Letzter Tanz auf Sankt Pauli

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Er bediente das Grammofon. Kurz darauf erklangen die ersten Takte. Die Musik war schnell, sie hatte etwas Treibendes, als eile sie voran, und die Zuhörer mussten folgen. Zwischendurch hatten einzelne Instrumente Solopassagen, vor allem die Trompete, aber auch die Trommeln. Es war klar, dass es sich um Jazz handelte und sie etwas Verbotenes taten. Jette spürte ihre Angst. Wenn jemand hereinkäme, wäre sie verloren. Gleichzeitig faszinierte sie, was sie taten.

»Louis Armstrong?«, fragte Christian.

»Satchmo«, erwiderte Erik. »Volltreffer.«

Die drei Jungs lehnten sich im Sofa zurück, schlugen ihre Beine übereinander und wippten mit der Fußspitze im Takt. Einer wie der andere schnippte mit dem Daumen über zwei Finger, wobei sie ein wenig wie eine Ballettgruppe aussahen. Jette entspannte sich etwas. Dann achtete sie wieder auf die Musik.

Es war ein einziges Spiel. Ein Wechsel zwischen zart vorgetragenen Takten und der vollen Bläserkapelle. Gesang von einer tiefen Männerstimme, die einem durch und durch ging. Sie hatten keinen Englischunterricht mehr, der Lehrer war nach seiner Einberufung nicht ersetzt worden, doch dass hier etwas Freches gesungen wurde – Kiss me, hold me in your arms – das begriff sie auch so.

Das nächste Lied wurde von einer Geige dominiert, und auch die klang vollkommen anders als alles, was sie je gehört hatte, sie war wild und ungezügelt. Ihr kam der Ausdruck »Fiedel« in den Sinn. Christian hatte die Augen geschlossen, sein Kopf bewegte sich im Takt. Er öffnete sie kurz und schaute grinsend zu ihr, als der Geiger zum Ende kam. Als Nächstes folgte ein Duett. Alles verstand sie nicht, aber dass die Frau den Mann »Darling« nannte und irgendwie herausforderte, begriff sie. Und er spielte mit. Sie konnte die beiden regelrecht vor sich sehen.

»Und du?«, fragte Erik sie. »Was hörst du für Musik?«

Jette wurde rot. Sie hatten zwar ein Grammofon, aber nur drei Schallplatten, deshalb lief meistens der blöde Volksempfänger, den ihr Vater vor Jahren angeschafft hatte. Ihre Mutter sang manchmal mit den Mädchen, daher kannte sie deutsche Volkslieder, aber nichts, was sie hier hätte anführen können.

»Nur Märsche?«, setzte Erik hinzu. Seine Stimme klang rau.

Jette fühlte sich bloßgestellt. Märsche gefielen den Linientreuen. Sie kam sich blöd vor, weil sie weder Cole Porter noch Louis Armstrong kannte, überhaupt keinen Namen, den sie hätte einwerfen können.

»Lass sie«, mischte sich Christian ein. »Jette ist in Ordnung.«

Sie hätte sich gerne bei ihm bedankt.

»Na, wenn du das sagst«, entgegnete Erik spitz.

»Kinder«, mahnte Walter und streckte den Finger in die Luft. Er wollte zuhören. Auch der Rest der Platte war unglaublich, Jette war, als schaute sie in eine neue Welt. Sie würde niemandem je davon erzählen können, ihrer Mutter nicht, ihrer kleinen Schwester sowieso nicht und auch keinem ihrer Freunde in der Schule. Insgeheim wünschte sie sich mehr von dem Neuen, aber auch ihre Angst war wieder da. Sie starrte zur Zimmertür und rechnete damit, dass sie jeden Moment aufgestoßen wurde.

Sie hörten ein Trompetenstück. Immer wieder steigerte sich das Spiel, es war wie die Ankündigung von etwas Großem, aber diese Ankündigung wurde jedes Mal wieder enttäuscht. Bis der volle Klang endlich durchbrach, war sie gespannt, und als er dann da war, hätte sie lachen können. Selbstverständlich hielt sie sich in der fremden Umgebung zurück.

