Steirerblut

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Nachdem sie angestoßen und den fruchtig-reschen Schilcher gekostet hatten, führte er Sandra auf die Terrasse, hinter der ein romantischer Garten mit Schwimmbiotop angelegt worden war. Leider war es zu kalt, um draußen zu sitzen und das idyllische Ambiente zu genießen. Sandra musste Max versprechen, im nächsten Sommer wiederzukommen, um hier mit ihm und den Kumpels von früher seinen Geburtstag zu feiern.

Wenn es etwas gab, worauf Sandra noch weniger Lust hatte, als hier in der Kälte herumzustehen und in Max’ schmachtende Augen zu blicken, dann war es, mit seinen immerzu durstigen Freunden abzufeiern. Dennoch willigte sie ein, zu kommen, bevor sie ihm fröstelnd in die Wohnung folgte. Bis zu seinem Geburtstag im Juli blieb ihr noch genügend Zeit, um eine passende Ausrede zu finden, warum sie es doch nicht zur Feier schaffen würde.

»Wer wohnt denn sonst noch hier?«, fragte sie.

»Niemand. Nur ich.«

»Ich meinte, dort drüben, im anderen Teil des Gehöfts. Dort hat doch vorhin Licht gebrannt.«

»Ach so. Da wohnt der Matthias mit seiner Frau und der Kleinen.«

»Dein Bruder hat Familie? Das wusste ich gar nicht.«

»Du weißt einiges nicht, was hier in der Zwischenzeit passiert ist. Wie denn auch? Du bist ja nie da.«

Das klang beinahe wie ein Vorwurf ihrer Mutter. Sandra ließ sich seufzend neben Max auf das bequeme Ecksofa fallen. »Was soll ich denn hier? Es reicht doch, wenn ich alle paar Jahre mit meiner Mutter und ihrem missratenen Sohn in die Haare gerate. Wenn ich nur an Mike denke, wird mir schlecht … Meinst du, dass er …? Ach, lassen wir das heute Abend lieber. Der Matthias ist also verheiratet?«

»Ja, mit einer Kärntnerin aus Wolfsberg. Anita heißt sie. Hübsche Frau, Volksschullehrerin. Er hat sie bei irgend so einem Pädagogen-Seminar kennengelernt.«

»Na, das passt doch perfekt.«

»Kann man so sagen. Sie unterrichtet an der hiesigen Volksschule. Matthias ist dort mittlerweile Direktor.«

»Und Bürgermeister, ich weiß. Das hab ich sogar in Graz mitbekommen. Die beiden haben eine Tochter?«

»Ja, die Leni. Ein süßes Dirndl. Sie feiert nächste Woche ihren zweiten Geburtstag.«

»Klingt nach Bilderbuchfamilie.«

»Ist es auch. Der Matthias ist wirklich zu beneiden.« Max seufzte und hatte plötzlich diesen wehmütigen Zug um die Mundwinkel, den Sandra noch von früher kannte. Er hatte sich schon mit 19 Jahren eine Familie gewünscht, als sie gerade mal 16 gewesen war. Der Gedanke an eigene Kinder hatte ihr damals Angst gemacht. Und auch heute war er für sie – trotz ihrer 31 Jahre – immer noch unvorstellbar. Irgendwie fühlte sie sich einfach nicht reif genug für eine Familie. Außerdem bot das Leben einer Kriminalpolizistin viel zu wenig Raum für eigene Kinder. Wieder ein Mann, mit dem sie nicht kompatibel war, dachte Sandra. Hatte sie sich nicht dasselbe erst vor ein paar Stunden gedacht, wenn auch in einem völlig anderen Zusammenhang? Wie kam sie bloß darauf, ausgerechnet jetzt an Bergmann zu denken, ärgerte sie sich. Ihr chauvinistischer Partner würde es glatt noch schaffen, aus ihr, der das Thema Gender-Mainstreaming gehörig auf die Nerven ging, eine Feministin zu machen.

»Möchtest du noch Wein zum Essen? Ich glaube, der Sterz ist jetzt fertig. Zumindest riecht er so«, unterbrach Max ihre Gedanken an Bergmann.

»Ja, gern. Ein Achtel vertrage ich schon noch.«

»Nicht, dass du mir nachher betrunken Auto fährst. Ich bin zwar nicht im Dienst, aber im Falle des Falles wäre es meine Pflicht, dich bis morgen früh hier festzuhalten«, scherzte er und verschwand in der Küche.

»Das hättest du wohl gern«, murmelte Sandra vor sich hin und nippte am Schilcher.

