Blutheide

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»Gute Idee, aber ich hol uns beiden Hübschen noch schnell was zum Futtern, und dann kannst du mich aufklären. Mir hängt der Magen jetzt schon in den Kniekehlen, der ist halt seine festen Zeiten gewohnt … Currywurst oder Döner?«

»Na, bei der Auswahl … überlass ich dir die Wahl und schließ mich an!«

Katharina sah Tobi kurz nach, als er das Büro verließ. Sie hatte überhaupt nicht bemerkt, dass es schon Mittag war. Gleich nach der Besprechung am frühen Morgen mit Ben hatte sie sich komplett in die Entschlüsselung des Textes auf dem kleinen Zettel vertieft. Sie hatte versucht, die Wortfragmente zu deuten und im Netz zu recherchieren, um einen Zusammenhang der Bruchstücke herzustellen. Sehr weit war sie noch nicht gekommen. Dass Ben sein Büro verlassen hatte, war ihr auch entgangen. Seit sie heute ins Büro gekommen war, hatte sie ihn nur noch einmal bei der Besprechung gesehen und dann später noch einmal kurz, als er ihr einen Becher Kaffee auf den Tisch gestellt hatte, aber mehr als ein kurzes »Danke« war da nicht gewesen. Sie hatte sich komplett an diesem vermeintlichen Beweisstück festgefressen. Hoffentlich lohnte sich das am Ende auch, und das Stück Papier würde sich nicht als alter Einkaufszettel herausstellen! Auf jeden Fall würde ihr – und vor allem ihren Augen – eine kurze Pause mit dem plauderwütigen Kollegen guttun. Er schien das krasse Gegenteil zu Ben zu sein, der ja eher nur das Nötigste über die Lippen brachte. Als Tobi kurze Zeit später mit zwei Tüten vom Dönerladen durch die Tür kam, merkte sie, wie hungrig sie tatsächlich war. Zur Bestätigung knurrte jetzt auch unüberhörbar ihr Magen.

12.57 Uhr

Ben betrat die Terrasse des Hotels Heideglanz. Er hatte beschlossen, sich noch einmal allein und ohne den ganzen Trubel den Tatort anzusehen. Das tat er meistens, wenn er einen neuen Fall auf dem Tisch hatte. Diesmal gab es aber noch einen weiteren Grund, nicht am Schreibtisch über den Fall nachzugrübeln. Er wollte die Gelegenheit nutzen, sich nach der Tatortbesichtigung mit Benedict zu treffen. Nachdem er bereits heute Morgen noch ein paar Stunden in den Akten gewühlt und nach einer möglichen Spur in einem der beiden Mordfälle gesucht hatte, war es an der Zeit gewesen: Er hatte zum Telefon gegriffen und Benedicts Handy-Nummer gewählt. Diesmal hatte er Glück gehabt. Sein Bruder meldete sich schon nach dem zweiten Klingeln, als hätte er nur darauf gewartet. Ben war ohne Umschweife zum Punkt gekommen und hatte Benedict mit den einleitenden Worten: »Ich bin’s, ich denke wir sollten reden!«, um ein Treffen am Abend gebeten. Zu seiner Überraschung hatte sein Zwilling gefragt, ob es auch schon gegen Mittag ginge, da er ab dem späten Nachmittag arbeiten müsse. Er hatte also einen Job in Lüneburg! Ben hoffte darauf, dass es wirklich ein ›normaler‹ Job war. Da offensichtlich beide das unumgängliche Gespräch nicht weiter hinauszögern wollten, hatten sie sich für 13.30 Uhr im Lebrello verabredet. Ben war nervös. Da waren so viele offene Fragen, und gleichzeitig war er gar nicht sicher, ob er alle Antworten wissen wollte. Er sah sich noch einmal in Ruhe auf der Hotelterrasse um, merkte aber, dass er nicht die nötige Konzentration hatte, um eventuell ein wichtiges und nicht auf den ersten Blick erkennbares Detail zu entdecken, und schlenderte langsam über die kleine Brücke in Richtung Innenstadt.

Ben hatte sich gerade einen Tisch im Lebrello gesucht und sich einen Zigarillo angesteckt, als Benedict ebenfalls durch die Tür trat. Die Begrüßung beschränkte sich auf einen Händedruck, und auf beiden Seiten lag die gleiche Unsicherheit in der Luft. Benedict fand zuerst die Worte.

