Examens-Repetitorium Familienrecht

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c) Eingetragene Lebenspartnerschaften

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Vor bzw. bis zur Einführung der „Ehe für alle“ hatte der Gesetzgeber gleichgeschlechtlichen Paaren mit dem LPartG[54] die Möglichkeit eröffnet, eine eingetragene Lebenspartnerschaft zu begründen. Die eingetragene Lebenspartnerschaft war keine Ehe i.S.v. Art. 6 Abs. 1 GG; sie stellte ihr gegenüber ein „aliud“ dar. Für die Betroffenen ging es um die Konkretisierung ihrer Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1, Abs. 3 GG im Sinne eines eigenständigen familienrechtlichen Status.[55] Das BVerfG hatte das LPartG als verfassungsmäßig erachtet.[56] Durch die Regelungen des LPartG wurde die eherechtliche Institutsgarantie des Art. 6 Abs. 1 GG nicht berührt,[57] denn die Rechte und Pflichten zwischen Ehegatten wurden nicht geändert, und aus Art. 6 Abs. 1 GG lässt sich kein Benachteiligungsgebot für andere Partnerschaften ableiten.[58] Ehegatten dürfen nur in vergleichbaren Situationen nicht schlechter gestellt werden als andere Partner einer Lebensgemeinschaft.[59]

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Gemessen daran entscheidet sich auch die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Versorgungsausgleichs[60] (Fall 1), der nur Ehegatten trifft. Der Versorgungsausgleich ist verfassungsrechtlich jedoch unbedenklich, weil er die (nur) mit der Ehe verbundene, grundsätzlich lebenslängliche (auch rechtliche) Mitverantwortung für den Partner im Hinblick auf dessen Altersversorgung in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise näher konkretisiert.[61]

Erster Teil Grundlagen › § 2 Verfassungsrechtliche Implikationen › I. „Ehe“ › 3. Art. 6 Abs. 1 GG als „klassisches“ Grundrecht – Abwehr staatlicher Eingriffe

3. Art. 6 Abs. 1 GG als „klassisches“ Grundrecht – Abwehr staatlicher Eingriffe

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Art. 6 Abs. 1 GG gewährt Ehegatten ein subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Maßnahmen, die unzulässig in die „Ehe“ eingreifen.[62] Gewährleistet wird insbesondere die Freiheit der Entscheidung zur Eheschließung, die freie Wahl des Partners,[63] und die Freiheit der Ehegestaltung. Schutzgut ist nicht nur die Ehe als statusrechtliches Institut (dazu Rn. 127), sondern die konkrete, im Rahmen der verfassungsrechtlich garantierten Strukturen gelebte und autonom gestaltete Lebensgemeinschaft.[64] Seinen spezifischen Eigenwert erlangt das Grundrecht durch die Möglichkeit der freien Entfaltung der Persönlichkeit in der Gemeinschaft bzw. in wechselseitiger Selbstbindung durch gegenseitige Verantwortungsübernahme.[65]

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Liegt der mögliche staatliche Eingriff in die eheliche Lebensgemeinschaft in einer Ausweisung eines ausländischen Ehegatten (Fall 1), so ist Prüfungsgegenstand für eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Ausländerbehörden (vgl. Rn. 19) deshalb nicht, ob die Ehegatten ihre Ehe „schlechthin und irgendwo“ fortzuführen in der Lage sind (Möglichkeit der Aufrechterhaltung der Ehe außerhalb Deutschlands), sondern die Frage, ob durch die Ausweisung des Partners die in Deutschland konkret gelebte Ehegemeinschaft in unzulässiger Weise (Art. 6 Abs. 1 GG) beeinträchtigt wird. Eine Gefährdung des Bestands der Ehe kann deshalb nicht schon deshalb verneint werden, weil es dem Ehegatten des Auszuweisenden regelmäßig zuzumuten sei, seinem Partner zu folgen.[66] Gegen den in der Ausweisung liegenden grundgesetzwidrigen Eingriff (Art. 6 Abs. 1 GG) kann sich sowohl der betroffene (ausländische) Ehegatte (Menschenrecht[67]) wie sein Partner als in eigenen Rechten verletzt (Art. 6 Abs. 1 GG) wenden.[68] Die Ausrichtung des Grundrechtsschutzes an der konkreten Lebensgemeinschaft bedeutet andererseits, dass ein aus Art. 6 Abs. 1 GG abgeleitetes Aufenthaltsrecht nur so lange Bestand haben kann wie die Ehe besteht und die Ehegatten nicht getrennt leben.[69] Ob die staatliche Entscheidung dem Grundrechtsschutz des Art. 6 Abs. 1 GG gerecht wird, hängt – weil die Vorschrift den Schutz vorbehaltlos gewährt – entscheidend davon ab, ob die in Bezug genommene, regelmäßig einfach-gesetzliche Norm selbst Ziele von Verfassungsrang verfolgt und die ergangene (Ermessens-)Entscheidung die Qualität des Art. 6 Abs. 1 GG als einer wertentscheidenden Grundsatznorm berücksichtigt hat. Dem trägt das Aufenthaltsgesetz durch die §§ 53 Abs. 2, 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG Rechnung, die bei einer Ausweisung die Berücksichtigung der Folgen für Familienangehörige und Lebenspartner verlangen und bei einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner (Fall 1) einen besonderen Ausweisungsschutz für Ausländer vorsehen.

