Examens-Repetitorium Familienrecht

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Erster Teil Grundlagen › § 2 Verfassungsrechtliche Implikationen

§ 2 Verfassungsrechtliche Implikationen

Inhaltsverzeichnis

I. „Ehe“

II. „Familie“

III. „Eltern“ und „Elternrecht“

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Art. 6 GG stellt Ehe und Familie unter den „besonderen Schutze der staatlichen Ordnung“ (Abs. 1) und erkennt die Pflege und Erziehung der Kinder als das „natürliche Recht“ der Eltern an (Abs. 2 S. 1). Diese für das deutsche Ehe- und Familienrecht grundlegende Verfassungsvorschrift ist in ihrem Abs. 1 (Ehe und Familie) „weder durch einen Gesetzesvorbehalt noch auf andere Weise beschränkt“.[1] Die vorbehaltslose Gewährung in Art. 6 Abs. 1 GG lässt deshalb nur definierende (gestaltende) gesetzliche Regelungen zu (z.B. § 1353 Abs. 1), dagegen keine eingreifenden. Im Falle einer Rechtskollision kann sie nur durch Grundsätze mit Verfassungsrang beschränkt werden, also durch die Grundrechte anderer oder sonstige verfassungsrechtliche Prinzipien.[2] Ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt liegt der Anerkennung des Elternrechts in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG (staatliches Wächteramt) zugrunde.[3] Der Schutz der Verfassung entfaltet sich aber nur im Normbereich der Vorschrift, d.h. nur für die im Sinne des Rechts anerkannten „Ehen“, „Familien“ und „Eltern“. Aus der Einbeziehung in den Schutzbereich der Verfassungsnorm folgt freilich nicht schon, dass der daraus abzuleitende Schutz für alle Grundrechtsträger rechtlich identisch ausgestattet sein müsste. So genießt den Schutz des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG nicht nur der rechtliche (§ 1592), sondern auch der biologische Vater eines Kindes insoweit, als der Gesetzgeber ihnen nicht unüberwindbare Hürden für den Zugang zum Elternrecht auferlegen darf. Das Verfahren zur Erlangung der rechtlichen Elternstellung muss deshalb auch für den biologischen Vater hinreichend effektiv ausgestaltet sein.[4] Das Elternrecht im Sinne dieser Vorschrift ist allerdings nur dem Vater im Rechtssinne zugeordnet.[5] Deshalb kann der biologische Vater neben einem rechtlichen Vater nicht gestützt auf Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG die gleichen Rechte für sich beanspruchen.

15

Die den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG ausgestaltenden Vorschriften des materiellen Rechts (normgeprägter Schutzbereich) müssen mit der Verfassungsnorm vereinbar sein.[6] Als Prüfungsmaßstab beinhaltet diese Norm eine Instituts- oder Einrichtungsgarantie für „Ehe“ und „Familie“[7] und gewährt darüber hinaus als klassisches Grundrecht Abwehrrechte gegenüber staatlichen Eingriffen.[8] Zugleich stellt Art. 6 Abs. 1 GG eine wertentscheidende Grundsatznorm für das gesamte private und öffentliche Recht dar.[9] Soweit die Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 GG als Maßstab gilt, ist eine Prüfung allein unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) ausgeschlossen.[10] Die Bedeutung dieser verfassungsrechtlichen Grundlagen für das private und öffentliche Recht zeigt Fall 1.

Erster Teil Grundlagen › § 2 Verfassungsrechtliche Implikationen › I. „Ehe“

I. „Ehe“

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Fall 1:

Die Eheleute F und M sind mit dem seit zehn Jahren in nichtehelicher Lebensgemeinschaft zusammenlebenden Paar A und B befreundet. M ist Ausländer und wegen einer Straftat verurteilt. Die Ausländerbehörde will ihn deshalb ausweisen; Schutz durch Art. 6 Abs. 1 GG? – A und B halten es ihrerseits für verfassungswidrig, dass ihnen die den Ehegatten F und M gewährten Steuervergünstigungen (Ehegattensplitting) nicht ebenfalls eingeräumt werden. Demgegenüber sehen es F und M als einen Verstoß gegen das Grundgesetz an, dass (nur) sie als Eheleute im Falle einer Scheidung zum Versorgungsausgleich verpflichtet sind. – Als A stirbt, möchte B, die bislang den gemeinsamen Haushalt geführt hat, die von A angemietete Wohnung „übernehmen“.