»Ben … ich weiß nicht recht, wie ich anfangen soll. Aber ich weiß, dass ich mich bei dir entschuldigen muss. Nein, möchte. Also, für alles, was du damals für mich getan hast, bin ich dir echt dankbar, auch wenn ich dir das nie gesagt hab. Ich war ein idiotischer Kindskopf, heute weiß ich das. Ich hätte das schon längst tun sollen und nicht erst jetzt, wo ich zurück bin.«

Ben sah seinen Zwilling stumm an, dann räusperte er sich und erwiderte: »Klingt, als wärst du erwachsen geworden, zumindest, wenn ich das glauben kann. Ehrlich gesagt fällt mir das doch etwas schwer nach so langer Zeit und allem, was war. Ich hab damals lange auf ein Zeichen von dir gewartet und irgendwann hab ich mich damit abgefunden, dass es wohl nicht mehr kommt. Dachte ich zumindest.«

»Ich weiß, ich kann nicht erwarten, dass alles wieder so wird wie früher, bevor die ganze Scheiße angefangen hat. Ich kann nur hoffen, dass du mir verzeihen willst und ich dir beweisen kann, dass ich mich verändert hab. Ben, ich bin auch heute kein Chorknabe, aber seit damals gab es keine krummen Dinger mehr, und inzwischen hab ich mein Leben im Griff. Ansonsten wäre ich nicht zurückgekommen, das kannst du mir glauben. Echt.«

»Würd’ ich gern, kleiner Bruder, würde ich wirklich gern.«

Die Bezeichnung ›kleiner Bruder‹ war für Benedict das Zeichen, dass sein um drei Minuten älterer Bruder bereit war, ihm entgegenzukommen, denn damit hatte er ihn immer veralbert. Es war seine Art zu sagen, dass auch er sich eine Annäherung wünschte. Benedict fühlte, wie sich der Kloß in seinem Hals löste. Vielleicht würde ja wirklich alles wieder gut zwischen ihnen.

»Das kannst du auch. Ich hab dazugelernt, wenn auch spät. Du wirst meinetwegen keinen Ärger mehr haben, auch wenn ich jetzt wieder in Lüneburg bin.«

»Das heißt, du bleibst? Es ist also nicht nur ein Kurzjob, sondern was Festes?«

Ben merkte seinem Bruder an, dass er es ernst meinte. Er kannte seinen Bruder noch immer. Er würde merken, wenn Benedict ihm direkt ins Gesicht log. Zumindest wollte er das gern glauben. Trotzdem hatte er Bedenken, zumindest solange er nicht wenigstens etwas mehr wusste. Es würde keinen Sinn machen, die vergangenen acht Jahre zu hinterfragen und aufzuarbeiten, aber er wollte wissen, wo Benedict jetzt stand. Nur dann war er zu einem gemeinsamen Neuanfang bereit.

»Ja, ich bleibe, zumindest hoffe ich das. Man hat mir im Hotel Heideglanz den Job als Barchef angeboten, also zumindest fast. Wenn ich mich in der Probezeit bewähre, dann bekomme ich den Chefposten in einem halben Jahr, wenn der jetzige Barchef ins Ausland geht. Und ich will diesen Job, Ben, das ist für mich ein Sprung nach oben. Du weißt, dass mir die Gastronomie immer gefallen hat, und Barchef in einem solchen Hotel ist ein gutes Sprungbrett. Ich werd mir das nicht vermasseln.«

Ben musste beinahe schmunzeln. »So engagiert habe ich dich noch nie von irgendwas reden hören. Zumindest nicht, wenn es mit Arbeit zu tun hatte. Du scheinst dich tatsächlich mächtig geändert zu haben.«

Benedict nickte. »Ja, und ich werde dir zeigen, dass ich es ernst meine. Versprochen!«

»Okay, dann werde ich versuchen, einen Schlussstrich unter die alten Geschichten zu ziehen. Ob mir das von heute auf morgen gelingt, kann ich nicht beschwören, aber ich bin bereit für einen Neustart. Ich weiß auch nicht, ob ich das irgendwann bereuen werde, aber ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass mir mein Zwilling nicht gefehlt hat.«