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Schwierigkeiten bereitet jedoch das Verhältnis zwischen eigenverantwortlicher und gesetzlicher Ausgestaltung in Bezug auf den Inhalt der ehelichen Lebensgemeinschaft. Hier treffen das subjektive Freiheitsrecht und die Institutsgarantie als objektiv-rechtlicher Gewährleistungsdimension aufeinander und müssen in Einklang gebracht werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Grundsatz der Autonomie in Bezug auf die inhaltliche Gestaltung der ehelichen Lebensgemeinschaft zugleich ein institutionell abgesichertes Strukturprinzip der Gewährleistung aus Art. 6 Abs. 1 GG ist, an das der Gesetzgeber gebunden ist; andererseits muss er durch die einfach-rechtlichen Vorschriften gewährleisten, dass die Ehe auch nach einer individuellen inhaltlichen Ausgestaltung dem verfassungsrechtlichen Grundverständnis und ihrer Funktion entsprechend eine Verantwortungsgemeinschaft bleibt. Den Ehegatten insofern völlig freie Hand zu lassen, so dass auch das Charakteristikum der Verantwortungsgemeinschaft zur Disposition der Ehegatten gestellt wäre, würde die Institutsgarantie verletzen. Die „spezifische Eigenart der Freiheit in der Ehe, die gerade in der gegenseitigen Selbstbindung und Verantwortungsübernahme liegt,“[70] kann nicht so weit gehen, dass die übernommene Verantwortung kraft einvernehmlicher Ausgestaltung der Ehegatten auf Null reduziert werden kann. Deshalb ist der Gesetzgeber nicht nur berechtigt, sondern sogar durch die Institutsgarantie verpflichtet, gewisse nicht derogierbare Pflichtbindungen zwischen den Ehegatten gesetzlich vorzuschreiben, die dem verfassungsrechtlichen Verständnis der Ehe als Lebens- und Verantwortungsgemeinschaft Rechnung tragen. Namentlich die gesetzliche Unterhaltspflicht zwischen Ehegatten (§§ 1360 ff., dazu Rn. 170 ff.) stellt deshalb nicht etwa einen Eingriff in das Freiheitsrecht, sondern eine zulässige Inhaltsbestimmung in Ausgestaltung des Instituts dar,[71] das die Ehe als Statusverhältnis von unverbindlichen Formen des Zusammenlebens unterscheidet und abgrenzt. Auch im persönlichen Bereich entspricht es freilich dem Verfassungsverständnis von der Ehe, dass die Ehegatten einander in gelebter gegenseitiger Verantwortung Beistand leisten (was sich einfach-rechtlich etwa in der strafrechtlichen Garantenstellung niederschlägt). Allerdings ist zu berücksichtigen, dass bei der Konkretisierung des institutionell abgesicherten Strukturprinzips der Verantwortungsgemeinschaft auch der Freiheitscharakter des Grundrechts und die übrigen Verfassungsbestimmungen in den Blick genommen werden müssen. Für den höchstpersönlichen Bereich folgt aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG nach der Sphärentheorie des BVerfG,[72] dass jegliche staatlichen Interventionen in die Intimsphäre untersagt sind und im Bereich der Privatsphäre nur ausnahmsweise – keinesfalls aber abstrakt-generell – gerechtfertigt sein können. Im persönlichen Bereich kann das grundrechtliche Bild der Verantwortungsgemeinschaft daher allenfalls eine Verfassungserwartung sein, die der Gesetzgeber nicht durch konkrete Inhaltsbestimmungen verbindlich machen kann. Letztlich wird den Ehegatten durch Art. 6 Abs. 1 GG in seiner freiheitsrechtlichen Dimension die Ausgestaltung der Ehe im persönlichen Innenbereich nach individuellen Vorstellungen vorbehalten, während der Gesetzgeber unter Rückgriff auf die Institutsgarantie inhaltsbestimmend tätig werden darf, um vor allem über vermögensmäßige Pflichten die Ehe als Verantwortungsgemeinschaft zu gewährleisten.[73] An diesem Maßstab müssen sich die bestehenden einfach-rechtlichen Regelungen zur Pflichtbindung in der ehelichen Lebensgemeinschaft messen lassen.