17

Das Grundgesetz räumt der Ehe (ebenso wie der Familie) als besonderer Beistands- und Verantwortungsgemeinschaft[11] eine Sonderstellung gegenüber allen anderen Formen des menschlichen Zusammenlebens ein. Diese schließt zwar andere Arten und Formen von Lebensgemeinschaften[12] nicht aus, ihr kommt aber unter allen möglichen Lebensformen eine hervorgehobene verfassungsrechtliche Bedeutung zu.[13] Dabei setzt das Grundgesetz die Begriffe „Ehe“ und „Familie“ voraus, ohne sie selbst zu definieren oder zu konkretisieren. Das BVerfG definiert die Ehe in ständiger Rechtsprechung (bei im Detail wechselnden Formulierungen) als „Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft (…), begründet auf freiem Entschluss unter Mitwirkung des Staates, in der Mann und Frau in gleichberechtigter Partnerschaft zueinander stehen und über die Ausgestaltung ihres Zusammenlebens frei entscheiden können“.[14]

Erster Teil Grundlagen › § 2 Verfassungsrechtliche Implikationen › I. „Ehe“ › 1. Art. 6 Abs. 1 GG als wertentscheidende Grundsatznorm

1. Art. 6 Abs. 1 GG als wertentscheidende Grundsatznorm

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In seiner weitreichendsten Dimension als wertentscheidende Grundsatznorm bindet Art. 6 Abs. 1 GG den Gesetzgeber und die Gerichte für die gesamte Rechtsordnung an die verfassungsrechtlichen Gewährleistungsgehalte und verbindlichen Wertentscheidungen der Ehegarantie. Hieraus resultiert für den Staat sowohl ein Gebot, Ehe und Familie durch geeignete Maßnahmen zu fördern und vor Beeinträchtigungen zu schützen, als auch das Verbot, Ehe und Familie zu beeinträchtigen oder zu benachteiligen.[15] In dieser Funktion kommt Art. 6 GG mithin eine positive und negative Schutzdimension zu. Die Schutz- und Förderpflicht bzw. das Benachteiligungsverbot wird insbesondere in Verbindung mit dem gleichheitsrechtlichen Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG relevant: Werden Ehegatten im Vergleich zu anderen Lebensgemeinschaften schlechter behandelt, so „ist bei der Prüfung am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG zu beachten, daß die dem Gesetzgeber zustehende Gestaltungsfreiheit durch die besondere Wertentscheidung des Grundgesetzes in Art. 6 Abs. 1 GG beschränkt ist.“[16]