Nach dem Essen machte es Max ihr nicht gerade leicht, standhaft zu bleiben. Seine Lippen waren so weich wie früher, sein Duft immer noch vertraut. Jede Faser ihres Körpers sehnte sich danach, seine harte Männlichkeit in sich aufzunehmen. Doch Sandras Wille, sich der Lust nicht einfach hinzugeben, war stärker. Als ihr Verlangen beinahe unerträglich wurde, stand sie auf und ließ Max enttäuscht und wütend auf dem Sofa zurück.

Wohin hätte Sex mit dem Ex auch führen sollen?, fragte sich Sandra auf der Heimfahrt immer wieder. Außer zu einer kurzfristigen körperlichen Befriedigung und zur neuerlichen Erkenntnis, dass es für sie keinen Weg zurück gab. Auch wenn Max sich das vielleicht noch so sehr wünschte. Warum hatte sie ihn überhaupt so nahe an sich herangelassen, ärgerte sie sich über die eigene Schwäche. Dies war jedenfalls der letzte Abend gewesen, den sie mit Max privat verbracht hatte, schwor sie sich, als sie die ›Goldene Gans‹ erreichte.

Viertel vor zwölf brannte noch Licht in der Gaststube. Sandra beschloss, den Wagen am Parkplatz hinter dem Gasthof abzustellen und das Haus über den Hintereingang zu betreten, um möglichst unbemerkt in ihr Zimmer zu gelangen. Sie hatte keine Lust, angetrunkenen Gästen zu begegnen. Oder ihrem Partner, der mit Sicherheit einen zynischen Kommentar für sie übrig hatte. Oder – was das Schlimmste überhaupt gewesen wäre – ihrem Halbbruder Mike, der sich gerne mal am Stammtisch volllaufen ließ.

Wenn es bloß nicht so stockdunkel hier wäre, dachte sie und begann sich langsam, Schritt für Schritt, entlang der gartenseitigen Hausmauer vorwärtszutasten. Bis sie das wütende Bellen vor Schreck erstarren ließ. »Mephisto? Ganz ruhig. Ich bin’s doch nur!«, rief sie in den finsteren Garten. Gott sei Dank! Die Zwingertür war geschlossen, sonst wäre der Schäferhund längst an ihrem Bein gehangen. Sandra setzte sich wieder in Bewegung, während Mephistos Bellen in ein noch viel furchteinflößenderes Knurren überging.

»Nach dem Schäferstündchen ein Schäferhündchen«, hörte sie eine Männerstimme sagen. Mephisto schlug erneut an, und Sandra sah zum Balkon hinauf. Dort oben stand Bergmann und zog an einer Zigarette. Die Glut leuchtete zwar nicht hell genug, um sein Gesicht erkennen zu können, aber so ein dämlicher Spruch fiel nur ihm ein. Außerdem lag sein Balkon direkt neben ihrem.

»Witzig, Bergmann! Mach wenigstens das Licht an, damit ich die verdammte Türe endlich finde!«, rief sie ihm zu. Im selben Moment ging die Hintertür auf, und Michl trat aus dem Haus ins Freie. Rasch ging Sandra auf ihn zu. »Ich bin’s, Michl: Sandra! Ich hab den Lichtschalter nicht gefunden.«

»Sandra! Warum schleichst du dich denn über die Hintertür rein? Vorn ist doch eh noch offen. Kusch, Mephisto! Jetzt halt’s schon zamm!«, rief er dem Hund zu und ließ seinen Hausgast eintreten.

»Zum Glück ist der im Zwinger«, meinte Sandra erleichtert und blieb im Vorraum, der einerseits zum Korridor im Erdgeschoss, andererseits zum Treppenhaus führte, stehen. Michl sperrte die Tür hinter sich zu. Sandra mochte Hunde, aber vor Schäferhunden hatte sie gehörigen Respekt. Immerhin gingen die meisten Bissverletzungen auf das Konto dieser Rasse. Die gefährlichsten Exemplare waren jene aus der Polizeizucht, die schon als Junghunde ausgesiebt wurden, weil sie sich charakterlich nicht für den Dienst eigneten und deshalb an Privatpersonen abgegeben wurden. In den falschen Händen waren diese Tiere wie ungesicherte Waffen, die jederzeit losgehen konnten. Im besten Fall fielen sie irgendwann andere Hunde oder das eigene Herrchen an, im schlimmsten kleine Kinder. Sandra war als junge Polizistin mit einigen tragischen Fällen konfrontiert worden, die sie von Mal zu Mal vorsichtiger werden hatten lassen.