15.02 Uhr

»Shit, verdammt! Es kann doch nicht so schwer sein, so ein bisschen Text zu entschlüsseln!« Die junge Kommissarin war kurz vorm Verzweifeln. Außer Kopfschmerzen hatten ihr die Stunden, die sie nun schon über dem vergrößerten Ausdruck des kleinen Stück Papiers, mit den zum Teil stark ausgewaschenen Worten drauf brütete, noch nichts gebracht. Dabei war sie nach der kurzen Döner-Pause mit Tobias, in der sie ihn auf den aktuellen Stand gebracht hatte, motiviert wieder gestartet und sich sicher gewesen, dass sie nicht mehr lang brauchen würde, um den Text zusammenzufügen. Doch mit einem einfachen Lückentext hatte das Ganze irgendwie wenig zu tun. Ein Einkaufszettel war es jedenfalls nicht, die ersten Worte, die sie hatte entziffern können, hatten nichts mit irgendwelchen Konsumgütern zu tun. Umso mehr wurmte es sie allmählich, dass sie nicht weiterkam.

»Wer also … nee, wer alles … sän … sähen … süh … will … scheidet … hm … scheitert.«

Katharina hatte gar nicht bemerkt, dass sie die wenigen komplett erkennbaren Bruchstücke laut vor sich hingemurmelt hatte, bis Tobias zu ihr an den Schreibtisch trat.

»Wer alles sühnen will

der scheitert

Wer vieles sühnen will

der sühnt nur weniges

Wer weniges sühnen will

der sühnt gar nichts

Wer nur sühnen will

was sich sühnen lässt ohne Schaden …

… sorry, weiter komm ich nicht, aber ich glaub, das könnte passen, oder?«

Tobias konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen, als er in Katharinas völlig verwundertes Gesicht sah.

»Ähm … was war das jetzt gerade?« Katharina sah ihn fragend an. Noch während Tobias sprach, hatte sie seine Worte auf dem Zettel verfolgt und die zwei Zeilen passten hundertprozentig. Es waren die Zeilen, mit denen Tobias begonnen hatte.

»Wieso weißt du, was auf diesem dämlichen Zettel steht, obwohl du ihn noch gar nicht in der Hand hattest, während ich mir hier seit Stunden den Kopf zermartere? Und was ist mit dem Rest, den du dann noch dazu gereimt hast?«

»Das is ’n Gedicht von Erich Fried, wenn mich nicht alles täuscht. Ich krieg nur gerade das Ende nicht zusammen. Aber wenn du sagst, dass das, was du da auf deinem Zettel stehen hast, passen könnte, ist es ein Leichtes, das komplette Gedicht zu googeln.«

Tobias drehte sich bereits in Richtung seines Schreibtischs, um am Computer den noch fehlenden Text zu recherchieren, als Katharina ihn aufhielt.

»Stopp, Kollege – so geht das jetzt gar nicht! Erstmal bekomme ich eine Erklärung, warum jemand wie du mal eben so aus dem Effeff ein Gedicht rezitiert, nachdem ich einfach nur ein paar Worte in den Raum gemurmelt hab!«

 

Tobias spielte Entrüstung: »Was heißt denn hier ›jemand wie ich‹, bitte schön! Du hast ja offensichtlich einen tollen ersten Eindruck von mir!«

Katharina war nicht sicher, ob ihr neuer Kollege nur so tat oder wirklich eingeschnappt war, bis Tobias grinsend zugab: »Okay, zugegeben, ich seh sicher nicht gerade aus wie ein Literaturprofessor – zum Glück! Doch Kleider machen eben nicht immer Leute, werte Kollegin. Aber Spaß beiseite. Ich kenn mich da tatsächlich ein bisschen aus. Ist aber ’ne längere Geschichte, ich glaub, die sollten wir jetzt erstmal auf später verschieben. Lass uns lieber überprüfen, ob der Rest auch stimmt. Ich glaub, das Gedicht heißt ›Sühne‹. Gib doch einfach mal die erste Zeile ›wer alles sühnen will‹ bei Google ein.«

Katharina war bereits dabei und hatte auch sofort mehrere Treffer. Sie klickte gleich den ersten an.