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Problematisch ist die genaue Abgrenzung der wertentscheidenden Grundsatznorm von der Bedeutung und Funktion der Institutsgarantie.[17] Auch die Institutsgarantie hat sowohl eine negative als auch positive Schutzfunktion, da sie einerseits der Bewahrung eines Kernbestands des Ehe- und Familienrechts dient, andererseits aber auf eine einfach-rechtliche Ausgestaltung durch das bürgerliche Ehe- und Familienrecht angewiesen ist (vgl. noch Rn. 20 ff.). Die Abgrenzung muss daher anhand anderer Merkmale vorgenommen werden, auch wenn eine klare Grenze nicht immer eindeutig auszumachen ist. Der entscheidende Unterschied liegt im Regelungsgegenstand: Während die Institutsgarantie das Eherecht im engeren Sinne betrifft und dort einen Kern an rechtlichen Bestimmungen zur Definition der Ehe sowie zur den Voraussetzungen der Begründung und Beendigung dieser Lebensgemeinschaft garantiert, wirkt Art. 6 GG in seiner Dimension als wertentscheidende Grundsatznorm als Maßstab für alle anderen Regelungsbereiche, die an die Ehe anknüpfen und damit das Institut im weiteren Umfeld rechtlich mitgestalten (z.B. im Erb-, Steuer-, Sozial- oder Ausländerrecht).[18] Über die Figur der wertentscheidenden Grundsatznorm ist es dem BVerfG gelungen, das Fördergebot sowie das Benachteiligungsverbot über das Ehe- und Familienrecht hinaus auszudehnen und für die gesamte Rechtsordnung als bindende Wertentscheidung zu etablieren.[19] Ihre wichtigste Funktion entfaltet sie im Rahmen der Ermessensausübung der Verwaltung (vgl. Fall 1: Ausweisung eines ausländischen Ehepartners; dazu noch Rn. 34). In dieser Dimension drückt sich somit zwar die Wirkungsrichtung und Wirkungsweise des Grundrechts auf andere und in anderen Rechtsgebieten aus.[20] Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Bestimmung des materiellen Eherechts im engeren Sinne folgen aber primär aus der Institutsgarantie sowie dem Freiheitsgrundrecht.

 

Erster Teil Grundlagen › § 2 Verfassungsrechtliche Implikationen › I. „Ehe“ › 2. Art. 6 Abs. 1 GG als Institutsgarantie

2. Art. 6 Abs. 1 GG als Institutsgarantie

a) Ehe als Rechtsinstitut

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In der Funktion als Instituts- bzw. Einrichtungsgarantie sichert Art. 6 Abs. 1 GG die Ehe in ihrer wesentlichen Struktur und schützt „einen Normenkern des Ehe- und Familienrechts“ vor der Aufhebung oder grundlegenden Veränderung durch den einfachen Gesetzgeber.[21] Aus diesem Grunde muss der Gesetzgeber jedenfalls den ungehinderten Zugang zur Ehe gewährleisten (Eheschließungsfreiheit)[22] und dafür Sorge tragen, dass eine Eheschließung möglich ist (z.B. Einrichtung von Standesämtern). Die Institutsgarantie entfaltet negatorische bzw. bei einer den Grundstrukturen zuwiderlaufenden Rechtsetzung sogar derogierende Wirkung.[23] Darüber hinaus setzt sie voraus, dass im einfachen Recht ein Normkomplex existiert, mit dem die verfassungsrechtliche Gewährleistung ausgestaltet wird.[24] Daraus folgt für den Gesetzgeber der Auftrag zur Ausgestaltung des Rechtsinstituts. Schon daran wird das Dilemma deutlich, nämlich dass der Gesetzgeber scheinbar an einen Normenkern des Ehe- und Familienrechts gebunden ist, den er selbst geschaffen und inhaltlich ausgestaltet hat.[25] Diesem Zirkelschluss entkommt man nur dann, wenn man das, was zum änderungsfesten Wesenskern des Ehe- und Familienrechts gehört, nicht „ohne einen jedenfalls in den Strukturelementen selbstständigen verfassungsrechtlichen Begriff von Ehe und Familie“ bestimmt.[26]

21

Dem entspricht es, dass die Institutsgarantie des Art. 6 Abs. 1 GG nach Auffassung des BVerfG nicht nur dadurch verletzt werden kann, dass der Kernbestand des bürgerlichen Ehe- und Familienrechts aufgehoben oder strukturell umgestaltet wird, sondern auch „wenn bestimmende Merkmale des Bildes von Ehe und Familie, das der Verfassung zugrunde liegt, mittelbar beeinträchtigt werden.“[27] Diese, dem grundgesetzlichen Verständnis der Ehe zugrunde liegenden Merkmale begrenzen den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der einfachrechtlichen Ausgestaltung der Ehe, denn die einzelnen Regelungen des bürgerlichen Rechts müssen stets an Art. 6 Abs. 1 GG als vorrangiger, selbst die Grundprinzipien enthaltender Leitnorm gemessen werden.[28]