Im nächsten Moment klopfte es. Sie waren ertappt! Jette wollte aufspringen.

Das Klopfen kam nicht von der Zimmertür, sondern von weiter weg, vielleicht vom Wohnungseingang.

Erik rollte mit den Augen, Walter nannte einen Namen, Parteigenosse Schulz, er zog ihn in die Länge, während er gleichzeitig die Zunge herausstreckte, und alle außer Jette wussten Bescheid. Sie weihten sie ein. Ein Nachbar, erklärte Erik, während er das Grammofon ausstellte, ein Aufpasser und Schießhund, der sein Ohr an die Wand hält und mit Meldung droht, sobald er Jazz hört. Dabei sei die Musik doch ganz leise gewesen. Mit der letzten Bemerkung stimmte sie nicht überein, sie hatte sie ziemlich laut gefunden. Aber das sagte sie nicht.

Christian stand auf. »Jette kann sowieso nicht so lange bleiben.« Er schaute sie an. »Wollen wir gehen?«

»Ja.«

Auf dem Rückweg zum Altonaer Bahnhof schwirrte ihr die Musik im Kopf umher. Das Geigenstück hatte es ihr besonders angetan, aber auch die tiefe Männerstimme – Kiss me, hold me in your arms. Das war alles unglaublich. Ein Pferdefuhrwerk rumpelte über das Kopfsteinpflaster, es regnete leicht. Sie streckte ihre Hand aus, auf die ein paar Tropfen fielen. Das war alles echt. Und Christian ging neben ihr.

In der S-Bahn waren die Bänke besetzt. Sie standen in der Nähe der Tür, die mit einem Haken verschlossen gehalten wurde. Sie fragte Christian leise, was es mit dieser Musik auf sich habe. Wo sie herkam.

»Amerika«, erwiderte er. Er flüsterte ihr das Wort beinahe ins Ohr. »Swing«, sagte er und: »Jazz.« Sie wollte wissen, wie Erik an die Platten gekommen sei.

Bevor er antwortete, schaute er durchs Abteil. Es war natürlich nicht möglich, einen Gestapomann oder einen Spitzel zu erkennen, trotzdem musterte Christian die Leute gründlich.

»Man kann sie kaufen«, sagte er schließlich halblaut, »wenn man die richtigen Leute kennt. Sie werden gehandelt. Zumindest früher ging das, bevor der Krieg angefangen hat. Heute werden sie unter denen gehandelt, die sie besitzen. Manchmal verkauft, manchmal getauscht.«

»Und sie kommen aus dem Ausland?«

»Klar.«

»Wahnsinn«, sagte Jette.

Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, sie hätte ihre Naivität nicht so deutlich gezeigt. Nach dem Besuch bei Erik und der Musik war es das zweite Mal an diesem Nachmittag, dass er sie einen Blick in eine unbekannte Welt erhaschen ließ. Es gab diese Platten, auch hier bei ihnen, im Deutschen Reich, und es gab Leute, die sie verkauften, und welche, die sie hörten. Ihr kam Doktor Petersen in den Sinn, der kein Lotterleben dulden wollte. In Wahrheit hatte der alte Mann nicht die geringste Vorstellung davon, was sein Schüler und dessen Freunde trieben, und hätte er es erfahren, hätte er mit seinem Gehstock wild um sich geschlagen und Wörter wie »Urwaldmusik« und »Negerjazz« durch den Klassenraum geschrien.

Die Wahrheit allerdings war, dass sie und ihre Freunde auch keine Ahnung hatten. Dass die Bahn nach Rissen von allen Leuten »Vorortbahn« genannt wurde, passte ziemlich genau. Sie lebten in der Provinz, und dorthin kam einfach nichts, was modern war, es sei denn, jemand wie Christian oder ihr Kunstlehrer Jessen wurde durch einen Zufall dorthin verschlagen. Aber dann blieben sie fremd in ihrer neuen Umgebung.