»Untertags ist der Mephisto ganz ein Lieber. Nur im Finstern kann er nicht zwischen Gästen und Einbrechern unterscheiden. Deshalb sperren wir ihn in den Zwinger, bevor’s dunkel wird.«

»Er schlägt also immer an, wenn sich nachts wer hinterm Haus aufhält?«

»Ja. Manchmal sogar bei mir und der Mutter. Kommt ganz auf den Wind drauf an. Ich glaub, er sieht schlecht im Dunkeln. Er erkennt uns wohl erst am Geruch oder an der Stimme.«

»Dann müsstet ihr ihn doch auch in der Mordnacht bellen gehört haben. Die Spuren deuten zweifelsfrei darauf hin, dass Eva Kovacs und ihr Mörder am Zwinger vorbeikamen, bevor sie durch euren Garten in den Wald liefen.«

»Also ich hab nichts gehört. Ich hab tief und fest geschlafen.«

»Wo liegt denn dein Zimmer?«

»Ganz oben. In der Mansarde. Auf der Straßenseite.«

»Verstehe. Und in der Früh bist du dann mit dem Hund in den Wald spazieren gegangen«, wiederholte Sandra seine Aussage, die er unmittelbar nach dem Leichenfund zu Protokoll gegeben hatte.

»Eigentlich wollte ich dort gar nicht hin. Aber als ich den Zwinger aufgesperrt hab, ist der Mephisto hinausgerannt wie ein Irrer und gleich abgezischt in den Wald. Ich hab befürchtet, dass er Wild gewittert hat und bin so schnell ich nur konnte hinter ihm her. Gott sei Dank hab ich die Taschenlampe dabeigehabt. Es war ja noch stockfinster.«

»Der Hund hat leider ganz was anderes gewittert. Schlaues Kerlchen …«

»Magst du noch was trinken? Wir haben gleich Sperrstund.«

»Nein danke, Michl. Ich bin müde und muss morgen früh raus. Wir werden noch einige Leute befragen. Mit dir und der Mizzi tät ich gern beim Frühstück anfangen. Passt euch viertel nach sieben?«

»Wir haben dir und dem Max doch gestern schon alles erzählt, was wir wissen.«

»Mein Kollege Bergmann hat aber auch noch ein paar Fragen an euch. Das ist doch okay, oder?«

»Ja, klar. Brauchts ihr die Branka und den Vilko auch noch einmal?«

Sandra verneinte. Weder hatte sie an das Hausmädchen noch an den schwulen slowenischen Koch weitere Fragen. Als Täter schieden für sie beide aus. Branka hatte ein Alibi – ihr Mann hatte bezeugt, dass sie die ganze Nacht neben ihm geschlafen hatte. Und Vilko kam mit seiner sexuellen Gesinnung, dem zarten Körperbau und Schuhgröße 41 für die Tat ebenso wenig infrage. Sandra glaubte ihm, dass er die Mordnacht schlafend in seinem Bett verbracht hatte, auch wenn es dafür keinen Zeugen gab.

 

»Trinkst du Tee oder Kaffee zum Frühstück?«, erkundigte sich Michl.

»Tee mit Zitrone. Ach ja, noch was: Wird Franziska morgen wieder da sein? Sie arbeitet doch bei euch, oder nicht?« Das hatte ihr Max erzählt und noch einiges mehr über die Familie Edlinger. Oder das, was von ihr noch übrig war.

»Ja, wieso?« Michl wirkte überrascht.

»Ich frage ja nur, weil ich sie noch nicht gesehen habe, seit ich hier angekommen bin.«

»Ach so. Die Franzi konnte nicht arbeiten mit ihrem verstauchten Knöchel. Der war richtig dick angeschwollen. Aber jetzt geht’s ihr schon wieder besser.«

»Wobei hat sie sich denn verletzt?«

»Beim Radlfahrn. Sie ist blöd umgeknickt beim Absteigen.«

»Oje. Na dann, bis morgen.«

»Gute Nacht, Sandra.« Michl ging vorbei an den beiden Türen, die zu den Gästetoiletten führten, in Richtung Gaststube.

Sandra nahm die Treppe in den ersten Stock. Auf halbem Weg stand Bergmann plötzlich vor ihr. »Mein Gott, Sascha! Musst du mich so erschrecken? Mir hat der Hund schon gereicht. Was machst du denn hier im Treppenhaus?«

»Ich wollte nach dir sehen. Nachdem ich das Balkonlicht eingeschaltet und noch mal hinuntergeschaut habe, warst du plötzlich verschwunden.«

»Michl Oberhauser hat mich hereingelassen. Er hat wohl den Hund gehört.«

»Das hab ich doch längst mitbekommen.«

»Hast du etwa gelauscht?«

»Was dachtest du denn? Ich bin Polizist … Komm, gehen wir auf mein Zimmer. Wer weiß, wer uns hier alles zuhört«, flüsterte er.