22

Über den Inhalt der institutionell gewährleisteten Grundstrukturen besteht seit jeher weitgehende Einigkeit: Grundsatz lebenslanger Partnerschaft in gegenseitiger Verantwortung, Monogamie, Verschiedengeschlechtlichkeit (dazu Rn. 23 ff.), Freiwilligkeit der Eheschließung, Formalisierung bzw. Öffentlichkeit der Ehe sowie autonome Gestaltung der Lebensgemeinschaft.[29] Laut BVerfG ergeben sich diese Strukturprinzipien „aus der Anknüpfung des Art. 6 Abs. 1 GG an vorgefundene, überkommene Lebensformen in Verbindung mit dem Freiheitscharakter des verbürgten Grundrechts und anderen Verfassungsnormen.“[30] Durch diese dreifache Fundierung werden die inhaltlichen Grundstrukturen zwar weniger eindeutig bestimmbar, dafür aber anpassungsfähig an ein gewandeltes Verfassungsverständnis, ohne die über Jahrhunderte tradierten Wesensmerkmale der Lebensform der Ehe preiszugeben.[31]

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Nicht aus den Augen verloren werden darf dabei die Funktion der Ehe als Beistands- und Verantwortungsgemeinschaft (Rn. 17), die durch die unabdingbaren Strukturprinzipien gewährleistet werden soll. Angesichts dessen erscheint das lange Zeit unbestrittene Kriterium der Verschiedengeschlechtlichkeit heute nicht nur nicht mehr zwingend, sondern im Gegenteil als überholt. Es handelt sich zwar um ein seit jeher tradiertes Strukturprinzip der Ehe i.S.v. Art. 6 Abs. 1 GG, an dem die Rechtsprechung des BVerfG bisher festhält; da homosexuelle Partner einander jedoch den gleichen materiellen und immateriellen Beistand gewähren und gleichermaßen Verantwortung füreinander übernehmen können wie heterosexuelle Paare, ist die Geschlechtsverschiedenheit nach hier vertretener Ansicht nicht mehr zum verfassungsrechtlich gewährleisteten Kern der Institution Ehe zu rechnen.[32] Auch mit Blick auf andere europäische Rechtsordnungen, die zunehmend die gleichgeschlechtliche Ehe einführen, lässt sich ein solcher Verständniswandel kaum noch leugnen.[33] Diese Einschätzung teilt auch der deutsche einfache Gesetzgeber, der „nun hinreichende Anhaltspunkte für einen grundlegenden Wandel des traditionellen Eheverständnisses“ sieht, „die angesichts der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers die Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts verfassungsrechtlich zulassen“.[34] Im Jahr 2017 wurde deshalb die „Ehe für alle“ eingeführt (vgl. § 1353 Abs. 1 S. 1).[35]

