Letzter Tanz auf Sankt Pauli

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Vier

Schubert war mit jener Nachricht zum vereinbarten Treffpunkt gekommen, die zu erwarten gewesen war – keiner der Nachbarn hatte etwas gehört oder gesehen. In der Brauerei wurde nachts nicht gearbeitet, und die Anwohner hatten in ihren verdunkelten Wohnungen geschlafen. Die beiden Kommissare waren auf dem Weg zum Hamburger Berg. Krell betrachtete die Straßen mit Schuberts Augen. Was mochte der arme Kerl aus der holsteinischen Provinz für einen Eindruck haben? Die wenigen Hakenkreuzfahnen, die es gab, hingen schlaff an den Masten, sie waren schmutzig, eine sogar eingerissen. Von den Schupos der Davidwache abgesehen, trug kein Mensch auf dem Kiez Uniform. Es gab weder Hitlerbilder in den Schaufenstern noch Schmierereien gegen Juden. Krell war sich nicht sicher, wo Schubert politisch stand, eins aber war klar: Dieses Sankt Pauli musste einen Mann, der nicht von hier kam, befremden. Der Stadtteil vermittelte den Eindruck, als gehörte er nicht zum Deutschen Reich, eine Exklave, freizügig und frech wie eh und je, mit Striptease und Prostitution, zudem heimlich dem Kommunismus zugeneigt. Die nationale Erhebung war an diesem Viertel vorbeigegangen. Auch auf Krell wirkte der Kiez, zumindest wenn er Schuberts Blick einnahm, seltsam, und zwar in doppeltem Sinne, denn er spottete nicht nur all dem, wofür das neue Deutschland stand, sondern die Stadtverwaltung schreckte gleichzeitig davor zurück durchzugreifen. Für das Amüsement der Bevölkerung war sie bereit, ein Auge oder gleich beide zuzudrücken.

Altona war schon immer widerständig gewesen, es war kein Zufall, dass gleich hinter der Grenze, wo Hamburg früher endete, die Straße auf Altonaer Seite »Große Freiheit« hieß. Krells Vater hatte diesen Unabhängigkeitsgeist aus tiefster Seele verabscheut, für den Alten war das renitent und unpreußisch gewesen, und er hatte größten Wert darauf gelegt, dass er aus Bahrenfeld stammte, einem zu seiner Kindheit noch eigenständigen Dorf, nur zufällig dem widerborstigen Sankt Pauli benachbart. Krell hingegen war hier nach den beiden Jahren in den Schützengräben wieder ein Mensch geworden, und das vergaß er nicht. Als Polizist hatte er nun dafür zu sorgen, dass Gesetzesübertretungen geahndet wurden. Welche Meinungen die Bevölkerung vertrat, scherte ihn nicht.

Am Hamburger Berg hielten sie vor einem Haus mit schmuddeliger Fassade, an der in ausgeblichenen Lettern »Pension Grüber« stand. Es war eingequetscht zwischen einer düsteren Seemannskaschemme und einem Lokal namens Frivoli, das mit Bildern leichtbekleideter junger Damen im Fenster warb. Da es keine Klingel gab, öffnete Krell die Tür. Ein schummrig beleuchteter Gang führte hinein, eine Art Diele mit einem ausgeblichenen Läufer. Der Eindruck von Unscheinbarkeit, den das Haus von außen gemacht hatte, blieb bestehen, doch wurde er erweitert. Es schien halbwegs sauber zu sein. An den Wänden hingen Bilder, naive Hafenimpressionen mit Segelschiffen, glücklichen Matrosen und winkenden Bräuten. Die Rahmen waren goldfarben gestrichen.

»Hallo«, rief Krell. »Ist jemand da?«

Niemand antwortete. Rechter Hand führte eine Treppe ins Obergeschoss, in dem wahrscheinlich die vermieteten Zimmer lagen. Die Diele selber lief in einem Vorraum aus, von dem drei Zimmer abgingen. Eine Flügeltür stand offen. Sie schauten in ein Esszimmer mit einem langen ovalen Tisch, unter den die Holzstühle geschoben waren. An der Wand hing ein weiteres Ölgemälde, erneut in verziertem Goldrahmen, diesmal eine Hafenansicht mit stürmisch-grauem Himmel.