Sie hätte Christian gerne gefragt, ob seine Freunde auch nicht zur HJ gingen. Im Abteil war das nicht möglich. Sie sprachen auch nicht weiter über die Musik, sondern über unverfängliche Dinge, und auch das so leise wie alle anderen.

Als sie in Rissen ankamen und sich vorm Bahnhof die Hand reichten, schlug sich Christian mit der flachen Hand an die Stirn: »Jetzt haben wir deinen Einkauf vergessen!«

Sie spürte, wie ihr zum zweiten Mal an diesem Nachmittag die Röte ins Gesicht schoss. Ganz am Ende war ihre Lüge doch noch aufgeflogen. »Äh …«, entfuhr es ihr. Sie riss sich zusammen. »Das mache ich hier in der Gegend.«

»Soll ich mitkommen?«

Sie schüttelte den Kopf, drehte sich um und eilte davon. Sofort danach pochte das Gefühl, einen verkorksten Abschied hingelegt zu haben, in ihr. Weder hatte sie sich bedankt noch sonst irgendwie gezeigt, wie beeindruckt sie war. Sowieso war es fraglich, wie sie in der Schule, vor den Augen und Ohren der anderen, an diesen Nachmittag anknüpfen sollten. Es gab keine Worte dafür. Sie zumindest hatte keine.

Als sie um die Ecke bog, wurde sie langsamer und ließ die Sorgen fortziehen. An ihre Stelle trat die Musik, die Melodien und der Rhythmus, die in ihren Kopf zurückkehrten. Sie wünschte sich, sie würde sie nie vergessen, selbst wenn sie niemandem davon je erzählen könnte und auch wenn sie in ihrem ganzen Leben keinen Swing mehr hören würde. Dieser Nachmittag war außergewöhnlich gewesen. Sie ging besser nicht davon aus, dass er sich wiederholen würde.

Sechs

Kriminalrat Tessow hatte sein Büro, mit Hakenkreuzfahne und übergroßem gerahmtem Foto von Reichsinnenminister Frick, im zweiten Stock des Polizeigebäudes an der Stadthausbrücke. Weiter unten saß die Gestapo, die außerdem im Keller Zellen eingerichtet hatte. Neben Tessow residierten die leitenden Beamten der anderen Kripo-Abteilungen, alle mit Besprechungstischen, Porzellanaschenbechern und großen Fenstern zur Straße. Im obersten Stockwerk, wo die Kommissare saßen, ließ sich der Kriminalrat praktisch nie sehen. Wollte er einen seiner Untergebenen außerhalb der morgendlichen Lage sprechen, ließ er ihn zu sich rufen. Gerade in letzter Zeit, als mehrere der Männer Einberufungsbescheide erhalten hatten, war das öfter passiert. Kriminalrat Tessow besaß genügend Respekt vor seinen Mitarbeitern, um einen Kommissar, bevor er sich für dessen Verbleib im Dienst einsetzte, zu fragen, ob er das überhaupt wollte. Im Falle einer Zustimmung schrieb er einen Brief an das Wehrmachtskommando, legte dar, warum ausgerechnet auf diesen Beamten nicht verzichtet werden konnte, bat um Rückstellung und unterzeichnete mit Deutschem Gruß. In der Regel wurden diese Bitten abschlägig beschieden. Die Kollegen aber sahen das Bemühen ihres Vorgesetzten und empfanden Dankbarkeit. In der Grundausbildung taten sie sich dann hervor, weil sie bereits schießen konnten. Nach einigen Wochen wurden sie verlegt, seit Beginn des Russlandfeldzuges in der Regel an die Ostfront.