24

In der Gesetzesbegründung wurde ausführlich dargelegt, woran der Gesetzgeber den das Eheverständnis prägenden gesellschaftlichen Wandel festmacht. Während zur Zeit der Verabschiedung des Grundgesetzes Homosexualität noch als sittenwidrig galt und gemäß §§ 175 f. StGB verboten war,[36] änderte sich seit der Aufhebung des strafrechtlichen Totalverbots von männlicher Homosexualität im Jahre 1969[37] nicht nur die rechtliche Praxis, sondern nahm auch die gesellschaftliche Stigmatisierung immer mehr ab.[38] In jüngerer Zeit spiegelt sich das grundlegende Umdenken in der Gesellschaft auf rechtlicher Ebene, worauf die Gesetzesbegründung zutreffend hinweist,[39] in der Einführung des Rechtsinstituts der Lebenspartnerschaft 2001, der darauf bezogenen Rechtsprechung des BVerfG, mit der verbliebene Unterschiede im materiellen Recht Schritt für Schritt für verfassungswidrig erklärt wurden,[40] sowie in den rechtlichen Konsequenzen der Änderung des Transsexuellengesetzes (TSG) wider,[41] durch die erreicht wurde, dass eine Ehe auch nach der Geschlechtsumwandlung eines Ehegatten unter den dann gleichgeschlechtlichen Partnern fortgesetzt werden kann; infolgedessen gab es schon vor der Einführung der „Ehe für alle“ legale gleichgeschlechtliche Ehen in Deutschland.[42] Im Übrigen verweist die Gesetzesbegründung darauf, dass allgemein der gesellschaftliche Wandel bei Auslegung von Art. 6 Abs. 1 GG zu berücksichtigen sei, wobei auch die Entwicklungen in anderen (europäischen) Rechtsordnungen „weitere Anhaltspunkte dafür (böten), dass das Konzept der Geschlechtsverschiedenheit der Ehegatten überholt“ und mit den verfassungsrechtlichen Prinzipien des Respekts vor der Privatautonomie und der Gleichheit vor dem Gesetz unvereinbar sei.[43]

25

In der Literatur wird die Gesetzesänderung indes für mit der Institutsgarantie unvereinbar und daher für verfassungswidrig gehalten; eine Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare sei nur durch eine Verfassungsänderung möglich.[44] Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass der neue § 1353 Abs. 1 S. 1 nicht den Verfassungsbegriff der Ehe einfach-rechtlich bestimmt. Vielmehr ergibt bereits eine vom materiellen Recht losgelöste Interpretation des Verfassungsbegriffs „Ehe“ angesichts der grundlegenden Veränderungen in der Gesellschaft, dass darunter mittlerweile auch gleichgeschlechtliche Beziehungen gefasst werden können und sollten, da ihnen der gleiche verfassungsrechtliche Schutz über Art. 6 Abs. 1 GG gebührt. Diesen vorgelagerten Schritt vollzieht der Gesetzgeber mit der Gesetzesänderung lediglich nach, indem er das – der Ausgestaltung von Art. 6 Abs. 1 GG dienende – materielle Recht an das gewandelte Verfassungsverständnis anpasst. Selbst wenn man (abweichend von der hier vertretenen Meinung) davon ausgeht, dass dieser Schritt der Gleichstellung verfassungsrechtlich (noch?) nicht zwingend geboten sei, so liegt es jedenfalls innerhalb der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, die Ehe auch für homosexuelle Paare zu öffnen.[45]

26

Auch der EGMR geht mittlerweile unter Hinweis auf Art. 9 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union nicht mehr davon aus, dass das durch Art. 12 EMRK garantierte Eheschließungsrecht sich nur auf eine Ehe zwischen Mann und Frau beziehen kann. Allerdings bestehe (noch?) keine Pflicht der Konventionsstaaten, die „Ehe“ gleichgeschlechtlichen Paaren zu öffnen.[46] Es muss jedoch ein gewisser rechtlicher Rahmen geschaffen werden: Seine bisherige Rechtsprechung aufgebend nimmt der EGMR an, dass eine gleichgeschlechtliche stabile de-facto-Partnerschaft nicht nur unter dem Gesichtspunkt des „Privatlebens“, sondern auch unter dem des „Familienlebens“ dem Schutz von Art. 8 EMRK unterfalle.[47]