»Es war ein langer Tag, Sascha. Ich wollte gerade liegen gehen«, protestierte sie.

»Was wolltest du? ›Liegen‹ gehen?«, fragte er grinsend.

»Schlafen gehen, meinte ich. ›Liegen‹ ist der steirische Ausdruck dafür.« Kaum war sie hier, fiel sie automatisch in das ländliche Kauderwelsch ihrer Kindheit zurück.

»Liegen gehen«, wiederholte Bergmann kopfschüttelnd, und Sandra wunderte sich, dass ihm diesmal kein blöder Kommentar über die Lippen kam.

»Was soll ich überhaupt bei dir im Zimmer?«, fragte sie, während sie ihm über die letzten Stufen in die erste Etage folgte.

»Mir bei einem Glas Zweigelt gestehen, dass ich morgen spätestens um sieben Uhr 15 beim Frühstück erscheinen soll, um die Wirtin, ihren Sohn und eine gewisse Franziska, die einen verstauchten Knöchel hat, einzuvernehmen.« Bergmann sperrte die Tür auf und betrat sein Zimmer.

»Das weißt du also schon alles von deinem Lauschangriff«, antwortete sie lächelnd und drehte sich auf dem Absatz um. »Gute Nacht, Sascha«, verabschiedete sie sich und ging eine Tür weiter, um kurz danach in ihrem Zimmer zu verschwinden.

Kapitel 2

Freitag, 17. September

»Sie haben den Hund also gehört, sich aber nichts weiter dabei gedacht?«, wiederholte Bergmann die Antwort der Wirtin. »Dass er überhaupt gebellt hat, fällt Ihnen reichlich spät ein.«

»Das Hundsviech schlägt in der Nacht wegen jeder Fliege an. Das ist doch nichts Besonderes«, rechtfertigte sich Mizzi, die mit den beiden Kriminalbeamten am Frühstückstisch saß, nachdem zuvor ihr Sohn noch einmal ausführlich befragt worden war.

»Fliegen pflegen des Nächtens zu schlafen«, belehrte Bergmann sie und versuchte aufs Stichwort, die Stubenfliege auf dem Tisch mit der bloßen Hand einzufangen. Das lästige Insekt war schneller als er. Es entkam, um wenig später wieder auf dem Tischtuch zu landen und das Frühstück fortzusetzen. Franziska Edlinger servierte Bergmann die zweite Tasse Kaffee. Mizzi starrte den Kriminalbeamten immer noch verständnislos an.

»Michl hat uns schon erzählt, dass Mephisto nachts oft bellt«, erklärte Sandra.

»Noch eine Frage, Frau Oberhauser: Wieso haben Sie eigentlich in aller Herrgottsfrüh die Böden im Erdgeschoss aufgewaschen?«

»Franziska war nicht da. Also hab ich das übernommen.«

»Um sechs Uhr morgens?«, fragte Bergmann ungläubig.

Mizzi zuckte mit den Schultern. »Damit die Böden noch vor dem Frühstück trocken sind«, bestätigte sie erneut. Was aus ihrem Mund so selbstverständlich klang, konnte Bergmann nicht begreifen. »Aber warum denn dieser Aufwand? Wegen eines einzigen Frühstücksgasts?«, fragte er verständnislos.

»In meinem Gasthof ist es immer sauber. Egal, wie viele Gäste da sind. Wir sind ja hier nicht im Saustall. Aber wenn Sie es genau wissen wollen: Zuerst wollte ich nur die Gaststube aufwaschen, das war nämlich dringend notwendig. Und weil ich schon mal dabei war, hab ich gleich den ganzen Flur, die Gästetoiletten und den Korridor sauber gemacht.«

»Alles in einem Aufwasch quasi«, meinte Bergmann.

»Ist Putzen vielleicht ein Verbrechen?«, fragte Mizzi missmutig.

»Nein. Natürlich nicht«, antwortete Sandra und sah dabei die ankommende Franziska an. »Hast du nachher noch ein paar Minuten Zeit für mich?«, fragte sie die große, stämmige Frau, die mit ihr die Schulbank gedrückt hatte. Franziskas schwammiges Gesicht wirkte noch blasser, als sie es in Erinnerung hatte. Ihre klobige Hand zitterte, während sie die Kaffeetasse vor Bergmann abstellte. Sie nickte stumm, dann humpelte sie in Richtung Küche, in der sie schließlich wieder verschwand.