»Da ist es:

Wer alles sühnen will

der scheitert

Wer vieles sühnen will

der sühnt nur weniges

Wer weniges sühnen will

der sühnt gar nichts

Wer nur sühnen will

was sich sühnen lässt ohne Schaden

der richtet nur noch größeren Schaden an

Vielleicht muss trotzdem gesühnt sein

aber nicht nur durch Sühne.

Ich fasse es immer noch nicht – das ist es tatsächlich!«

Katharina war zwar immer noch etwas perplex, aber die Freude überwog. Jetzt konnte es weitergehen. Obwohl – womit eigentlich? Der Tote hatte also einen Teil eines Gedichtes bei sich getragen – in einer versteckten Gürteltasche. Das half der Kommissarin, wenn sie ehrlich war, kein Stück weiter. Aber irgendwas war da … wenn sie bloß nicht solche Kopfschmerzen hätte! Plötzlich fiel es Katharina wie Schuppen von den Augen. Sie kramte auf ihrem Schreibtisch nach einer anderen Akte.

Tobias beobachtete die neue Kollegin skeptisch. »Alles klar mit dir, Kollegin?«

Doch Katharina hörte ihn gar nicht. Sie blätterte in der Akte, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte: »Da, da steht’s! Ich wusste doch, dass mir irgendwas bekannt vorkam. Hier guck mal, die junge Frau, die überfahren wurde. In ihrer Handtasche hat man einen kleinen Zettel mit ›irgendeinem Reim‹ gefunden. Er ist hier bei den Beweisstücken aufgeführt, den hat natürlich keiner weiter wichtig genommen. Aber zweimal hintereinander, das ist doch merkwürdig, oder nicht?«

Tobias begann gerade schmunzelnd über die ›unterschätzte Verbreitung kulturellen Gutes in Lüneburg‹ zu sinnieren, als sein Chef Benjamin Rehder mit der Jacke in der Hand in den Raum kam.

»Hi, Tobi, das passt ja bestens, dass du wieder da bist. Ich brauch euch beide – es wurde schon wieder eine Leiche gefunden.«

15.37 Uhr

Benjamin Rehder steuerte den Wagen in Richtung Heiligenthaler Forst. In wenigen Minuten würden sie dort eintreffen. Er war froh, dass Tobias wieder an Bord war. Auch wenn der junge Kommissar oft flapsig und unbekümmert wirkte, in ihm steckte ein guter Kriminalist, das hatte er in der Vergangenheit schon mehrfach bewiesen. Und bei drei Mordfällen innerhalb weniger Tage konnte Benjamin jeden Mann gebrauchen. Okay, auch jede Frau. Bei der neuen Kollegin war er allerdings nach wie vor unsicher, wie er sie einschätzen sollte. Dafür war es noch zu früh. Er hatte sich vorgenommen, ihr möglichst vorurteilsfrei eine reelle Chance zu geben, so wie er es auch mit Tobias gehalten hatte, als dieser vor ein paar Jahren in seine Abteilung gekommen war.

Er musste an Benedict denken. Auch sein Zwilling sollte die Möglichkeit bekommen zu zeigen, dass er sich wirklich geändert hatte. Bei ihrem Gespräch am Mittag hatte Benjamin ihm abgenommen, dass Bene es ernst meinte. Vielleicht war das tatsächlich die Möglichkeit für einen Neuanfang zwischen ihnen. Privaten Stress konnte der Kommissar gerade im Moment nicht gebrauchen. Nicht noch mehr, als er sich selbst schon machte.

Benjamin wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Katharina ihn von der Rückbank aus ansprach: »Ben, ich konnte den Text auf dem Zettel entziffern, den wir bei der Hotelleiche gefunden haben. Oder besser gesagt, wir konnten es. Ohne die Hilfe von Tobias hätte es wohl noch eine Weile gedauert. Es ist ein Gedicht von … Tobi, von wem noch mal?«

»Von Erich Fried. Es heißt ›Sühne‹«, ergänzte Tobias.