»Hallo«, wiederholte Krell. »Frau Grüber?«

Eine Tür öffnete sich und eine Frau trat heraus, die Krell auf Mitte 40 schätzte. Ihm fiel der Ausdruck »drall« ein. Ein rot-weiß gestreifter Pullover spannte über Brust und Bauch. Sie hatte blondes gewelltes Haar und ein Schweinchengesicht, das für Krells Geschmack zu stark geschminkt war, Mund und Wangen rötlich, die Lider schwarz. Die vielen modernen Diätratschläge schienen an ihr abzuperlen. Krell unterstellte, dass sie die entsprechenden Zeitschriftenartikel las und trotzdem weiteraß.

»Sie wünschen?« Ihre Stimme klang rauchig. In ihrer kühlen Bestimmtheit hörte man die Geschäftsfrau, die den Umgang mit fremden Männern gewohnt war.

Krell zog seine Dienstmarke hervor. »Kommissar Krell, Kripo Hamburg. Das ist Kriminalassistent Schubert.«

»Die Polizei?«

»Wir haben ein paar Fragen. Könnten wir in einen geschlossenen Raum gehen?«

»Bitte.«

Sie führte sie in das Zimmer, aus dem sie gekommen war. Es war ihr Büro, mit einem weichen, schmuddeligen Teppich ausgelegt. Am Fenster stand ein Schreibtisch, von dem aus man die Tür im Auge hatte. Ein paar Papiere lagen darauf. Neben der Lampe gab es ein schwarzes Telefon, dahinter ein Schlüsselbrett mit Nummern. Gegenüber, an der Wand, war ein breites Sofa, und darüber gab es ein weiteres Bild, diesmal ein Waldidyll. Mit einer Armbewegung bot die Grüber ihnen den Platz darauf an und setzte sich selber in einen Sessel.

»Was kann ich für Sie tun? Sie suchen doch kein Zimmer?«

»Es geht um einen Ihrer Mieter, Gustav Limba.«

Krell fiel auf, dass ihre Mundwinkel für einen kleinen Moment unkontrolliert zuckten. Sofort hatte sie sich wieder im Griff. »Was hat er ausgefressen?«

»Ausgefressen – so würde ich es nicht ausdrücken«, sagte Schubert. Nach den ersten Tagen in der Dienststelle hatte Krell ihn ausdrücklich ermutigt, selber den Mund aufzumachen und eigene Fragen zu stellen. Es war wesentlich günstiger, sowohl bei Zeugen als auch bei Verdächtigen, wenn man sich abwechselte. Zu einem von beiden fasste die dritte Person meistens Vertrauen.

»Ich verstehe Sie nicht. Können Sie ein bisschen deutlicher reden? Ich habe mit Limba sowieso noch ein Hühnchen zu rupfen.«

»Weshalb?«, fragte Krell.

Frau Grüber lachte auf und zündete sich eine Zigarette an. Sie hielt sie mit gespreizten Fingern von sich. »Er hat seine Miete nicht bezahlt. Der Mann schuldet mir Geld.«

»Wie viel?«

»Drei Monatsmieten. 21 Mark.«

»Sehen Sie, Frau Grüber«, sagte Schubert, »Ihr Mieter, Herr Limba, ist tot.«

Diesmal reagierte sie stärker. Sie riss die Augen auf. Auch ihr Mund stand offen, sodass ihre gelblichen Zähne zu sehen waren. Beides dauerte wieder nur einen kurzen Moment. Krell fiel auf, dass ihre Hand zitterte, als sie die Zigarette zum Mund führte. Sie nahm einen Zug »Das glaube ich nicht«, sagte sie, während sie den Rauch auspustete.

»Sonst wären wir nicht hier, Verehrteste«, erklärte Krell.

Sie machte ein krächzendes Geräusch, wie ein verwundetes Tier. Auch das ging vorüber, kaum, dass es erklungen war.

»Dann kann ich mein Geld wohl abschreiben?«, sagte sie mit einem Zittern in der Stimme.

»Ich fürchte, ja«, entgegnete Krell.

»Was ist passiert, warum ist er tot?«

Krell wechselte einen Blick mit Schubert, der sich offenbar zurückhalten wollte. »Das wissen wir noch nicht. Wir haben mit unseren Untersuchungen gerade erst angefangen.«

Sie schüttelte den Kopf. Es war eine automatische Bewegung, wie bei einer Puppe. Krell bemerkte, dass sie Tränen in den Augen hatte.

»Können Sie nicht …?«, begann sie. »Ich meine, der Staat …

Krell schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, jetzt verstehe ich Sie nicht.«

»Die Miete. Mein Mann ist gefallen, ich hab die Pension ganz alleine am Hals. Das ist viel für eine Witwe, das können Sie mir glauben.« Sie schluchzte auf, was Krell künstlich vorkam.