 

Als Kriminalrat Tessow nun die Tür zu ihrem Flur öffnete und eintrat, blickten die Kommissare erstaunt auf. Er war ein Herr von 60 Jahren mit länglichem Habichtsgesicht und Nickelbrille, sein dünnes weißes Haar war streng nach hinten gekämmt. Trotz der spätsommerlichen Wärme trug er einen Dreiteiler mit einfarbiger Krawatte. Sein Parteiabzeichen steckte am Revers, über der Weste hing seine goldene Uhrenkette. Hannes Krell fragte sich, was dieser Besuch wohl zu bedeuten hatte, und ging davon aus, dass er eine schlechte Neuigkeiten verhieß, also weitere Einberufungen. Krells Nacken spannte sich an. Er musste an Wiebke denken und stellte sich vor, wie sie eine solche Nachricht aufnehmen würde. Auch die Kollegen schienen nichts Gutes zu erwarten. Sie gaben sich besonders geschäftig, taten so, als durchforsteten sie Akten auf der Suche nach einem übersehenen Hinweis oder als läsen sie konzentriert. Zwei von ihnen zündeten sich beinahe gleichzeitig eine Zigarette an, die Geräusche der Rädchen am Feuerzeug, die sich schnell über die Feuersteine drehten, gingen ineinander über. Kriminalrat Tessow begann eine Runde durch die Abteilung. Er blieb bei Hagemüller stehen, stellte mit vernehmlicher Stimme zwei Fragen zu Fortschritten beim laufenden Fall des Kollegen, wartete die Antwort ab, nickte befriedigt, sagte ein aufmunterndes Wort und zog weiter. Kam zu Idstein, wiederholte die Prozedur. Grüßte den Assistenten Schubert, der aufstand und den rechten Arm hochriss, hielt vor Krell und wollte wissen, wie es bei ihm voranging.

Krell wiederholte, was er bereits am Morgen in der Lagebesprechung gesagt hatte, dass man im Falle Limba nach jetzigem Stand von einem Mord auszugehen habe. Die Ergebnisse der Gerichtsmedizin lägen allerdings immer noch nicht vor.

Kriminalrat Tessow stand vor ihm und schien nachzudenken. Im Saal herrschte Stille. Tessow stützte die Fingerkuppen auf Krells Schreibtisch und beugte sich vor. »Angesichts der Personalsituation«, erklärte er, »sind wir gezwungen, uns auf die wichtigen Fälle zu beschränken. Das gilt ab sofort. Ich hoffe, Kommissar Krell, Sie haben mich verstanden.«

»Die wichtigen Fälle«, wiederholte Krell. »Selbstverständlich, Herr Kriminalrat.«

Tessow trat zwei Schritte zurück, sodass alle ihn sehen konnten, und hielt wie ein alter Soldat die Hände an die Hosennaht: »Meine Herren, ich wünsche allseits einen erfolgreichen Tag.« Er schlug die Hacken zusammen, drehte sich um und verschwand wieder.

Krell sah ihm nach. Nach diesem Auftritt hatte er mehr Fragen als Antworten. Er schaute zu Schubert hinüber, der seinen Blick aber nicht erwiderte. In der Mittagspause fragte er die Kollegen, wie sie Tessows Anweisung verstanden hatte, musste aber feststellen, dass weder Hagemüller noch Idstein oder ein anderer die Worte des Kriminalrates überhaupt mitbekommen hatten. Tessow hatte zwar etwas leiser gesprochen, geflüstert hatte er aber keineswegs.

Krell wiederholte seine Frage an die Kollegen: »Sie haben das wirklich nicht vernommen, meine Herren? Die wichtigen Fälle, das hat er eindeutig gesagt.«

Die Kollegen blieben bei ihrer Antwort und schauten ihn an, als redete er wirres Zeug oder hätte Gespenster gesehen. Krell wechselte das Thema. Er zweifelte dennoch nicht an sich, er hatte die Worte des Kriminalrates eindeutig gehört. Aber warum nur er? Schubert war nicht da. Er würde ihn fragen, fand aber, dass das Zeit hatte. Es war Sonnabend, ein angenehmer Nachmittag mit klarem Himmel, ein paar kräftig weißen Wolken darauf und leichtem Wind. Milde Luft kam durch das offene Fenster. Ob der Fall des toten Limba in Tessows Sinne wichtig war, konnte er einschätzen, aber er war sicher nicht so bedeutend, dass Krell dafür auf einen pünktlichen Feierabend verzichtet hätte. Wenn er es recht bedachte, hatte Kriminalrat Tessow ihm auf seine etwas umständliche Art wohl genau das mitteilen wollen, dass er besser keine weiteren Überstunden anhäufte. Im Falle einer Einberufung würden sie eh ersatzlos verfallen. Man durfte es gemächlich angehen, solange das noch möglich war.