 

Erster Teil Grundlagen › § 2 Verfassungsrechtliche Implikationen › II. „Familie“

II. „Familie“

Erster Teil Grundlagen › § 2 Verfassungsrechtliche Implikationen › II. „Familie“ › 1. Dogmatisch-begriffliche Selbstständigkeit der „Familie“

1. Dogmatisch-begriffliche Selbstständigkeit der „Familie“

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Art. 6 Abs. 1 GG stellt auch die Familie unter den besonderen Schutz des Staates. Daraus ergibt sich eine begrifflich-dogmatische Selbstständigkeit der „Familie“ gegenüber der „Ehe“, aber auch umgekehrt. Die Trennung von Ehe und Familie und die damit getroffene Festlegung beider Rechtsinstitute als jeweils eigenständige, voneinander unabhängige Schutzgüter war nach den Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Indienstnahme der Ehe für eine rassistisch orientierte staatliche Bevölkerungspolitik eine bewusste Entscheidung des Grundgesetzes gegenüber der Weimarer Reichsverfassung (WRV), die die Ehe noch als Grundlage der Familie unter Schutz gestellt hatte.[74]

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Auch wenn eine Ehe nicht mehr besteht oder nie bestanden hat, existiert – heute unbestritten – zwischen einem Kind und dem mit ihm zusammenlebenden[75] Elternteil eine Familie,[76] sei dieser Elternteil ein geschiedener Ehepartner, sei es die Mutter oder der Vater eines nichtehelichen Kindes.[77] Der Familienschutz schließt auch die nichteheliche Familie ein; Art. 6 Abs. 1 GG garantiert insbesondere das Zusammenleben der Familienmitglieder und die Freiheit, über die Art und Weise der Gestaltung des familiären Zusammenlebens selbst zu entscheiden.[78] Den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG hat das BVerfG inzwischen von der rechtlichen Elternstellung gänzlich gelöst: Familie ist die „tatsächliche“ Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen Kindern und Eltern, die für jene die Verantwortung tragen; entscheidend ist die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern. Auch der leibliche (nicht rechtliche) Vater bildet deshalb mit seinem Kind eine Familie, die unter den Schutz des Grundgesetzes fällt, wenn er mit seinem Kind zusammenlebt und tatsächliche Verantwortung übernommen hat (vgl. aber auch Rn. 39).[79] Gegenüber der Ehe als der „Vereinigung eines Mannes und einer Frau zur grundsätzlich unauflöslichen Lebensgemeinschaft“[80] ist die Familie die „umfassende Gemeinschaft von Eltern und Kindern.“[81] Maßgebliche Voraussetzung ist aber, dass es sich um eine „von der staatlichen Rechtsordnung anerkannte Gemeinschaft von Eltern und Kindern“ handelt.[82] Den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG genießen alle „sozialen Familien“,[83] also auch Adoptiv-[84] und Pflegefamilien[85] sowie die Gemeinschaft von Ehepartnern mit Stiefkindern[86] und die sozial-familiäre Gemeinschaft von eingetragenen Lebenspartnern mit dem leiblichen oder angenommenen Kind eines der Partner.[87] – Davon strikt zu trennen ist die Frage, ob den Familienmitgliedern, die die elterliche Erziehungs- und Betreuungsfunktion wahrnehmen, auch das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG zukommt.[88]