»Wir werden sehen. Zunächst, Frau Grüber, was können Sie uns über Limba sagen? Mit wem hatte er Umgang? Hatte er Feinde? Irgendwelche Pläne?«

»Darüber weiß ich nichts.«

»Denken Sie nach«, insistierte Schubert. »Er wird Ihnen doch versprochen haben, die ausstehende Miete zu begleichen.«

»Ja. Im Versprechen war er groß.« Sie biss sich auf ihre rot bemalte Unterlippe, woraufhin ein wenig der Farbe an ihrem Schneidezahn klebte. »Dann hat er einen mit seinen braunen Augen angeschaut …«

»Wie wollte er das Geld verdienen? Hatte er Arbeit?«, fragte Krell.

»Ach, Herr Kommissar, das hat er mir nicht erzählt. Soweit ich weiß, hat er hier und da kleinere Dienste übernommen.« Sie hielt sich die Hand vor den Mund. »Ich hätte ihm das Zimmer niemals geben dürfen. Mein Mann hätte direkt Nein gesagt, der mochte solche Schönlinge überhaupt nicht. Ich bin einfach zu gutmütig. Und jetzt sitze ich da mit dem Schaden.«

Sie zog wieder an ihrer Zigarette. Krell unterstellte, dass sie sich einen Schnaps einschenken würde, sobald sie gegangen waren.

»Mit wem hatte er Umgang?«, wiederholte Schubert.

Sie zog die Schultern in die Höhe. »Ich spioniere meinen Mietern doch nicht nach.«

»Das unterstellt auch niemand«, sagte Krell. »Aber es wird geredet. Sie essen doch alle gemeinsam.«

»Wir sitzen alle an einem Tisch, ja. Da wird Konversation getrieben, meistens übers Wetter. Neulich ging es mal um einen Bombenangriff, das war eine große Ausnahme. Politische Gespräche dulde ich nicht, schon gar nicht zu Kriegszeiten, da wird dann gestritten, und am Ende kommt man in Teufels Küche. Nee, nee.« Sie winkte ab. »Ob Limba Bekannte hatte – woher soll ich das wissen? Es wird sicher welche gegeben haben. So was hat doch jeder. Und Feinde? Meine Herren, das entzieht sich meiner Kenntnis, ich bitte Sie … Ich kann auch nicht alles hören, ich muss ja andauernd in die Küche rennen. Immerzu fehlt den Herrschaften irgendetwas – Salz, dann wollen sie neue Butter oder Aufschnitt. Sie haben ja keine Vorstellung …«

Inzwischen sah ihr Gesicht ein wenig wüst aus. Durch den Anflug von Tränen war ihre Schminke an den Augen verwischt, ein Zahn war rot, dafür gab es an der Unterlippe eine Lücke in der Farbe. Gleichzeitig appellierte sie ein wenig zu deutlich an das Mitleid ihrer Besucher.

 

»Frau Grüber, hat Limba …«

Sie schien Krell überhaupt nicht gehört zu haben. Mit einem Schluchzen sprach sie weiter: »… wie hart das Leben für eine Witwe ist. Mein Mann ist in Griechenland gefallen. Seitdem stehe ich ganz alleine in der Welt. Die meisten Mieter sind Kerle, und manche davon keine Ehrenmänner, die betrügen, wo immer es geht. Da muss man sich stark machen als Frau, das kann ich Ihnen sagen, sonst tanzen die einem auf der Nase herum.«

»Geben Sie uns doch bitte eine Liste Ihrer Mieter. Und wir müssen Limbas Zimmer sehen. Es wird für einige Zeit verschlossen bleiben.«

»Das ist nicht Ihr Ernst!«

»Unsere Techniker müssen Spuren sichern.«

»Und wer kommt dafür auf?«

Diesmal war es Krell, der die Schultern in die Höhe zog.

»Frau Grüber, hat Limba Ihnen nicht doch mitgeteilt, wie er das Geld für seine Mietschulden verdienen wollte?«, fragte Schubert wieder. »Ich meine, Sie werden doch insistiert haben.«

»Das habe ich, Herr Kommissar.«

»Kriminalassistent«, korrigierte Schubert. »Was hat Limba gesagt?«

»Er hat mich vertröstet, Woche für Woche, mit irgendwelchen Versprechungen. Er war irgendwie wie ein großer Junge.« Wütend drückte sie ihre Zigarette im Aschenbecher aus.

Krell glaubte, sie führe ein schlechtes Schauspiel auf. Er hatte den Wunsch, es zu beenden. »Geben Sie uns bitte die Liste mit den Mietern.«

»Sie wollen mit allen sprechen? Das wird Unruhe geben.« Sie zog einen Schmollmund, was den Eindruck eines Schweinchengesichts verstärkte.