Am Sonntag traf Krell seinen Freund Bernd Euler, der am Heiligengeistfeld bereits auf ihn wartete. Männer in abgetragenen Anzügen, mit fleckigen Hüten oder ausgeblichenen Elbseglermützen zogen in Richtung Stadioneingang an ihnen vorbei. Euler und er kamen, wann immer es ihnen möglich war. Der Fußball hatte sich in den acht NS-Jahren nur wenig verändert. Es gab keine Juden mehr, und mancher Spieler war eingezogen und durch einen ersetzt worden, der aus der eigenen Jugendmannschaft stammte. Das gesamte Sankt Pauli-Mittelfeld bestand inzwischen aus Halbwüchsigen mit rosigen Gesichtern, ebenso der Torwart. Aber der Ball lief nach wie vor.

Krell schüttelte Eulers leicht verschwitzte Hand. Euler hatte ein rundes Gesicht und einen Bauch, sein Atmen war, vor allem, wenn er sich anstrengte, eher ein Schnaufen. Innerlich pflegte Krell ihn seinen »dicken Freund« zu nennen. Euler gehörte zu der Sorte Mann, die sich mit dem Älterwerden nicht veränderten, sein Gesicht blieb rund und faltenlos, die Haare behielten ihre blonde Farbe, die Augen strahlten.

Sie kannten einander, seit sie im Jahr 1927 gemeinsam an einer Serie von Raubmorden in Blankenese und Nienstedten gearbeitet hatten. Nach den ersten beiden Einbrüchen, einer davon mit einem Todesopfer, war eine Ermittlungseinheit eingerichtet worden, der Kollegen vom Raub und vom Mord gleichermaßen angehörten. Zu Euler hatte er vom ersten Moment an einen Draht gehabt. In der Ermittlung allerdings waren sie nicht vorangekommen. Die Täter waren kaltblütig und machten keine Fehler, die Angst wuchs, angefeuert durch die Hamburger Zeitungen, die von einem »Phantomräuber« sprachen, von Geistern, die nie jemand zu sehen bekam. Selbstverständlich stimmte das nicht, irgendwann gab es immer einen Zeugen, in diesem Fall einen Nachbarn mit Schlafstörungen, der aus dem Fenster schaute, die Einbrecher sah und den Notruf wählte. Vier Tote hatte es bis dahin gegeben, darunter zwei Frauen, und eine Serie von elf Einbrüchen. Von den Tätern starb einer auf der Flucht, als ihr Auto frontal mit einem Peterwagen zusammenstieß. Die anderen beiden wanderten ins Zuchthaus.

Es war die Zeit, als Krells zweite Tochter, Mareike, auf die Welt kam. Abends beim Bier fragte er Euler, ob er ihr Taufpate werden wolle. Euler fühlte sich geehrt und sagte zu, und ihre Verbindung erhielt auf diese Weise ihre Stetigkeit.

Sankt Pauli spielte gegen Kiel – kein Renner, aber doch eine Begegnung, die einige Spannung versprach. Euler und er suchten sich stets einen Stehplatz an der Gegengeraden. Der Weg dorthin war zwar etwas weiter, aber er lohnte sich, denn man hatte einen guten Blick aufs Spielfeld. Es war wichtig, rechtzeitig zu kommen, damit nicht zu viele Zuschauer vor einem standen. Den langen Krell störte das nicht, aber Euler war deutlich kleiner, und er hasste es, sich recken zu müssen, um etwas zu erkennen.

