schminke und Parfum war sie auch hier mutiger und geistesgegenwärtiger gewesen, und das Ergebnis war, dass sie dort mit Christian stand, eine Hand in seiner, die andere auf seiner Schulter, und die Schritte lernte, die er ihr beibrachte.

Acht

Es gab damals, nach dem Weltkrieg, weit mehr Arbeitswillige als Beschäftigung, ein ganzes Heer abgemagerter Gestalten, Kriegsheimkehrer fast alle, mit schmutzigen Anzügen und stinkenden Hemden, eingeschränkt durch Verletzungen und Amputationen, und dennoch bereit, alles zu tun, wenn sie nur am Abend nicht mit knurrenden Mägen ins Bett gehen mussten. Morgens hatte man sich vor 6 Uhr am Sammelpunkt auf dem Millerntorplatz einzufinden. Meistens war es kalt und windig. Krell besaß keinen Mantel, sein Wollpullover hatte Löcher, den Hosenbund musste er mit einem Strick an seiner Hüfte festbinden. Wenn ein Lastwagen mit offener Ladefläche vorfuhr oder ein Vorarbeiter vom Hafen heraufkam, wurde er nur selten ausgesucht, fast immer waren es andere, die den Vortritt erhielten, auch Männer, die nicht gerade kräftig aussahen und nicht richtig gehen konnten. Es dauerte eine Zeit lang, bis Krell den Grund verstand. In diesen Wochen konnte er seine Miete nur mit Mühe aufbringen und manchmal auch gar nicht. Er aß noch weniger als in der letzten Kriegsphase, an Bier oder Tabak war nicht zu denken. Das Geheimnis war, die Vorarbeiter zu schmieren. Wenn man nach einem Arbeitstag Lohn bekommen hatte, gab man ihnen etwas davon ab und nannte den eigenen Namen. Sie ließen die Münzen augenblicklich in ihren Taschen verschwinden, merkten sich aber, wer sich gut mit ihnen gestellt hatte. Als er das verstanden hatte, wurde seine wirtschaftliche Lage besser. Nun ging er abends ab und zu in die Kneipe.

Seine Vermieter in der Seilerstraße, ein Ehepaar, das nur Platt sprach, hatte Mitleid, wenn er die Miete nicht zahlen konnte. Im ersten Jahr ließen sie ihn das Dach reparieren. Ihr Haus stammte aus der Kaiserzeit, es hatte ein Spitzdach. Aus seinem Mansardenfenster kletterte er hinaus und schob sich halb liegend höher. Gelegenheiten zum Festhalten gab es nur wenige, den Schornstein und ein paar Griffe. Die Ersatzpfannen hatte er in einem Lederbeutel, der um den Bauch gebunden war, das Bitumen in einem Eimer, den er hinter sich herzog. Er wechselte einzelne Dachpfannen und schmierte die Kanten am Schornsteinblech mit der dickflüssigen schwarzen Farbe ein, damit dort kein Wasser eindrang. Die Angst abzustürzen wurde weniger, mit den Tagen lernte er, sich sicherer auf dem Dach zu bewegen und niemals nach unten zu schauen. Als Frost kam, war er fertig mit der Arbeit. Danach strich er das Treppenhaus und arbeitete dabei so, dass er nur die eine Hälfte des Aufgangs mit Zeitungspapier auslegte und malerte, damit man die andere benutzen konnte. Mehr Fleisch auf die Rippen bekam er nicht. Wenn er sein Hemd vorm Schlafengehen auszog, stachen sie hervor, er fand sich einem Skelett ähnlicher als einem Mann, einem Skelett von einem Meter 90. Die »Große Freiheit« blieb Hohn in seinen Ohren. Was nützte einem die Freiheit, wenn man immerzu damit zu tun hatte, satt zu werden. »Großer Hunger« wäre ein passenderer Straßenname gewesen. Immerhin kam er über die Runden, zumindest bis die Zeit der schnellen Geldentwertung begann. Dann kehrte mit einem Schlag der Mangel zurück, das ewige Magenknurren, denn selbst, wenn er gleich nach Feierabend in ein Geschäft eilte und allen Lohn ausgab, bekam er kaum etwas für sein Geld, gerade mal ein Stück Brot und Margarine, selten ein Stück Butter oder Wurst.