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Geschützt wird von Art. 6 Abs. 1 GG nicht nur die Kleinfamilie bestehend aus den Eltern und Kindern, sondern auch die Großfamilie (insb. die Beziehung zwischen Großeltern und Enkeln),[89] wobei die Einbeziehung der Großfamilien in den Familienbegriff des Art. 6 Abs. 1 GG nicht ausschließt, Abstufungen der Intensität des Schutzes zwischen Klein- und Großfamilie vorzunehmen.[90]

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Schließlich unterfällt dem Schutzbereich der Familie auch die Beziehung zwischen einem Elternteil und seinem nicht mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebenden Kind, sofern tatsächliche Verantwortung übernommen wird.

Beispiel:

Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG für den geschiedenen, nicht sorgeberechtigten Elternteil, der aber Umgang mit dem Kind i.S.d. § 1684 Abs. 1 pflegt.[91]

Ausschlaggebend für diese Überlegungen ist ein von der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG entwickelter und inzwischen mehrfach bestätigter materiell-funktionaler Familienbegriff des Art. 6 Abs. 1 GG.

Erster Teil Grundlagen › § 2 Verfassungsrechtliche Implikationen › II. „Familie“ › 2. Materiell-funktionaler Familienbegriff

2. Materiell-funktionaler Familienbegriff

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Fall 2[92]:

Der in Deutschland lebende Ausländer A ist nach mehrmals gescheitertem Asylverfahren ausreisepflichtig und befindet sich in Abschiebehaft. Bis dahin lebte er längere Zeit mit der deutschen F in nichtehelicher Lebensgemeinschaft zusammen. Ihr gemeinsames Kind, für das A die Vaterschaft anerkannt hat, ist ein Jahr alt. A und F wehren sich gegen die Abschiebung. – Abwandlung: A und F sind geschieden. Das Kind wohnt bei F, die auch sorgeberechtigt ist. A bezahlt regelmäßig Unterhalt für das Kind und nimmt die vereinbarten Umgangstermine wahr.

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A selbst kann (im Ausgangsfall von Fall 2) gegen seine Abschiebung Art. 6 Abs. 1 GG in Anspruch nehmen. Er lebt mit seinem Kind zusammen, schafft damit die Voraussetzung, seine Elternverantwortung tatsächlich wahrzunehmen und bildet deshalb mit ihm eine Familie. Gegenüber einem Eingriff des Staates in diese Gemeinschaft schützt das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG. Der Charakter einer wertentscheidenden Grundsatznorm verpflichtet die Ausländerbehörden, diese – möglicherweise auch erst nach Abschluss des Asylverfahrens geschaffene – familiäre Situation zu berücksichtigen. Ist die Lebensgemeinschaft zwischen Vater und Kind nur in Deutschland zu verwirklichen, weil diesem (etwa wegen der Beziehungen zu seiner deutschen Mutter) eine Ausreise nicht zugemutet werden kann, „so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück“.[93]

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Strittig ist aber, in welchem Umfang hier die F den Familienschutz des Art. 6 Abs. 1 GG für sich in Anspruch nehmen kann. Sie kann es jedenfalls, soweit es um den Schutz der Lebensgemeinschaft zwischen ihr und dem Kind geht. In Fall 2 beruft sie sich aber auf ihre nichteheliche Lebensgemeinschaft mit A als einer geschützten Familiengemeinschaft der Elternteile. Ein Teil des Schrifttums verneint einen solchen Schutz und geht bei zusammenlebenden, nicht miteinander verheirateten Eltern und ihren Kindern von zwei Familien (zwei Eltern-Kind-Beziehungen) aus.[94] Dagegen wird für eine Familie geltend gemacht, dass sich der verfassungsrechtliche Schutz der „Familie“ aus der tatsächlichen Lebensgemeinschaft der Eltern mit den Kindern in Wahrnehmung von Pflege und Erziehung herleite. Diese Lebensgemeinschaft umfasse als Einheit auch die beiden Elternteile.[95]

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Das BVerfG hatte lange keinen verbindlichen Familienbegriff formuliert. Es hat zwar davon gesprochen, dass „Konkubinate“[96], auch wenn sie „[…] jahrelang bestanden haben, […] keinen verfassungsrechtlichen Schutz beanspruchen“[97] können, aber diese Entscheidung war „aus dem Gesichtspunkt des Schutzes der Institution Ehe“[98] getroffen worden. Andererseits hat es den Familienbegriff nicht statisch-definitiv umrissen, sondern begreift ihn funktional.