Benjamin sah den jungen Kollegen auf dem Beifahrersitz überrascht von der Seite an. »Dass du immer für ’ne Überraschung gut bist, ist mir ja nicht neu – aber Gedichte?«

»Ja ja, ist schon gut, ich erklär’s schon!« Tobias lachte. »Ist ’ne blöde Geschichte, aber wenn sie uns hier weiterhilft, war’s ja wenigstens für irgendwas gut. Also, es gab da mal ’n Mädchen, das ich auf Teufel komm raus beeindrucken wollte. Na ja, und Frauen und Gedichte … das kann ja grundsätzlich nicht schaden. Und die stand total auf so’n Kram. Also hab ich diverse Gedichte auswendig gelernt und bei passender Gelegenheit immer mal eingestreut.«

»Und, hat’s gewirkt?«, wollte Katharina schmunzelnd wissen.

»Na ja, am Anfang schon. Aber ich hab das Ganze dann noch toppen wollen und hab sie mit zu so ’nem Poetry Slam geschleppt. Was mir allerdings nicht klar war: Sie ging davon aus, dass ich mich da auf die Bühne stellen und eigene Gedichte präsentieren würde. Hab ich natürlich nicht, irgendwann is ja mal gut. Das kam schon nicht so gut an bei ihr. Stattdessen hat sie sich dann in so ’nen bärtigen Öko-Typen verknallt, der mutiger war als ich und schwülstig-schmutzige Liebesgedichte von der Bühne geträllert hat. Wahrscheinlich tingelt sie mit dem heute noch von einem Poetry Slam zum nächsten. Keine Ahnung, ich hab sie danach nicht mehr wiedergesehen.«

Benjamin musste lachen. Das war typisch Tobi. »Na, da können wir ja gespannt sein, was für ungeahnte Fähigkeiten noch auf uns warten, die du dir für solche Verführungsfälle antrainiert hast!«

»Hier war es auf jeden Fall Gold wert!«, warf Katharina ein. »Ich hab da übrigens eine Verbindung gefunden, stell dir vor, Benjamin …«

»Wir sind da, sorry, Katharina.« Benjamin hielt den Wagen auf dem Parkplatz am Waldrand an. Schon von Weitem konnten sie erkennen, dass die Spurensicherung bereits im Gang war. »Das besprechen wir später, okay? Jetzt gucken wir erst mal, was uns hier erwartet.«

Als die drei kurze Zeit später am Tatort eintrafen, sah Benjamin, wie Katharina sich Handschuhe überstreifte und gezielt auf die Leiche zuging. Sie ließ den Blick über den Körper der jungen Frau wandern, zu den aufgerissenen Augen, dem Seidenschal um ihren Hals, der ganz offensichtlich als Tatwerkzeug gedient hatte, und dann auf den Bund des hochgeschobenen Rocks, wo Benjamin aus der Entfernung nur einen kleinen weißen Gegenstand erkennen konnte. Er beobachtete, wie Katharina noch näher an die Tote herantrat, sich bückte und einen sorgfältig zusammengefalteten Zettel hervorzog. Sie blätterte ihn vorsichtig auf und machte den Eindruck, als sei sie nicht überrascht, sondern eher beunruhigt. Mit dem Zettel in der Hand wendete sie sich Benjamin und Tobias mit den Worten zu: »Das hatte ich befürchtet. Ganz offensichtlich haben wir es mit einem Serienmörder zu tun.«

16.00 Uhr

Benedict stand hinter der Bar des Hotels Heideglanz und ordnete die verschiedenen Flaschen im Regal. Er stellte sie so hin, dass die Etiketten akkurat nach vorn zeigten, damit die Gäste gleich sahen, was er ihnen zu bieten hatte. Dann machte er sich daran, die Cocktailzutaten und -gläser für den Abend vorzubereiten. Im Heideglanz war heute Mittag eine Busladung Vertriebsleute angekommen, die hier eine Tagung abhielten. Benedict wollte vorbereitet sein, wenn der Trupp nach den Vorträgen und Diskussionen an der Bar einfiel, um – wie es bei solchen Zusammenkünften gern der Fall war – die Nacht zum Tag zu machen. In seine Arbeit versunken merkte er nicht, wie sich ein einzelner Gast an die hinterste Ecke des Tresens setzte. Erst als Benedict die obligatorischen Schälchen mit Knabbergebäck auf der Bar platzierte, sah er den Mann, vor dem eine teure Canon-Digitalkamera auf dem Tresen stand und der ihn jetzt breit angrinste: »Ui, wenn das nicht der abtrünnige Bruder von unserem Stadtcop ist! Hättest du eine Uniform an, hätt’ ich dich glatt verwechseln können. Bene, das nenn ich mal ’ne Überraschung. Auch wieder im Lande und dann gleich so fleißig? So kennt man dich ja nun gar nicht!«