»Das ist unabdingbar. Machen Sie uns die Liste gleich, oder sollen wir sie morgen abholen?«

Sie schniefte und schaute dabei auf ihre Armbanduhr. »Wenn Sie ein bisschen Zeit haben, geht das jetzt.«

»Inzwischen sehen wir uns sein Zimmer an.«

»Da muss ich doch mit.«

»Nicht nötig. Es reicht, wenn Sie uns einen Schlüssel geben und die Zimmernummer nennen.«

»Nummer neun. Er wohnte in der Neun. Ich …« Für einen Moment schien sie verwirrt, aber dann fing sie sich wieder und nahm einen Schlüssel vom Brett hinter dem Schreibtisch.

»Es fehlen Schlüssel. Also sind Mieter im Haus?«, fragte Krell.

Sie starrte ihn an, als hätte sie seine Frage nicht verstanden. Erst nach einigen Momenten schaute sie nach. »Ich glaube«, sagte sie dann. »Die Reichert müsste da sein. Und Herr Hispel.«

»Und eine dritte Person.«

»Nein.«

»Es fehlen drei Schlüssel außer dem, den Sie mir gerade gegeben haben«, stellte Krell fest.

Ihr Gesichtsausdruck wirkte, als hätte sie seine Beobachtung überrascht. »Die Sechs, ja. Der fehlt.«

»Ach so?«

»Seit Längerem.«

Sie gab keine weiteren Erklärungen. Krell und Schubert bekamen Limbas Schlüssel und stiegen die Treppe hinauf. Das Zimmer lag auf der rechten Seite, weit hinten. Es war eng und schlicht eingerichtet mit Bett, Schrank, Waschbecken und einem kleinen Tisch. Über den zugehörigen Stuhl hing ein Jackett, in dessen Taschen sich nichts fand. Im Schrank gab es ein zweites Hemd, zwei Paar Socken, etwas Unterwäsche und ein Nachthemd. Mit spitzen Fingern hob Schubert die Sachen an, es war nichts darunter versteckt. Auf Krells Anweisung hin durchsuchte Schubert auch das Bett, er schaute sogar unter die Matratze. Wieder nichts. Das ganze Zimmer war derart unpersönlich, dass Krell sich fragte, ob Limba noch ein zweites hatte, vielleicht bei einer Frau, und dieses nur als Ausweichquartier nutzte.

Sie klopften bei der Nummer zwei, einem der Zimmer, deren Schlüssel nicht am Brett gehangen hatte.

»Ja?«, rief jemand von innen.

Schubert öffnete. Vor ihnen stand eine Frau mittleren Alters in einem schwarzen Kleid mit weißer Kellnerschürze. Sie schaute sie überrascht an. Krell erklärte ihr, warum sie gekommen waren.

»Der Limba? Soso«, sagte sie.

»Was wissen Sie über ihn?«, fragte Schubert.

»Nichts.«

»Sie wohnen mit ihm in einem Haus und wissen nichts über ihn?«, sagte Krell.

»Man geht arbeiten und lebt sein Leben. Ich kümmere mich nicht um die Nachbarn. Entschuldigen Sie, aber dafür habe ich keine Zeit, wirklich nicht. Genauso wenig wie ich mir die Gäste in unserem Lokal anschaue.« Sie stieß einen kurzen Lacher aus. »Ich bitte Sie. Dann käme ich ja zu gar nichts.«

Sie hakten nach, aber mehr war von Mieterin Reichert nicht herauszubekommen. In der Nummer sieben, wo der Schlüssel ebenfalls nicht am Brett gehangen hatte, öffnete ihnen ein Mann namens Ernst Hispel. Er mochte Mitte oder Ende 30 sein, hatte ordentlich gescheiteltes Haar, trug aber nur ein Unterhemd mit rotkarierten Hosenträgern darüber. Sein Fenster war offen, davor stand ein samtig gepolsterter Stuhl mit einem Block und einem Stift darauf, und auf dem Fensterbrett ein Aschenbecher – offenbar sein Platz. Auch ihm erzählten sie von Limbas Tod.

»Der Gustav, ehrlich? Unglaublich.« Er legte den Kopf schief. »Manchmal kann es verdammt schnell gehen.« Sein Satz klang wie eine Phrase.