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In einer Leitentscheidung[99] hat das Gericht die funktionale Stufung der Familie i.S.d. Art. 6 Abs. 1 GG näher dargelegt und dabei die unterschiedliche Schutzdichte des Grundgesetzes für die jeweils vorliegende Familienfunktion hervorgehoben. Der Familienschutz des Grundgesetzes bezieht sich als erstes und in seinem Kern auf die Familie als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft. Diese Familie wird „als verantwortliche Elternschaft […] von der prinzipiellen Schutzbedürftigkeit des heranwachsenden Kindes bestimmt“.[100] Mit zurückgehender Erziehungs- und Pflegebedürftigkeit wandelt sich die Familie von einer Lebens- zu einer bloßen Hausgemeinschaft, in der die Mitglieder trotz gemeinsamen Haushalts ein weithin individuelles Leben führen. Nach Auflösung dieser Hausgemeinschaft bleibt die Familie als Begegnungsgemeinschaft erhalten.[101] Die Entfaltung des verfassungsrechtlichen Schutzes (Institutsgarantie, Freiheitsrecht, wertentscheidende Grundsatznorm) wirkt nicht auf jede Familie in vollem Umfang, sondern in dem Maße, in dem von ihren Mitgliedern (Eltern) die beschriebenen Familienfunktionen wahrgenommen werden. So hat das BVerfG im Falle der Adoption eines (auszuweisenden) erwachsenen Ausländers den Maßstab des Art. 6 Abs. 1 GG auf eine bloße Begegnungsgemeinschaft reduziert, die auch durch Besuche, Brief- und Telefonkontakte aufrechterhalten werden könne.[102] Diese vom BVerfG entwickelte funktionale Stufung von „Familie“ und die damit einhergehende, sich im Laufe der Zeit funktionsbedingt ändernde Schutzwirkung des Art. 6 Abs. 1 GG sprechen dafür, (bei gelebter Hausgemeinschaft) gegebenenfalls auch Dritte in den Schutzbereich der Norm einzubeziehen und als Mitglieder der „Familie“ anzuerkennen, sofern auf Dauer von ihnen Familienfunktionen wahrgenommen werden. Die Institutsgarantie gewährleistet (wie beim Eheschutz) ein Recht zu einer Familiengemeinschaft im Bundesgebiet aber nur, wenn sich alle Familienmitglieder rechtmäßig auf Dauer im Bundesgebiet aufhalten.[103] Aufenthaltsrechtliche Schutzwirkung geht dagegen zunächst nur von Art. 6 Abs. 1 GG als wertentscheidender Grundsatznorm aus, der bei ermessensfehlerhafter Rechtsausübung ein Grundrechtsschutz nachfolgt.

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Nach diesen Maßstäben stellt die Gemeinschaft nicht miteinander verheirateter Elternteile eine Familie dar.[104] Das BVerfG spricht von der „durch Geburt entstandenen Familie“[105] und hat diese Auffassung nun im Hinblick auf die Beziehung zwischen dem biologischen (aber nicht im Rechtssinne anerkannten) Vater und seinem Kind deutlich zum Ausdruck gebracht. Danach stellt der Familienbegriff des Art. 6 Abs. 1 GG auf die tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen Eltern und Kind ab, auf die faktische Wahrnehmung der elterlichen Verantwortung.[106] Auch die Gemeinschaft zwischen dem biologischen Vater und seinem Kind bildet deshalb eine Familie: Leben die Eltern mit dem Kind zusammen, besteht eine Familie, nehmen sie getrennt voneinander Verantwortung für das Kind wahr, hat dieses zwei nach Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Familien.[107]

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In Fall 2 kann F deshalb die Ausweisung des A nach Art. 6 Abs. 1 GG angreifen, wenn diese Ausweisung die grundlegende Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG verkannt hat. Dies hängt davon ab, ob von der Ausländerbehörde die hier vorliegende Familie als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft hinreichend gewürdigt wurde. Wäre die F nach den Umständen des Einzelfalls in ihrer Stellung und Aufgabe als Mutter auf die Mithilfe des A (maßgeblich) angewiesen, so dürften allgemeine aufenthaltspolitische Erwägungen eine Ausweisung kaum tragen.