»Na, wenn das nicht der Toffi ist«, kam es gequält von Bene zurück – er hätte jeden Menschen lieber in Lüneburg getroffen als den schmierigen Journalisten, der ihn damals, als er diese Scheiße gebaut hatte, durch seine Berichterstattung noch mehr reingerissen hatte.

»Und wie es aussieht, bist du immer noch hier. Nimmt dich wohl kein anderes Bundesland, was?«, meinte Bene spitz.

»Hola, immer noch der alte Witzereißer! Was machst du hier? Sag bloß, du bist jetzt solide geworden, hä? Oder hast du dich auf Heiratsschwindel verlegt und hoffst, hier als Barmixer einsame Herzen zu erobern oder vielleicht sogar junges Gemüse aufzureißen?«, erwiderte Toffi schlagfertig und sichtlich gut gelaunt.

Bene hatte keine Lust, sich auf eine solche Unterhaltung einzulassen, schon gar nicht an seinem ersten Arbeitstag. Dennoch konnte er sich eine weitere kleine Spitze nicht verkneifen: »Was kann ich dir bringen? Vielleicht einen Tee? Du siehst so verschwitzt aus, dir perlt es ja richtig von der Stirn. Heiße Getränke sind bei heißem Wetter gut.«

Kaum hatte Bene ausgesprochen, piepte Toffis Handy, das neben seiner Kamera auf dem Tresen lag. Er nahm es hoch und las die eingegangene SMS.

»Danke für deine Fürsorge, aber leider kann ich dein Angebot nicht annehmen. Hab grad ’ne Nachricht aus der Redaktion bekommen. Dein lieber Bruder hat schon wieder eine Leiche gefunden, die Arbeit ruft!« Mit diesen Worten erhob der Journalist sich von seinem Hocker und machte Anstalten, zu gehen. Auch Bene wendete sich wieder ab und begann, demonstrativ ein Glas zu polieren. So bekam er nicht mit, wie Christofer Saalbach plötzlich innehielt und seine Kamera ans Auge führte. Bene schaute erst auf, als er das leise Klicken des Auslösers hörte. Sofort blaffte er Toffi an: »Was soll das? Hör gefälligst auf, mich zu fotografieren.«

»Nichts für ungut, alter Freund, ich dachte nur gerade daran, ein Heimkehrer-Special für den Lüneblick zu machen, falls die neue Leiche nichts hergibt. Sag mal, wie lange bist du eigentlich schon wieder hier? Du scheinst Mord und Totschlag irgendwie anzuziehen.« Toffi grinste süffisant. Dann drehte er sich um und ließ Bene hinter seiner Bar wütend zurück.

17.42 Uhr

Benjamin stellte drei Becher Kaffee auf den großen Tisch im Verhörraum, der gleichzeitig oft als Besprechungstisch diente, weil es dort ruhig war. Katharina hatte ihre beiden Kollegen auf dem Weg vom Tatort zurück ins Präsidium über ihre Entdeckung der Parallelen zwischen den drei Leichenfunden informiert. Benjamin hatte es zwar nicht ausgesprochen, aber er war durchaus beeindruckt, dass Katharina die unscheinbare Anmerkung in der Akte des Automordes aufgefallen war. Er selbst hatte dieses Detail bis dahin nicht registriert. Und Katharina hatte recht: Die Tatsache, dass sie bei allen drei Leichen kleine Zettel mit unterschiedlichen Fragmenten aus, wie es schien, ein und demselben Gedicht gefunden hatten, wies auf einen Serienmörder hin. Das bedeutete, dass sie komplett anders an die Fälle herangehen mussten, als bisher gedacht. Weit waren sie bisher ohnehin noch nicht gekommen, da die drei Leichenfunde in kurzen Abständen gemeldet worden waren. Bei der Wasserleiche am Hotel war das vielleicht eher ein Zufall, denn bisher wussten sie noch nicht, wie lange die Leiche bereits im Wasser gelegen hatte.