Hispel bat sie nicht herein, sie unterhielten sich über die Türschwelle hinweg. Er erklärte, er sei Vertreter italienischer und französischer Weine; seine Geschäfte seien kriegsbedingt derzeit recht eingeschränkt. Mehr Auskunft als die Reichert zwei Zimmer weiter wollte auch er nicht geben. Schubert insistierte und wies darauf hin, dass Hispel und Limba offenbar per Du gewesen seien, doch Hispel ließ diesen Vorstoß an sich abprallen, sie wären zwei- oder dreimal auf ein Bier in die Kneipe gegangen, wobei sie aber nichts Persönliches gesprochen hätten. Schubert legte die Stirn in Falten und blickte Krell an, der die Frage ahnte, die sein Assistent ihm wortlos stellte. Es war die nach Zwangsmitteln. Ein, zwei Nächte im Keller ihres Polizeigebäudes an der Stadthausbrücke brachten die Leute meistens zum Reden. Früher, zu Zeiten der Republik, waren derartige Dinge ausgeschlossen gewesen, und Krell hatte den Vorsatz, an dieser Arbeitsweise festzuhalten, auch wenn sie dann den mühsameren Weg nehmen mussten. Sie verabschiedeten sich gerade von Hispel, als die Grüber die Treppe hinaufkam. Sie schnaufte heftig. Im gleichen Moment wurde eine weitere Zimmertür geöffnet, die mit der Sechs, zu der angeblich der Schlüssel fehlte.

Eine Frau in einem verblichenen blauen Kleid trat einen Schritt heraus. Ihr Gesicht hatte eine graue Farbe, das Haar war strähnig, als sei es seit Ewigkeiten nicht gewaschen worden, sie selbst schaute verängstigt und verwirrt um sich. Dabei hielt sie sich die flache Hand vor den Mund. Eine Verrückte, schoss es Krell durch den Kopf.

Obwohl sie nach der Treppe außer Atem war, machte die Grüber ein paar eilige Schritte auf sie zu und schob sie zurück ins Zimmer.

»Ich will nicht, ich hab Hunger«, rief die andere Frau. Ihre Stimme hatte etwas Schrilles, als hätte sie die Erfahrung gemacht, anders kein Gehör zu finden.

»Du bekommst gleich etwas. Aber jetzt geh zurück.«

Die Frau im blauen Kleid jaulte auf. Unsanft drückte die Grüber sie zurück ins Zimmer und schloss die Tür hinter ihr. Als sie zu Krell und Schubert schaute, wirkte sie wie ein ertappter Ladendieb.

»Bitte, meine Herren. Ich bitte Sie …«

»Was denn?«, fragte Krell.

Frau Grüber kam dicht zu ihnen und redete leise. »Meine Schwester. Sie ist nicht von Geburt an so. Das ist nicht erblich, bitte denken Sie das nicht. Sie hatte als Kind einen Unfall, seitdem ist das so. Sie war schon im Irrenhaus. Aber da …« Sie brachte ihren Satz nicht zu Ende. »Als mein Mann gestorben war, habe ich sie von dort weggeholt. Sie tut niemandem etwas und bekommt ganz sicher kein Kind.« Sie senkte ihren Blick. »Ich will nicht, dass sie abgeholt wird.«

Krell warf Schubert einen Blick zu. Der verzog keine Miene, offenbar überließ er diese Entscheidung seinem Vorgesetzten.

»Verehrte Frau Grüber, wir ermitteln in einem Todesfall«, sagte Krell. »Der Rest geht uns nichts an.«

Augenblicklich machte sich Erleichterung auf dem Gesicht der Grüber breit, die Züge entspannten sich, fast lächelte sie. Für Krells Geschmack kam sie zu nahe an ihn heran, er trat einen halben Schritt zurück, während er einen sachlichen Ton anschlug und sie nach der Liste fragte, die sie ihm dienstwillig aushändigte und die er direkt an Schubert weiterreichte. Er konfrontierte sie mit der Beobachtung, dass Limbas Zimmer äußerst unbewohnt wirkte. Ob er wohl eine zweite Wohnung gehabt habe?

Sie wies die Vermutung mit Entrüstung zurück. »Herr Limba ist jeden Abend nach Hause gekommen.«

»Dann müsste Ihnen aufgefallen sein«, meinte Schubert, »dass er letzte Nacht fortblieb.«

»Das ist es auch«, räumte sie ein. »Ich habe mir nicht viele Gedanken darüber gemacht. Abends sitze ich noch etwas länger, höre Radio und löse Kreuzworträtsel, dann gehe ich ins Bett.«

Krell nickte Schubert zu, und sie verabschiedeten sich von Frau Grüber mit der Ermahnung, Limbas Zimmer nicht zu betreten. Sie hatten nichts in der Hand außer dem Namen des Toten. Die Angelegenheit würde so schwierig werden, wie Schubert am Vorabend vermutet hatte.