Rund um sie füllten sich die Plätze. Ein Westwind wehte, er kam direkt von der See, nicht stark, aber doch so, dass die Luft frisch und sauber schien. Es war immer noch sonnig, nur morgens und abends spürte man die Frische des nahenden Herbstes. Im Radio kamen Erfolgsmeldungen der Wehrmacht aus Russland. Der Vormarsch ging zügig voran. Doch der Winter nahte.

Während sie auf den Anpfiff warteten, erzählte Euler von einer neuen Masche der Einbrecher, die kamen, wenn es Alarm gegeben hatte und die Bewohner im Luftschutzkeller waren. Eine dieser Schlaumeierbanden hatten sie hochgenommen, die drei Beteiligten hatten sie bereits in ihr Hehlerlager geführt. Nun saßen sie in U-Haft, aber es gab andere mit der gleichen Methode.

»Keine schönen Aussichten«, bemerkte Krell. »Entweder fällt eine Bombe und deine Sachen sind verbrannt, wenn du zurückkommst, oder jemand hat die Wohnung ausgeraubt.«

»Wir tun, was wir können.«

»Ich weiß. So war das nicht gemeint.«

Es wurde enger um sie, die Fußballer von Sankt Pauli hatten treue Anhänger. Die beiden Polizisten unterhielten sich leiser miteinander, sie wollten nicht, dass Umstehende sie verstanden, allein schon wegen möglicher Nachahmereffekte. Außerdem war die Polizei in dieser Gegend nicht besonders gut gelitten.

»Und bei dir?«, fragte Euler.

Das war die Frage, mit der Krell gerechnet und die er auch gefürchtet hatte. Er war nicht sicher, ob er Euler einweihen sollte oder nicht. Für beides gab es gute Gründe. Auf der einen Seite gefiel es ihm nicht, dem Freund zu verschweigen, was ihn seit gestern beschäftigte, auf der anderen mochte er ihn nicht belästigen. Jeden Tag gab es in ihrem Beruf Widrigkeiten, nicht nur durch den Krieg, sondern durch die gesamte Neuorientierung seit 1933. Krell wollte nicht, dass Euler, wie es seine Art war, eine Lösung suchte, die man womöglich gar nicht fand.

In der Hamburger Polizei gab es niemanden, der gegen die nationale Erhebung war, zumindest zeigte es keiner. Die gesamte Mordkommission war gleich nach der Machtergreifung per Sammelantrag in die NSDAP eingetreten, lange bevor das neue Beamtengesetz herausgekommen war. Sie alle hatten Stellung beziehen, hatten zeigen wollen, dass sie zum neuen Deutschland gehörten und die Veränderungen befürworteten. So, wie es vorher war, hatte es nicht bleiben können, auch nach Krells Ansicht nicht. Abertausende von Schauerleuten und Werftarbeitern waren arbeitslos gewesen, das Elend allerorten ließ sich mit Händen greifen. Mit der Hitler-Regierung wurde es bald besser, es gab neue Arbeit im Hafen. Als Beamte hatten sie damals ihre Ariernachweise zusammengestellt, für sich selbst, die Ehefrauen, Eltern und Großeltern. In der Mordkommission hatte es keine Juden gegeben, in anderen Dezernaten aber verloren sie ihre Stellung. Was die Kollegen befremdete, war, dass auch diejenigen entlassen wurden, die nur einen einzigen jüdischen Ahnen hatten. Wer mit einer Jüdin verheiratet war, wurde zur Scheidung aufgefordert oder verlor ebenfalls seine Arbeit. Diese Dinge rissen auf der einen Seite Lücken in den Dienstplan, und auf der anderen standen Schicksale, Familien hingen an all dem, die nun sehen mussten, wie sie über die Runden kamen.