»Sie ist mit den Nerven völlig am Ende«, berichtete Mizzi. »Du weißt doch, dass sie sehr sensibel auf so was reagiert. So ein grausliches Verbrechen …«, sagte die Wirtin zu Sandra.

»Meinen Sie damit den Mord an Eva Kovacs oder den Missbrauch an Frau Edlinger durch den eigenen Vater seinerzeit?«, fragte Bergmann und beobachtete seelenruhig, wie der Zucker aus dem bunt bedruckten Säckchen in seinen schwarzen Kaffee rieselte.

Das war einer jener wenigen Momente, in denen Sandra die Kaltschnäuzigkeit ihres Kollegen bewunderte.

Mizzi schnappte nach Luft und sah erst Bergmann, dann Sandra an. »Hast du ihm das unbedingt erzählen müssen?«, fragte sie vorwurfsvoll.

»Ja, Mizzi. Als Kriminalbeamtin musste ich das tun. Aber falls es dich beruhigt, der Missbrauch an der Franzi ist längst verjährt. Es gab damals weder eine Anzeige noch einen offiziellen Strafantrag, wie du dich sicher erinnerst.«

Bergmann sah Sandra von der Seite an und wandte sich wieder ab, bevor sich ihre Blicke treffen konnten. Sandra wusste selbst, dass ihre Antwort fast wie eine Entschuldigung geklungen hatte. Dieses verdammte Kaff und seine Bewohner ließen sie immer wieder in alte Verhaltensmuster zurückfallen. Ob sie es wollte oder nicht. Sie fürchtete sich schon davor, was das morgige Mittagessen bei der Mutter in ihr auslösen würde. Hoffentlich blieb ihr wenigstens Mike erspart. Es reichte schon, dass er für heute auf dem Programm stand, wenn auch nur dienstlich, was die bevorstehende Begegnung zumindest ein wenig erträglicher erscheinen ließ.

»Was wurde eigentlich aus dem alten Edlinger? Lebt der Mann noch?«, fragte Bergmann.

»Ja«, antwortete Sandra, die Max am Abend zuvor ausführlich zu den Edlingers befragt hatte. Bevor sie wie ein alberner Teenager mit ihm herumgeknutscht hatte, worüber sie sich heute noch mehr ärgerte als gestern. »Franzis Mutter ist inzwischen verstorben, die Geschwister sind längst weggezogen«, konzentrierte sie sich wieder auf den Fall. »Fritz Edlinger hat vor einigen Monaten einen Schlaganfall erlitten«, erzählte sie weiter. »Er kann seither weder sprechen noch sich bewegen. Die Franzi wohnt bei ihm im Haus und pflegt ihn.«

»Sie kümmert sich um ihren alten Vater, so gut sie kann. Wie es sich für eine brave Tochter eben gehört.« Mizzi nickte zustimmend.

Brave Tochter? Sandra traute ihren Ohren nicht. Selbst Bergmann schien zu dieser Aussage kein spontaner Kommentar einzufallen. Hatte Franziska ihrem Peiniger wirklich verziehen und opferte sich, nach allem, was er ihr angetan hatte, auch noch für ihn auf? Oder war sie so sehr ihrer Opferrolle verhaftet, dass sie noch immer nicht anders konnte, als den Bedürfnissen des Täters zu entsprechen? Selbst wenn dieser nur dahinvegetierte und gar nicht mehr in der Lage war, sich zu äußern.

»Der Fritz hat außer der Franzi auch noch eine mobile Pflegehilfe«, fuhr Mizzi fort. »Die Frau Gerlinde von der Caritas schaut morgens und abends bei ihm rein. Das haben die beiden dem Michl zu verdanken. Überhaupt hilft er ihnen, wo er nur kann. Er ist ja so ein braver Bub, mein Michl. Weißt du übrigens schon, dass er die Franzi im nächsten Mai heiraten wird?«, meinte sie zu Sandra. Bevor sie antworten konnte, war Bergmann zur Stelle. »Na, gratuliere.«

Am Tonfall erkannte Sandra, dass sein Sarkasmus zurückgekehrt war. Die Welt war wieder in Ordnung.

»Wie meinen S’ denn das?«, fragte Mizzi skeptisch. Auch ihr war nicht entgangen, dass seine Glückwünsche nicht ganz ehrlich gemeint waren.

Bergmann ließ den Löffel langsam in seiner Tasse kreisen und folgte mit den Blicken der rotierenden Flüssigkeit. »Das meine ich genau so, wie ich es gesagt habe«, erwiderte er emotionslos.