 

In dieser Zeit ließ sein Überlebenswille, der ihn durch die ersten beiden Jahre getragen hatte, nach. Lange Stunden lag er auf seinem Bett unter der Dachschräge, die Hände unter dem Kopf verschränkt, und oft gingen ihm dabei Bilder vom Krieg durch den Kopf. Als er begann, war er 15 gewesen und fand wie alle anderen, die Lage sei eindeutig, das Reich müsse die arroganten Franzosen und Engländer mit aller Macht in die Schranken weisen. Er war Schüler, verfolgte zusammen mit seinen Klassenkameraden die Kriegsberichte und lernte dabei die Namen europäischer Städte und Flüsse kennen. Zwei Jahre später meldeten sich Gleichaltrige aus seiner Umgebung, um das Vaterland zu verteidigen, ganze Klassen, die es kaum abwarten konnten, in die Schlacht zu ziehen, doch in seiner Altonaer Schule standen die Lehrer heimlich den Kommunisten oder der USPD nahe und hielten durch spitze Bemerkungen den Patriotismus ihrer Schüler im Zaum. Bei Krell war es am Ende sein Vater, der sagte: »Hannes, wenn das Vaterland ruft, kann man nicht an der Seite stehen. Das wäre feige.«

Das war kurz vor seinem 17. Geburtstag gewesen. Ein Vierteljahr später begann er seine Grundausbildung in einer Kaserne in der Lüneburger Heide. Mit ihm war sein Schulkamerad August Nowack, der aus einer Soldatenfamilie stammte. Diese zehn Wochen waren in seiner Erinnerung zusammengewachsen zu einer Mischung aus andauerndem Grüßen und Schlamm, durch den sie immerzu robben mussten, aus Bohneneintopf, der ihnen mit einer Kelle abends in die Schüssel geschöpft wurde, und der Quälerei ihres Korporals, der stets eine Reitgerte in der Hand hatte und sie bei kleinsten Fehlern auf die Knie zwang. Zusammengekauert hatten sie ihm die Stiefel zu küssen, während sie um Vergebung baten, und um einen knallenden Strich mit der Gerte kamen sie trotzdem nicht herum. Einzelheiten konnte er auf seinem Mansardenbett in der Seilerstraße nicht mehr unterscheiden, die Bilder waren verschwommen, er hörte nur einen fernen Nachklang der gebrüllten Flüche des Ausbilders.

Der Krieg selbst dagegen war in ihm höchst lebendig. In Belgien regnete es noch öfter als zu Hause, der Himmel war grau, als gäbe es keine anderen Farben, und immerzu hatte man den Knall von Schüssen oder Explosionen im Ohr. Oft sah er vor seinem inneren Auge den Tag, an dem er in Flandern verschüttet worden war. Als die Granatensalve in ihrer Stellung einschlug, war er in der Hocke, er hatte sich gerade gebückt, um neue Munition aufzunehmen. Der Einschlag war so schwer, dass die Stützpfeiler wegbrachen, es knirschte und knackte, instinktiv drehte er den Kopf zur Seite, doch im nächsten Moment rutschten Sand und Erde auf ihn, eine Lawine, die ihn begrub. Er lag auf dem Bauch, lebend und bei Bewusstsein, die Augen geschlossen, den Mund gerade so weit offen, dass er die Luft, die in einer Art Blase unter ihm war, einatmen konnte. Nun kommt der Tod, dachte er. Sein Verstand war hellwach, er zeigte ihm Bilder seiner Mutter, die vor Kurzem an einer Lungenentzündung gestorben war. Es schien ihm, als riefe sie ihn zu sich. Sich zu befreien, war nicht möglich, die Erde über ihm war schwer wie Blei, er konnte weder Arme noch Beine bewegen. Die Zeit verging, er fragte sich, wie lange er warten müsse und ob er an Atemnot sterben würde, an Sauerstoffmangel. Aber plötzlich riss ihn jemand an seiner Uniformjacke in die Höhe. Nowack, dem eine Blutspur über der Stirn lag. Er hatte seinen Helm verloren, ein Splitter hatte ihn am Kopf getroffen, er steckte noch darin, deshalb sah Nowack aus wie ein Einhorn. Seine Haare und ein Auge waren verschmiert.

»So eine Scheiße«, schrie Nowack. »Sieh dir diese Schweinerei an.«

Krell hatte Sand und Erde am ganzen Körper, im Mund, in den Augenwinkeln, in den Stiefeln, selbst im Po. Er spuckte aus und musste sich kratzen und in der Nase bohren. Meterweit war die Grabenwand eingebrochen. Überall waren Schwerverletzte und Tote. Manche lehnten sitzend an einer Wand, die Köpfe auf die Schultern gesunken, als würden sie ein Nickerchen machen, andere lagen ausgestreckt da, ihre Gewehre in der Hand; einige hatten die Augen geschlossen, während neben ihnen welche zum Himmel starrten und zu grinsen schienen. Die Sterbenden riefen nach ihren Müttern, entweder schreiend oder wimmernd, aber immer mit dem gleichen Wort: »Mami, Mami!«