»Gibt’s nichts Neues bei euch?«, wiederholte Euler. »Ermittelt ihr nicht?«

»Doch, sicher.«

Die Spieler und der Schiedsrichter liefen bereits ein. Das Publikum klatschte. Während der Partie konnte man schlecht reden, aber noch machten sich die Fußballer warm, deshalb hieß es für Krell, jetzt zu reden oder mindestens bis zur Halbzeit zu schweigen. Er entschied sich für Ersteres und erzählte in Kurzform vom Fall Limba und vor allem von dem seltsamen Satz, den Kriminalrat Tessow gesprochen hatte und der ihm seit gestern im Kopf umherschwirrte.

Euler legte die Stirn in Falten. »Die wichtigen Fälle – was soll das heißen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Hast du nachgefragt?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Dazu war keine Gelegenheit. Er ist gleich wieder gegangen.«

Euler drehte den Kopf und schaute Richtung Spielfeld. Die Fußballer liefen immer noch übers Feld, dehnten die Muskeln oder spielten sich den Ball zu. Der Schiedsrichter ging Richtung Mittelkreis. Er würde gleich anpfeifen.

»Ein toter Zuhälter ist kein wichtiger Fall?«, fragte Euler.

»Er war kein Zuhälter. Davon abgesehen weiß ich es nicht. So deutlich hat Tessow das nicht gesagt.«

»Ab wie viel Einkommen bist du denn ein wichtiger Fall?«

»Hör auf«, wehrte sich Krell. »Du verwechselst etwas. Die Anweisung kam nicht von mir. Ich habe sie bekommen.«

»Verzeih«, erwiderte Euler. »Was treibt den Kriminalrat?«

»Ich denke, es geht darum, dass mittlerweile vier von unseren Leuten bei der Wehrmacht sind.«

»Mmmh«, machte Euler.

Während die Mannschaften Aufstellung nahmen, wurde es lauter im Stadionrund. Man hörte vereinzelte Rufe, die den Spielern galten: »Reißt euch am Riemen, Jungs!« oder »Lasst euch nicht wieder überlaufen, sonst stelle ich meinen Opa auf!« oder auch, ein wenig unpassend »Ein deutscher Junge weint nicht!«. Andere lachten oder stimmten zu. Krell nahm wahr, wie alle Augenpaare aufs Feld gerichtet waren. Einige Zuschauer hatten ihre Hüte abgenommen und hielten sie in der Hand, bereit, sie gleich beim ersten Tor in die Luft zu werfen. Die Kieler hatten Anstoß, der Schiedsrichter pfiff an. Im Gegenzug gab es gleich eine Chance für Sankt Pauli, ein mächtiger Schuss aufs Tor. Das Publikum ging mit und feuerte seine Mannschaft an. Nur Hannes Krell war nicht recht bei der Sache.

In den acht Jahren seit 1933 hatte sich viel verändert. Krell hatte zunehmend Zweifel und konnte nichts dagegen tun. Im Radio kamen immer nur Siegesmeldungen, Zeitungen las er schon lange nicht mehr, auch den Völkischen Beobachter nicht, den sie nur deshalb bezogen, weil es Nachfragen vom Blockwart oder von Nachbarn, die sich allzu gern einmischten, verhinderte. Sie nutzten das Papier, um Feuer im Herd anzuzünden. Unter der Hand hörte man von Grausamkeiten der SS in Polen, Griechenland und auf dem Balkan, und die vielen Juden, die abgeholt worden waren, wurden offenbar in riesigen Lagern festgehalten. Ihre Lebensbedingungen konnte man sich unschwer ausmalen. Trotzdem war Krell nicht bereit, den Gedanken zuzulassen, dass alles falsch gewesen war, was er vor wenigen Jahren noch richtig gefunden hatte. Und womöglich stimmte es ja auch nicht, vielleicht waren das nur böse Gerüchte, letztlich würde man es erst in der Zukunft entscheiden können. Inzwischen trieb er in einem Gewässer mit unterschiedlichen Strömungen und wusste nicht mehr, was er glauben sollte. In den Momenten, in denen er sich das eingestand, kam er sich verloren vor.