»Hören Sie mal: Die Franzi ist ein braves Dirndl. Auch wenn sie manchmal schwache Nerven hat. Und mein Michl ist ein herzensguter Kerl. Wissen Sie, wir am Land halten noch zusammen, egal was passiert. Gemeinsam schaffen wir nämlich alles. Da könnts ihr Stadtleut euch noch einiges abschneiden. Ihr kennts doch nicht einmal eure nächsten Nachbarn!«, schimpfte die Wirtin.

Sandra wusste nur allzu gut, was Mizzi meinte. Genau vor dieser eingeschworenen Dorfgemeinschaft, der man einfach nicht entkommen konnte, war sie damals geflüchtet.

»Beruhigen Sie sich bitte, Frau Oberhauser. Ich weiß doch, dass bei Ihnen die Welt noch in Ordnung ist. Solange man alles Unangenehme vertuscht. Dummerweise haben wir es hier mit einem Mord zu tun. Der lässt sich nicht so einfach unter den Teppich kehren. Tut mir leid. Da müssen wir hart bleiben.« Bergmann hatte es auf den Punkt gebracht. Das hatte gesessen.

Mizzi stand die Zornesröte im Gesicht. »Tun Sie, was Sie tun müssen. Aber behandeln Sie uns gefälligst mit ein wenig mehr Respekt. Mir ist es wurscht, wer Sie sind. Von einem Großkopferten wie Ihnen lass ich mich nicht beleidigen. Auch nicht, wenn Sie ein Kriminaldings-was-weiß-ich-denn-was sind. Sind Sie jetzt endlich fertig mit Ihrer depperten Fragerei? Ich muss nämlich in die Kuchl.«

»Geh, Mizzi. Der Herr Chefinspektor hat es doch nicht so gemeint.« Natürlich hatte Bergmann es genau so gemeint. Warum, um alles in der Welt, versuchte Sandra schon wieder zu schlichten?

»Warum denn so versöhnlich heute, Frau Kollegin? So kenn ich dich ja gar nicht«, fragte Bergmann, nachdem die wütende Wirtin in der Küche verschwunden war.

»Ich mag auch nicht, was St. Raphael aus mir macht. Deswegen bin ich unter anderem von hier weggezogen.« Sandra seufzte. So ehrlich hatte sie ihm nicht antworten wollen. Zum Glück schwieg er, während sie ihren Tee austrank. Sie musste ihr altes Ich ganz schnell wieder begraben.

Franziska kehrte aus der Küche zurück und hantierte hinter der Schank.

»Ich befrage noch schnell Franziska Edlinger, bevor wir aufbrechen. Alleine, wenn du nichts dagegen hast. Ich befürchte nämlich, dass deine Befragungsmethoden bei ihr einen Nervenzusammenbruch auslösen könnten«, flüsterte Sandra ihm zu.

»Hältst du mich denn wirklich für so unsensibel? Das enttäuscht mich aber schon ein wenig.« Bergmann griff in die Jacke, die über der Lehne seines Stuhls hing, und zauberte eine Zigarette hervor.

»Geh doch schon mal hinaus eine rauchen. Ich komm dann gleich nach«, schlug Sandra vor.

»Bin schon fort.« Bergmann kippte den restlichen Kaffee in einem Zug hinunter und steckte sich die Zigarette in den Mundwinkel. Dann stand er auf und strebte der Tür entgegen.

»Aber bitte nicht im Auto rauchen«, rief Sandra ihm hinterher.

Bergmann winkte ihr, ohne sich umzudrehen, und verließ den Gasthof durch den Haupteingang.

Sandra wandte sich an Franziska. »Magst du dich nicht kurz zu mir setzen? Es dauert bestimmt nicht lang.«

Franziska sah sie unsicher an, stellte das saubere Glas ab, das sie eben aus der Spülmaschine genommen hatte, und humpelte zu Sandra an den Tisch.

»Ich muss dich fragen, was du am 15. September zwischen zwei und halb vier Uhr morgens gemacht hast. Reine Routinefrage, du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, versuchte Sandra ihr Gegenüber zu beruhigen.

Franziska räusperte sich, bevor sie leise antwortete. »Ich war in meinem Bett und habe geschlafen.«

»Kann das irgendjemand bezeugen?«

 

Franziska schüttelte den Kopf und sah auf ihre rissigen Hände. »Der Vater kriegt nimmer viel mit. Die Gerlinde – das ist seine Pflegerin – hat sich kurz nach zwanzig Uhr bei mir verabschiedet. Das weiß ich so genau, weil kurz darauf meine Lieblingskrimiserie angefangen hat.«

»Und danach bist du nicht mehr aus dem Haus gegangen?«

Franziska schüttelte den Kopf, während sie die Krümel am Tischtuch zusammenkratzte. »Nein. Ich hab mich am Heimweg verknöchelt. Beim Radlfahren«, erklärte sie.