Wie auf Kommando hob plötzlich Geschrei an. Es kam aus verschiedenen Richtungen, drang aber nur wie durch einen Filter in Krells sandige Ohren. Er kam sich vor, als sei er unter Wasser. Unter lauten Rufen kamen Sanitäter herbeigelaufen, ihre Tragen und Rotkreuzkästen in der Hand, sie hielten die Rücken gebeugt und die Köpfe eingezogen. Ein Leutnant brüllte ununterbrochen irgendwelche Befehle und fuchtelte wild mit den Armen. Für Krell sah er aus wie ein Hampelmann, an dessen Schnüren jemand zog, überhaupt war alles Geschehen ein einziges Puppentheater, er selbst saß im Publikum, in der letzten Reihe, unendlich weit weg von der Bühne. Die Worte der Kommandos verstand er nicht, er schob sich erneut einen Finger ins Ohr und drehte ihn, um den Sand herauszukratzen. Aber es wurde nicht besser. Der Leutnant schrie immer weiter, sein Mund war aufgerissen, Speichel lief heraus. Krell hörte nichts als dumpfe Laute. Nowack mit seiner blutigen Stirn hatte sein Gewehr gegriffen und war hinter dem kümmerlichen Rest ihres Grabens in Deckung gegangen. Endlich begriff Krell – der Feind kam. Die Franzosen glaubten, nach den Granatentreffern leichtes Spiel zu haben. Hunderte von ihnen rannten über das Feld auf sie zu. Auch sie machten Krach, sie brüllten. Von ihnen verstand Krell ebenfalls kein Wort. Aber er sah die aufgerissenen Mäuler.

Als Nowack zu schießen anfing, griff sich Krell ein herumliegendes Maschinengewehr mit Stütze und platzierte sich neben seinen Schulfreund und Retter. Er feuerte anders als zuvor, schoss, obwohl er ein Maschinengewehr hatte, nicht schnell und gestreut, sondern präzise. Ihn überkam eine ungekannte Lust zu töten. Er wartete mit dem Abdrücken, bis er sicher war, den Angreifer zu erwischen, und zielte genau, in den Kopf, auf die Augen oder ins Herz. Es jagte ihm Freudenschauer den Rücken herunter, wenn er die Franzosen vor sich zusammenbrechen sah. Mancher stürzte mitten im Lauf und stand nicht wieder auf, andere suchten Deckung hinter ein paar Sträuchern. Aber die Pflanzen waren so mickrig, dass Krells Kugeln durch sie hindurchgingen. Die Blätter rissen auf und stoben davon und würden niemandem mehr Schutz bieten.

Große Teile ihrer Munition waren verschüttet, aber es gab links und rechts neben ihm viele tote Soldaten, die ihre Waffen nicht mehr benötigten. Krell unterbrach sein Schießen nur, um sich ein neues Gewehr zu nehmen. Wie unter seiner Erdlawine verlor er erneut alles Gefühl für die Zeit, empfand weder Hunger noch Durst, spürte keine Erschöpfung, sein Verstand war wach, auch wenn er nichts hören konnte, die Augen waren weit geöffnet, sein Blick fiel auf immer neue Angreifer, die er niederstreckte.

Nowack wurde an diesem Tag ein zweites Mal getroffen, diesmal tödlich. Ohne eine Spur von Entsetzen oder Mitleid nahm Krell auch sein Gewehr, als er ein neues brauchte. Er schoss immer weiter, so lange, bis der Angriff der Franzosen abgewehrt war. Am Ende wurde der Einsturz für ihn ein Glück, abends durfte er mit den restlichen Überlebenden den Graben verlassen. Auf einem Lastwagen fuhr er in die Etappe. Zum ersten Mal seit Wochen badete er in einer Wanne, schlief er wieder in einem Bett, zu Mittag gab es eine warme Mahlzeit, und ein Dach schützte vor dem beschissenen belgischen Regen. Er besuchte seine Kameraden in einem Lazarett, in dem es nach Schweiß, Urin und Desinfektionsmittel roch. Den meisten wurden Arme oder Beine amputiert, sie waren verzweifelt und fragten ihn, was nun werden solle, wie sie je eine Arbeit finden würden. Seine Antwort, dass sie doch froh sein könnten, noch am Leben zu sein, klang schal. Er ging nicht wieder hin. Da er nicht verletzt war, durfte er nur ein paar Tage bleiben, gerade solange, bis er wieder hören konnte, dann fuhr er erneut hinaus und stieg in den nächsten Graben. Dort glaubte er, er würde den Verstand verlieren, er sabbelte wie aufgezogen, konnte sich weder setzen noch hinlegen, sondern schritt immerzu auf und ab, und es juckte ihn am ganzen Körper. Das sei bloß der Frontkoller, meinte sein Hauptmann, den hätten viele. Er versorgte ihn mit einer Extraration Schnaps.

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