 

Wiebke war in dieser Hinsicht viel eindeutiger. Sie hielt es mit ihrem Vater, der schon kurz nach Kriegsbeginn, als er sich mit seinem Schwiegersohn nach einem sonntäglichen Kaffeetrinken eine Zigarre angezündet hatte, eine Weltkarte aus der Schublade gezogen und auf die Länder gezeigt hatte, mit denen Deutschland im Krieg war. Sein Fazit war klar – das konnte nicht gut gehen, die Nazis waren verrückt. Die Erinnerung war für Hannes Krell jederzeit abrufbar, als Vater Kraus die Nickelbrille abnahm, an seiner Zigarre zog und erklärte: »Wenn sich das Reich mit der Sowjetunion anlegt, oder es den Engländern gelingt, die USA in den Krieg zu ziehen, dann ist es mit dem Spuk bald vorbei.« Der alte Mann schloss die Augen. Der Rauch der Zigarre stieg zwischen seinen Fingern auf. »Bis dahin werden viele sterben.«

Wiebke teilte die Meinung ihres Vaters und fand, sie müssten sehen, dass sie selbst durchkämen, zumal sie die Sorge um ihre kränkliche Tochter Mareike hatten. Nicht auffallen, nicht anecken, genug zu essen im Haus haben, einfach überleben – das war ihre Devise. In Krell sträubte sich alles gegen diese Haltung. Ohne echte Überzeugungen war es doch kein Leben, und er war Deutscher, da musste man zu seinem Land stehen.

Als der Schiedsrichter zur Pause pfiff, hatte er kaum etwas vom Spiel mitbekommen. Immerhin wusste er, dass Kiel mit zwei zu eins führte, aber auch nur, weil es auf der Anzeigetafel stand.

»Ich verstehe noch nicht«, sagt Euler, »wie ihr unterscheiden sollt, was ein wichtiger Fall ist und was nicht. Vielleicht kommt das bald bei uns auch, wer weiß? Du wirst also zu einem Mord gerufen – und dann? Nimmst du den Tatort auf? Rufst du die Technik? Sichert ihr Spuren?«

»Das ist unsere Aufgabe.«

»Bis der Herr Kriminalrat sagt – unwichtig, mach was anderes? Oder wie?«

Krell zog die Schultern hoch. Für ihn war die entscheidende Frage, ob es sich bei Tessows Satz um eine Dienstanweisung gehandelt hatte oder ob es eher um das Ermessen der Kommissare ging, um ihren Arbeitsaufwand im Angesicht der reduzierten Personalstärke. Derzeit hatten Schubert und er keinen anderen Fall.

»Ich werde ganz normal weitermachen.«

»Das wird wohl am besten sein«, erwiderte Euler. »Man sollte nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen, auch nicht, wenn es vom Kriminalrat kommt.«

Sie schauten der zweiten Halbzeit zu. Das Spiel endete zwei zu zwei, die Zuschauer waren zufrieden. Krell ging mit Euler am Millerntor in eine Kneipe voller Sankt Pauli-Anhänger, wo sie kaum einen Tisch fanden. Sie tranken jeder zwei Biere, dann fuhr er nach Hause, in sein »Dreimädelheim«, wie Euler zu sagen pflegte. Wiebke hatte Abendessen für ihn beiseitegestellt. Mareike, die eine böse Erkältung hatte, schlief bereits. Als er nach ihr sah, lag sie zusammengerollt in ihrem Bett. Er legte seine Finger auf ihre Stirn, Fieber hatte sie nicht mehr. Jette las in ihrem Zimmer. Er begrüßte sie, dann ging er zu seiner Frau zurück. Er erzählte vom Spiel und von Euler, sparte aber sein Rätselraten über Tessows Ausspruch aus. Das fiel nicht weiter auf, denn er redete zu Hause fast nie über seine Fälle. Es galt eine gewisse Pflicht zur Verschwiegenheit, und er wollte auch nicht, dass sich Wiebke aufregte. Er fragte, wie es den Mädchen ging. Ob sein Eindruck stimmte, dass Mareike das Schlimmste hinter sich hatte.