Benjamin setzte sich zu Katharina und Tobias an den Tisch. »Also«, begann er, »was haben wir bis jetzt? Katharina? Du bist im Moment am besten im Bild, Tobi ist ja gerade erst wieder da. Fass doch mal kurz die Fakten zusammen, damit wir alle auf dem gleichen Stand sind.«

Katharina war hochgradig motiviert. Sie hatte nach dem leicht missglückten Start wieder aufgeholt und war zugegebenermaßen etwas stolz, dass ihr die Zettel mit den Gedichtfetzen als Erster aufgefallen waren. Jetzt musste sie dran bleiben, um Benjamin zu beweisen, dass sie eine gute Kommissarin war. Und auch sich selbst musste sie es beweisen. Dann würde ihrem guten Neubeginn in Lüneburg nichts mehr im Wege stehen – hoffte sie. Sie nahm ihren Notizblock, auf dem sie für sich die bisherigen Fakten zusammengetragen hatte.

»Wir haben drei Leichen«, begann sie mit fester Stimme. »Ein Mann, zwei Frauen. Drei verschiedene Fundorte, drei verschiedene Tötungsarten. Sogar sehr verschieden. Dem ersten Opfer wurde, wie die Obduktion ergeben hat, das Genick gebrochen. Anschließend wurde die junge Frau mit einem Auto überfahren, vermutlich, um den eigentlichen Mord zu vertuschen. Sie war Studentin im fünften Semester und Single, bisher nicht auffällig. Sie kommt aus Lüneburg. Die Eltern haben ihre Tochter bereits identifiziert und warten darauf, dass wir die Leiche für die Beerdigung freigeben. Ich werde gleich veranlassen, dass sie darüber befragt werden, ob sie sich einen Reim auf den Gedichtzettel, der bei ihrer Tochter gefunden wurde, machen können, glaube es aber eher nicht. Das zweite Opfer wurde im Wasser treibend gefunden. Es ist aber davon auszugehen, dass der Mann nicht ertrunken ist, sondern ebenfalls vorher getötet oder zumindest verletzt wurde, weil er – das wissen wir bereits – wenig Wasser in der Lunge hatte. Allerdings müssen wir noch die genauen Ergebnisse der Obduktion abwarten. Eine Identifizierung des Mannes war bisher nicht möglich. Und das dritte Opfer, das du selbst gerade identifiziert hast, Ben – Lara Jüssen, verheiratet, zwei Kinder – ist erdrosselt worden. Habt ihr ihren Mann eigentlich schon erreicht?« Katharina sah die beiden Männer am Tisch fragend an.

 

»Nein, er ist wohl bis zum späten Abend beruflich unterwegs und nicht erreichbar. Die Kinder sind bei den Großeltern«, antwortete Benjamin, der Lara Jüssen noch aus Schulzeiten kannte, jedoch nie näher mit ihr zu tun gehabt hatte.

»Okay«, setzte Katharina wieder an, »die einzige aber dafür ziemlich offensichtliche Parallele sind die Gedichtzettel. Ich kann mir absolut nicht vorstellen, dass das ein Zufall ist. Den Zettel mit dem Gedicht von der ersten Leiche hab ich bereits angefordert, die anderen beiden sind hier. Wir müssen sie jetzt, nachdem wir davon ausgehen können, dass sie vom Täter stammen, noch auf Fingerabdrücke oder andere Spuren untersuchen lassen. Was mir allerdings vorhin schon aufgefallen ist: Sie tragen nicht alle die gleiche Handschrift.«

»Das könnte vielleicht bedeuten«, warf Tobias ein, »dass der Täter seine Opfer gezwungen hat, die Gedichtzeilen selbst aufzuschreiben. Was für ’n kranker Typ!«