»Und der Michl war in der Tatnacht auch nicht mehr bei dir auf Besuch?«

Franziska sah Sandra erschrocken an und bekreuzigte sich. In ihren Augen standen Tränen. Das Verbrechen schien ihr wirklich schwer zuzusetzen. Immerhin war sie selbst ein Opfer sexuellen Missbrauchs, vergegenwärtigte sich Sandra und beschloss, das Gespräch in eine erfreulichere Richtung zu lenken. »Schon gut, Franzi. Ich meinte ja nur, weil ihr doch im kommenden Mai heiraten wollt. Ich finde das übrigens großartig. Gratuliere euch beiden von Herzen!« Sandra schenkte ihr ein ehrliches Lächeln.

Franziska wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und bedankte sich kaum hörbar. Ihre bleichen Wangen hatten auf einmal eine rosige Farbe angenommen, was ihr – wie früher so oft – eine gewisse Ähnlichkeit mit Miss Piggy verlieh, wenngleich sie heute keine hellblonde Lockenmähne mehr trug, sondern eine aschblonde, ausgefranste Kurzhaarfrisur, die vor allen Dingen eines war, nämlich praktisch. Franziska lächelte zaghaft. »Kann ich dann den Tisch abräumen?«, fragte sie.

»Sicher, gleich. Wir sind hier sofort fertig. Nur noch eine Frage: Hattest du Kontakt mit Eva Kovacs? Ich meine, bist du ihr jemals persönlich begegnet – vor ihrem Tod?«

Noch einmal bekreuzigte sich Franziska. Sandra erinnerte sich daran, dass ihr Gegenüber immer schon sehr religiös gewesen war. Ob der Glaube ihr auch geholfen hatte, ihr Schicksal zu bewältigen und ihrem Peiniger zu vergeben? Oder war ihre Gottgläubigkeit der Grund, dass sie ihren Vater geradezu zwanghaft ehrte, wie es die zehn Gebote forderten, obwohl er der Letzte war, der Respekt verdiente?, grübelte Sandra.

»Ich bin dieser Frau nur ein einziges Mal begegnet. Die Mizzi hat mich gleich nach ihrer Ankunft in ihr Zimmer geschickt, um ihr einen Kaffee zu bringen. Sie hat mir dafür zehn Euro gegeben. Der Rest sei für mich, hat sie gesagt.«

»Ziemlich großzügig. Und wann war das?«

»Um halb fünf, in etwa.«

»Und wie lange hast du an diesem Tag gearbeitet?«

»Bis sechs, dann bin ich nach Hause gefahren.«

»Mit dem Fahrrad – und hast dir dabei den Knöchel verletzt«, wiederholte Sandra.

Franziska nickte.

»Hast du einen Hausschlüssel vom Gasthof?«, wollte Sandra wissen.

»Nein. Die Mizzi mag nicht, dass die Angestellten Schlüssel haben.«

»Die Branka hat also auch keinen?«

»Die schon gar nicht. Die Branka ist doch Ausländerin, da ist die Mizzi ganz besonders vorsichtig.«

Sandra beschloss, die Bemerkung zu ignorieren. Die Vorurteile gegenüber Ausländern, auch wenn diese längst österreichische Staatsbürger waren, waren den St. Raphaelern einfach nicht auszureden. Das hatte sie schon damals immer wieder vergeblich versucht und es irgendwann aufgegeben.

»Und wo warst du gestern und vorgestern?«

»Zu Hause. Wegen meinem Knöchel. Ich hab immer wieder für die arme Frau gebetet.« Franziska bekreuzigte sich zum dritten Mal an diesem Morgen.

»Wann und wie hast du denn von der Tat erfahren?«

»Gleich in der Früh, so um halb acht – von der Gerlinde.«

Die stille Post von St. Raphael funktionierte also immer noch hervorragend. »Alles klar, Franzi. Noch eine Bitte hätte ich an dich: Kannst du heute irgendwann in der Polizeiinspektion vorbeischauen? Wir brauchen deine Fingerabdrücke.«

Franziskas Augen weiteten sich erneut vor Schreck.