27

Demgegenüber ist am Lebenszeitprinzip schon deshalb festzuhalten, weil dies die besondere Beständigkeit der Ehe sichert und damit Vertrauensgrundlage für die Ehegatten ist, sich emotional und finanziell vorbehaltlos aufeinander einzulassen.[48] Das steht der Möglichkeit der Scheidung bei Scheitern der Ehe selbstverständlich nicht entgegen, denn an einer rein formalen Aufrechterhaltung der Ehe gegen den Willen der Ehegatten kann die Verfassung nicht interessiert sein.[49]

b) Nichteheliche Lebensgemeinschaften zwischen Mann und Frau

28

Aus der verfassungsrechtlichen Institutsgarantie folgt notwendig die rechtliche Abgrenzung der Ehe zu anderen Formen von nichtehelichen Lebensgemeinschaften (Abstandsgebot). Die Ausdehnung statusrechtlich begründeter Schutz- und Förderungsregelungen auf nichteheliche Gemeinschaften ist ausgeschlossen. Eine analoge Anwendung eherechtlicher Vorschriften auf solche Lebensformen kommt nur dort in Betracht, wo der Anknüpfungspunkt der einzelnen Vorschriften nicht gerade das eherechtliche Band (und die damit verbundenen rechtlichen Konsequenzen, vgl. z.B. § 1353 Abs. 1 S. 2 Hs. 2) ist, sondern etwa das Faktum eines räumlichen Zusammenlebens oder das aus einer persönlich-häuslichen Lebensgemeinschaft herrührende Vertrauen auf die Beibehaltung des bisherigen Mittelpunktes der Lebens- und Wirtschaftsführung. Es berührt deshalb nicht die verfassungsrechtliche Sonderstellung der Ehe, wenn dem Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft der Eintritt in ein Mietverhältnis gemäß § 563 Abs. 2 S. 3 möglich ist (vgl. oben Fall 1),[50] oder wenn der BGH den Regressausschluss des Versicherers gegen Familienangehörige des Versicherungsnehmers gemäß § 67 Abs. 2 VVG a.F. analog auf Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft angewandt hat.[51] Eine Berufung auf Art. 6 Abs. 1 GG ist nichtehelichen Partnerschaften dagegen versagt. Eine mit Art. 6 Abs. 1 GG inhaltlich übereinstimmende andere (einfach-rechtliche) Form einer statusrechtlichen Verfestigung lässt sich für sie auch nicht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG oder aus Art. 3 Abs. 1 GG herleiten. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit schützt zwar auch die von der Ehe abweichenden Formen des Zusammenlebens. Es folgt daraus aber keine Pflicht des Gesetzgebers, hierfür eigene, quasi-eherechtliche Bestimmungen zur Verfügung zu stellen, zumal nichteheliche Lebensgefährten gerade (noch) keine Ehe eingehen wollen.

 

29

Wenn sich A und B deshalb (vgl. oben Fall 1) gegen die Steuerprivilegierung von Ehegatten (Ehegattensplitting) wenden, so können sie sich jedenfalls für ihre Lebensgemeinschaft nicht auf den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG berufen. Denn ihre Lebensgemeinschaft ist keine „Ehe“. In Betracht kommt allenfalls ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und eine unzulässige Beschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), wobei dann zu fragen ist, an welchen Tatbestand die strittige Regelung ihrem Sinn und Zweck nach anknüpft. Ist dieser Tatbestand die „Ehe“ gerade als statusrechtlich verfasste Gemeinschaft – so bei der ehemals steuerlichen Zusammenveranlagung von Ehegatten[52] – und nicht die Ehe als eine (bloß) tatsächlich gelebte Gemeinschaft, so handelt es sich nicht um „Gleiches“, das nach Art. 3 Abs. 1 GG gleich behandelt werden müsste.[53]

30

Ob die künftige Rechtsentwicklung diesen heute noch ganz herrschenden Standpunkt bestätigen wird, ist unsicher. Grund dafür ist die Rechtsprechung des EGMR, der seine Judikatur zu gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften teilweise geändert hat. Er nimmt (bislang nur insoweit) an, dass auch eine stabile de-facto-Partnerschaft den Schutz des Art. 8 EMRK („Familienleben“) genieße (Rn. 26); es erscheint daher nicht ausgeschlossen, dass Gleiches irgendwann für Art. 6 Abs. 1 GG vertreten wird.