Fünf

Für ein Mädchen von 16 Jahren schickte es sich nicht, einen Jungen abzupassen, auch dann nicht, wenn er ihr kaum aus dem Kopf ging, bei allem Bemühen nicht. Am vergangenen Donnerstag hatte Jette, als sie für ihre Mutter Besorgungen machte, Christian zufällig am Rissener Bahnhof gesehen, sich aber schnell hinter einem Baum versteckt, damit er sie nicht entdeckte. Nun, eine Woche später, schnappte sie sich das Einkaufsnetz ihrer Mutter und machte sich wieder auf den Weg, diesmal mit einem mulmigen Gefühl, einem von Scham und Unehrlichkeit. Dass sie nur mal schauen wollte, redete sie sich ein, ob er jede Woche zur gleichen Zeit Richtung Innenstadt fuhr, und dass sie ihn natürlich nicht ansprechen werde, das auf keinen Fall. Sie würde sich wieder hinter dem Baum verstecken. Selbst das war keine gute Vorstellung. Sie spionierte Christian nach, und das gehörte sich nicht. Deshalb hielt es sie nicht in ihrem Versteck, sondern sie überquerte vor dem Bahnhof die Straße und schaute in alle Richtungen. Er war nicht zu sehen.

Schade, dachte sie. Keine regelmäßige Fahrt. Es war dumm gewesen, das anzunehmen. Nur Leute, die zur Arbeit mussten, nahmen immer zur gleichen Zeit einen Zug.

Die Frage, wo er hingefahren war, hatte sie geradezu umgetrieben, sie hatte sich verschiedene Möglichkeiten ausgemalt, von denen die Schlimmste war, dass er sich mit Kunstlehrer Jessen und dessen Damenbekanntschaften in einer Spelunke auf Sankt Pauli traf. Sie hatte diese Gedanken nicht gewollt, doch wie von selbst waren sie immer wiedergekehrt. Am Ende hatte sie ein Lied angestimmt, um sich abzulenken.

Nun würde sie keine Antwort auf ihre Frage bekommen. Es ging sie auch nichts an. Er kam nicht.

Irrtum, da kam er doch. Mit weiten Schritten, eine Hand lässig in der Hosentasche. Er wurde keinen Deut schneller, als man den Zug bereits hörte. Jette kannte es nicht anders, als dass die Leute, die knapp kamen, rannten. Nicht so Christian. Es schien ihm egal zu sein, ob er ihn verpasste und warten musste.

Jette schaute ihm entgegen.

Die Bahn hielt am Gleis. Wenn er die Treppen hinaufgespurtet wäre, hätte er sie vielleicht noch bekommen. Doch er blieb bei ihr stehen. »Was machst du denn hier?«

Sie war froh, dass sie das Einkaufsnetz bei sich hatte, und hob es hoch. »Besorgungen. Und du?«

»Ich fahre nach Altona. Willst du auch in die Stadt?«

Sie spürte, dass sie rot wurde, und wich seinem Blick aus. Sie wollte den Kopf schütteln, doch das gelang ihr nicht. »Ja«, sagte sie leise, überzeugt davon, dass er ihre Lüge durchschaute.

»Ich glaube auch, dass man dort leichter Lebensmittel bekommt«, entgegnete er. »Die Innenstadt versorgen sie einfach besser.«

»Und warum?«, fragte sie, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte.

»Keine Ahnung. Vielleicht weil dort mehr Leute wohnen oder weil es hier Bauern gibt und die Leute Hühner halten.«

»Wir haben Kaninchen.«

»Auch nicht schlecht. Wer schlachtet?«

»Mein Vater. Wir anderen bringen das nicht fertig. Meine Mutter nicht und ich auch nicht. Und meine Schwester ist zu klein.«

»Ich könnte so einem Viech auch nicht den Kopf abschlagen.«

Das war ein seltsamer Satz. Sie schaute in Christians Gesicht mit der Hornbrille und den langen Haaren. Alle Jungen machten bei der Hitlerjugend Schießübungen und sangen Kriegslieder. Die meisten in ihrer Klasse redeten davon, dass sie Soldaten sein wollten, und sie wären stolz darauf gewesen, wenigstens einem Karnickel den Kopf abzuschlagen. Christian war offenbar auch in dieser Hinsicht anders.

 

»Was machst du in Altona?«, fragte sie.