»Auch das ist reine Routine. Die Abdrücke vom Michl und der Mizzi haben wir schon am Mittwoch genommen. Die von Vilko und Branka auch. Jetzt fehlen nur noch deine, damit wir die Spuren aus dem Gästezimmer abgleichen und jene des Täters herausfiltern können.«

Franziska nickte. »Na, gut. Dann schau ich am Nachmittag vorbei, gleich nach dem Mittagessen.«

»Fein. Wir sehen uns also später.« Sandra erhob sich, um mit Bergmann in die Polizeiinspektion zu fahren. Die morgendlichen Befragungen hatten sie keinen Schritt weitergebracht. Weder Michl noch Mizzi oder Franziska hatten ihnen brauchbare Hinweise liefern können. Vielleicht würde Mike für neue Erkenntnisse sorgen, dem sie auf ihrem Weg ins Büro einen Überraschungsbesuch abstatten wollten. Es war anzunehmen, dass ihr arbeitsloser Halbbruder noch im Bett lag und seinen Rausch ausschlief. Zum ersten Mal war Sandra dankbar, dass Bergmann an ihrer Seite war, um die Befragung zu übernehmen.

Nach zweimaligem Klingeln stand Sandras Mutter in der offenen Haustür. »Sandra? Was machst du denn hier um diese Uhrzeit?«, fragte sie sichtlich verwundert. »Du wolltest doch erst morgen kommen.«

»Hallo, Mama. Das ist mein Kollege, Chefinspektor Sascha Bergmann. Wir müssen dir und Mike ein paar Fragen stellen.«

»Wegen der Toten im Wald?« Sandras Mutter beäugte Bergmann von oben bis unten. Ihr Blick blieb schließlich an seinem rechten Knie hängen, das durch ein kleines ausgefranstes Loch in den ausgewaschenen Jeans hervorblitzte. Die Mutter war bereits angezogen und frisiert und wirkte wie immer sehr gepflegt, wenngleich sie nicht geschminkt war. Make-up fand sie billig. Sie überließ es lieber den Damen des horizontalen Gewerbes, sich das ›Gsicht anzuhiasln‹, wie sie das Schminken nannte. Sandra wusste, dass die zerrissene Hose des Beamten der Mutter ein Dorn im Auge war. Wie alles, was nicht in ihr ordentliches Weltbild passte. Sogar die weich gespülten Unterhosen musste die Mutter noch bügeln.

»Guten Morgen, Frau Feichtinger. Dürfen wir eintreten?«, fragte Bergmann. Offensichtlich war ihm das Namensschild an der Tür nicht entgangen. Sandra hatte ihm nicht erzählt, dass sie als Einzige in der Familie den Namen ihres leiblichen Vaters trug, der inzwischen verstorben war. Anfangs hatte sie eine Adoption durch den Stiefvater trotz ihres zarten Alters vehement abgelehnt. Später war das nicht mehr nötig gewesen, da auch er der Mutter ziemlich rasch abhandengekommen war – kaum, dass Mike das Licht der Welt erblickt hatte.

»In Gottes Namen, kommen Sie halt rein. Aber ziehen Sie sich die Schuhe aus!«, keifte Helga Feichtinger.

»Mama, wir sind im Dienst. Du kannst doch von einem Polizisten nicht verlangen, dass er die Schuhe auszieht«, protestierte Sandra.

»Warum denn nicht? Oder wascht mir die Polizei nachher den Boden auf?«

»Wenn du ernsthaft darauf bestehst, mache ich das morgen«, bot Sandra der Mutter an.

»Nicht nötig. Das schaffe ich gerade noch allein«, meinte Helga Feichtinger schnippisch und führte die beiden Kriminalbeamten in ihren Straßenschuhen in die Küche. »Der Mike schläft aber noch«, fügte sie beleidigt hinzu.

»Das dachte ich mir schon. Kannst du ihn bitte aufwecken?«, fragte Sandra und nahm ihren Platz auf der Eckbank ein.

»Bist du verrückt? Du weißt doch, wie grantig er wird, wenn man ihn so früh aus dem Bett holt.«

Dieser Nichtsnutz soll gefälligst seinen faulen Hintern aus dem Bett bewegen, hätte Sandra ihr am liebsten entgegengeschleudert. Es war unglaublich, was Mike sich alles erlauben durfte, ohne dafür auch nur den geringsten Vorwurf der Mutter zu riskieren. Ganz im Gegensatz zur Tochter, die ihr nie etwas recht machen konnte.

Bergmann nahm ebenfalls auf der Küchenbank Platz und sah auf seine Armbanduhr. »Acht Uhr sieben. Das wird Ihr Sohn schon verkraften. Und wir seine schlechte Laune mit Sicherheit auch«, mischte er sich ein.

»Wenn Sie meinen …« Helga Feichtinger verließ die Küche.