 

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Auch in der Abwandlung von Fall 2 kann sich A auf den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG berufen, weil er für sein Kind maßgebliche Familienfunktionen wahrnimmt, nämlich das Umgangsrecht des Kindes (§ 1684 Abs. 1) als grundlegende Aufgabe im Kernbereich der Familie (Erziehungsgemeinschaft für die leibliche und seelische Entwicklung des Kindes). Dass er mit seinem Kind nicht in häuslicher Gemeinschaft lebt, schließt den Familienschutz des Art. 6 Abs. 1 GG für ihn nicht aus.[108]

Erster Teil Grundlagen › § 2 Verfassungsrechtliche Implikationen › III. „Eltern“ und „Elternrecht“

III. „Eltern“ und „Elternrecht“

Erster Teil Grundlagen › § 2 Verfassungsrechtliche Implikationen › III. „Eltern“ und „Elternrecht“ › 1. Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) und elterliche Sorge (§§ 1626 ff.)

1. Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) und elterliche Sorge (§§ 1626 ff.)

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Die elterliche Sorge (§ 1626) ist der bedeutendste Bestandteil des durch Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG anerkannten Elternrechts. Aber dieses beschränkt sich nicht auf die Wahrnehmung der elterlichen Sorge und ist deshalb von ihr streng zu trennen. Ein Elternteil, dem das Sorgerecht teilweise oder ganz entzogen wurde (§§ 1666 Abs. 3 Nr. 6, 1666a Abs. 2), bleibt dennoch Inhaber und Adressat des Elternrechts i.S.d. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Das zeigt sich etwa darin, dass auch der nicht sorgeberechtigte Elternteil zum Umgang mit dem Kind verpflichtet und berechtigt bleibt (§ 1684 Abs. 1 Hs. 2), dass ihm unter bestimmten Voraussetzungen Entscheidungsbefugnisse gegenüber dem Kind zustehen (§ 1687a) oder dass zur Adoption seines Kindes auch seine Einwilligung erforderlich ist (§ 1747 Abs. 1). Insoweit verbleibt es unabhängig von der Sorgeberechtigung und über die Volljährigkeit von Kindern hinaus bei einer grundsätzlich unentziehbaren und unaufgebbaren Verantwortung, die bleibend an den Status der Elternschaft i.S.d. Art. 6 Abs. 2 GG anknüpft. Dieses Elternrecht erkennt Art. 6 Abs. 2 GG als das „natürliche Recht“ der Eltern an. Grundrechtsdogmatisch bedeutet dies, dass das Elternrecht nicht vom Staat verliehen ist, sondern von diesem als ein ihm vorgegebenes Recht in Art. 6 Abs. 2 GG anerkannt wird.[109] Das Elternrecht wirkt auf die (verfassungskonforme) Auslegung der familienrechtlichen Sorgerechtsvorschriften zurück. Dies hat zu einer grundlegenden Änderung der Regelungen zur gemeinsamen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern geführt: während es das BVerfG zunächst noch für angemessen erklärt hat, dass der Vater bei nicht miteinander verheirateten Eltern nur mit Zustimmung der Mutter ein gemeinsames Sorgerecht erlangen konnte,[110] hat der EGMR in dieser Regelung einen Verstoß gegen Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 8 EMRK gesehen.[111] Darauf änderte das BVerfG seine Auffassung und erklärte §§ 1626a Abs. 2, 1672 a.F. für verfassungswidrig.[112] Bis zum Inkrafttreten der Neuregelung durch das Gesetz zur Reform der elterlichen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern[113] zum 19.5.2013 (vgl. nunmehr §§ 1626a, 1671) waren die Gerichte infolge der Entscheidung des BVerfG übergangsweise verpflichtet, dem Vater die Alleinsorge zu übertragen, wenn eine gemeinsame Sorge nicht in Betracht kam und zu erwarten war, dass die Übertragung der Alleinsorge auf den Kindesvater dem Kindeswohl am besten entspricht.[114]

Erster Teil Grundlagen › § 2 Verfassungsrechtliche Implikationen › III. „Eltern“ und „Elternrecht“ › 2. „Eltern“