»Ich besuche Freunde. Wir quatschen ein bisschen und hören Musik.« Er zeigte auf den Bahnhof. »Gehen wir hoch?«

Sie wischte sich die Hände an ihrem Rock ab und wünschte sich, dass sie etwas weniger aufgeregt wäre. Beide kauften sie einen Fahrschein am Schalter und hockten sich auf eine der Holzbänke auf dem Bahnsteig. Die Sonne schien auf sie, es war spätsommerlich warm. Er erkundigte sich weiter nach ihrer Familie – wo sie wohnten, ob ihr Vater eingezogen war – und fragte auch nach Gregor. Sie erzählte von dem großen Haus, in dem er lebte, und dass er oft alleine war, weil sein Vater Generaldirektor einer Zigarettenfabrik war und die Mutter oft weg. Auch dass sie zwei Autos besaßen, erzählte sie. Er stieß einen Pfiff aus und wollte die Marken wissen, die sie ihm nicht nennen konnte. Er schlug einige Namen vor – Horch, Mercedes – aber ihr sagte das nicht viel, deshalb war sie froh, als der Zug eintraf und sie einstiegen. Jette überlegte, wo sie wieder aussteigen sollte. Sie und Christian setzten sich auf zwei nebeneinanderliegende Plätze. Es war eng, sein Arm drückte gegen ihren. Sein Bein war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt.

Sie hätte gerne gewusst, welche Musik seine Freunde und er hörten, ob sie von diesem Cole Porter stammte, wagte es aber nicht zu fragen, erst recht nicht mit so vielen Ohren ringsherum.

»Kann man ihm trauen?«, wollte er plötzlich wissen. Er redete leise, wie alle anderen Fahrgäste im Abteil.

»Wem?«

»Gregor.«

»Ja klar.« Sie schaute ihn an. »Wie meinst du das?«

»Wie ich’s sage. Ob man ihm trauen kann.«

»Ja, natürlich kann man das.«

Auch nach Elisabeth erkundigte er sich.

Jette zog ihren Arm zu sich, sodass er seinen nicht länger berührte, und legte ihn auf ihren Schoß. »Was ist mit ihr?«

»Die gleiche Frage: ob man ihr trauen kann.«

Sie pustete den zurückgehaltenen Atem aus. »Sie ist ganz in Ordnung.«

»Ehrlich?«

»Ja. Warum nicht?«

»Keine Ahnung, ich kenne sie ja nicht. Beide nicht.«

Jette ging der Gedanke durch den Kopf, dass er sie auch nicht kannte, und sie fragte sich, bei wem er sich wohl nach ihr erkundigte. Als sie in Blankenese umsteigen mussten, dachte sie nicht mehr daran. Die S-Bahn stand bereits auf dem gegenüberliegenden Gleis. Christian redete leise darüber, dass sein Vater fürchte, aus Frankreich an die Ostfront verlegt zu werden. Er schreibe das nicht so deutlich, trotzdem gehe es aus seinen Briefen hervor. Warum ihr Vater nicht eingezogen sei, wollte er von Jette wissen. Sie erzählte ihm, dass er bei der Kripo und deshalb unabkömmlich sei, zumindest vorerst.

»Er ist also uk – wie schön für ihn und für euch.«

Sie dachte daran, dass ihr Vater zwar oft erst spät am Abend nach Hause kam, aber sonntags war er da und während der Woche meistens zum Frühstück. Es wäre eindeutig leerer bei ihnen, wenn er fort wäre, um Tausende Kilometer entfernt an irgendeiner Front zu kämpfen. Und sie würde immerzu Angst haben.

»Alle Männer können doch nicht eingezogen werden«, meinte sie. »Irgendjemand muss doch auch hier Dienst tun.«

»Wahrscheinlich, ja. Mein Vater ist Angestellter bei einer Bank. Seitdem er weg ist, müssen die Kunden einfach länger warten, bis sie drankommen.«

Er tat ihr leid, obwohl er auf der anderen Seite so vieles kannte und wusste, von dem sie in Rissen noch nie gehört hatten. Ihre Arme berührten sich wieder. Am liebsten hätte sie seine Hand gehalten und gedrückt.

»Er wird schon wiederkommen«, sagte sie.

»Ja, glaube ich auch.«

Sie fasste einen Plan: Sie würde am Holstenbahnhof, eine Station nach Altona, aussteigen und dort den Zug zurück nehmen. Zwar würde sie sich eine neue Fahrkarte kaufen und noch einmal 15 Pfennig ausgeben müssen, aber das war in Ordnung. Dafür war sie mit Christian gefahren.

Als der Zug in den Altonaer Bahnhof einfuhr, stand Christian auf, viele andere Leute auch. Jette blieb sitzen. Er hielt eine Hand an die Haltestange. Sie wartete auf seinen Abschiedsgruß. Er sagte: »Wenn du es nicht eilig hast, komm doch mit. Meine Freunde sind nett. Und die Musik …«

Sie freute sich über die Aufforderung, und trotzdem schaffte sie es nicht, sie anzunehmen, erst recht nicht mit einem beiläufigen, nicht zu begeisterten Ja. Gedankenfetzen strichen ihr durch den Kopf. Dass sie ein 16-jähriges Mädchen war und auf keinen Fall mit einem quasi unbekannten Jungen mitgehen durfte. Dass sie überhaupt nicht in Altona sein sollte. Vor ihr stand eine Frau mit schwarzem Hut und Schleier, eine Kriegerwitwe wahrscheinlich, und Jette war sich ganz sicher, dass sie sie für unanständig hielt und schon dafür verurteilte, dass sie überhaupt überlegte.

Der Zug hielt. Christian machte ein fragendes Gesicht.

Jette nahm beide Hände zu Hilfe und drückte sie auf das Holz der Sitzbank, um aufzustehen. Dabei schaute sie auf die Armbanduhr, die sie zur Konfirmation bekommen hatte. »Zu lange darf es nicht dauern.«

»Ist versprochen.«

Die Gegend vor dem Bahnhof war ihr durchaus bekannt. Ihr Vater bezeichnete sich als Altonaer, obwohl er eigentlich aus dem benachbarten Bahrenfeld stammte. Er hatte seinen Töchtern einige Orte seiner Kindheit gezeigt. Was Jette in Altona aber fehlte, war diese blinde Sicherheit, die Christian hatte. Er musste sich nicht orientieren, und der viele Verkehr, all die Autos, Straßenbahnen und Pferdewagen waren für ihn selbstverständlich.

Sie gingen ein Stück, bevor sie in einer Gasse in ein Haus traten und die Treppen hinaufstiegen. Es war angenehm kühl. Christian klingelte an einer Wohnungstür. Ihnen öffnete ein Junge, der ebenfalls ein kariertes Jackett trug, dessen Ärmel ihm bis auf die Hände reichten. Auch seine Haare waren lang. Er grinste und begrüßte sie mit einem genuschelten Gruß.

Jette glaubte, sie hätte sich verhört. Was hatte er gesagt? Das war doch nicht »Sieg Heil« gewesen.

Christian gebrauchte die gleichen Wörter, und diesmal verstand sie sie genau: »Swing Heil. Das hier ist Jette.«

Swing Heil?

»Kommt rein.«

Sein Freund hieß Erik, er wohnte hier. Im Wohnzimmer war noch ein dritter Junge, Walter. Nur auf den ersten Blick sahen sie einander ähnlich, alle drei mit Jacketts und diesen Frisuren. Walter war groß und blond, ein Schlacks, Erik einen halben Kopf kleiner und kräftiger. Er zeigte auf einen braunen Sessel, auf den Jette sich setzte, während die anderen sich nebeneinander aufs Sofa hockten. Das Zimmer war ein wenig düster, das Fenster ging zum Hof. Ein vollgestopftes Bücherregal füllte eine ganze Wand aus. Gegenüber hing ein Ölbild, ein Gemälde, das ihr Vater »ganz alter Schinken« genannt hätte. Sie fühlte sich sehr fremd und begann, vor Aufregung auf ihre Fingerkuppen zu drücken. Zu ihrem grauen Rock trug sie grobe Wollstrümpfe, ihre Schuhe waren ausgelatscht. Die Jungs dagegen waren schick, nicht nur wegen der Jacketts, sondern auch in ihren geputzten Schuhen und den Tuchhosen. Sie fragte sich, wie wohl die Mädchen waren, mit denen sie Umgang hatten. Sicher nicht so wie Jette. Sie strich sich über die Haare. Ihre Frisur war das Einzige, was sie halbwegs passabel an sich fand. Ihre Mutter hatte sie geschnitten, die Haare fielen auf die Schulter, wo sie von selber eine Welle machten. »Sieht toll aus«, hatte ihre Mutter gesagt.

Jette vermutete, dass die beiden anderen Jungen auch nicht zur HJ gingen – mit den langen Haaren war das beinahe unvorstellbar. Zu gerne hätte sie gewusst, wie sie das anstellten, wagte aber nicht zu fragen. Überhaupt schaffte sie es nicht, etwas zu sagen.

Erik nahm eine Platte in die Hand, machte ein verzücktes Gesicht und sagte: »Haltet euch fest, Freunde. Ganz neu. Habe ich vorgestern eingetauscht.«