»Im Moment können wir noch nicht allzu viel machen. Wir müssen erst die detaillierten Ergebnisse der Obduktion und aus der KTU abwarten, dann wissen wir vielleicht mehr. Ich werde die Zettel als Nächstes aber schon mal ordnen. Vielleicht ergibt sich eine Reihenfolge aus den Fragmenten. Die können wir dann mit den Todeszeitpunkten vergleichen. Vielleicht geht der Täter ja strukturiert vor. Dann sollten wir uns auf jeden Fall auch die Gedichtausschnitte im Zusammenhang mit den jeweiligen Morden noch einmal genau ansehen. Und wenn der Täter seine Opfer wirklich gezwungen hat, das Zeug zu schreiben, dann wird ein Grafologe das erkennen können. Unter Druck schreibt man zwar anders, als wenn man entspannt ist, ich zumindest. Wir sollten also auch zur Sicherheit Handschriftenproben der Opfer besorgen. Dann müssen wir noch prüfen, ob zwischen den Opfern irgendein Zusammenhang besteht. Am ehesten werden wir das über die Befragung der Angehörigen herausfinden.«

Benjamin schien mit seinen Gedanken woanders zu sein. Katharina war dadurch leicht verunsichert, aber Tobi sprach es direkt an: »Was ist los, Ben, dir geht doch schon wieder irgendwas durch den Kopf, das seh’ ich dir doch an!«

Benjamin runzelte die Stirn, sah Tobias eindringlich an und antwortete: »Stimmt. Mir ist da gerade etwas aufgefallen, aber ich muss das noch nachprüfen. Wenn mich nicht alles täuscht, dann hatten wir vor einigen Jahren einen Mord, bei dem Fundort und Leiche genauso aussahen wie bei unserer Toten heute Nachmittag …«

»Weißt du noch, wann das genau gewesen ist?«, fragte Katharina.

»Nein, aber das krieg ich morgen schon raus.« Er blickte Tobias und Katharina auffordernd an. »Ich würde sagen, wir machen Schluss für heute. Ohne die weiteren Ergebnisse von Spusi, KTU und Obduktion kommen wir im Moment sowieso nicht mehr weiter. Mach das mit den Gedichtzetteln auch erst dann, Katharina, genauso wie die Befragung der Angehörigen. Da müssen wir eh noch auf Lara Jüssens Mann warten und sehen, wie er überhaupt mit dem Schock klarkommt. Jetzt lad ich euch erst mal auf einen Einstandsdrink ein – da wir ja nun vollzählig sind. Einverstanden? Und damit wir vielleicht noch ein bisschen kriminalistische Energie schnuppern, gehen wir ins Heideglanz an die Bar, da haben wir den Leichenfundort von gestern genau im Blick.«

Tobias grinste: »Na ja, das ist jetzt nicht so wirklich das, was ich mir unter einem Einstandsdrink vorstelle, aber allemal besser, als hier auf dem Trockenen zu sitzen.« Und schon war er in seinem und Katharinas Büro verschwunden, schnappte sich seine Lederjacke, fuhr den Rechner an seinem Arbeitsplatz runter und rief. »Also los, worauf wartet ihr zwei noch!«

19.33 Uhr

Bene hatte an seiner Bar alle Hände voll zu tun. Wie erwartet war die Vertriebstruppe am frühen Abend bei ihm eingefallen und hielt ihn jetzt auf Trab. Damit hatte er kein Problem – ganz im Gegenteil. Er liebte es, hinter dem Tresen zu agieren, hier und da mit seinen Gästen einen Witz zu reißen oder unverbindlich zu flirten. Jetzt gerade hätte er allerdings einiges darum gegeben, von den trinkfreudigen Gästen nicht so dermaßen in Beschlag genommen zu werden, zumal er heute allein hinter der Bar war. Seine Kollegin, Jana Helm, die ihn an der Bar eigentlich hätte unterstützen sollen, hatte einen Tag Urlaub bekommen. Sie war diejenige gewesen, die die Wasserleiche entdeckt hatte, und stand noch immer ziemlich unter Schock, wie Bene bei Dienstantritt von seinem Chef erfahren hatte. Vor einer Weile waren Ben und Katharina an seinem Tresen aufgetaucht. Beim Anblick von Katharina hatte Benes Herz für einen Moment eine Frequenz höher geschlagen. Was ihn jedoch noch mehr freute, war sein Bruder. Dass Benjamin spontan hier ins Heideglanz zu ihm in die Bar gekommen war, zeigte ihm, dass sein Bruder wirklich bereit war, ihm zu verzeihen. Dies war der erste Schritt in die richtige Richtung, da war Bene sich sicher.

Ben und Katharina hatten noch einen Typen dabei, den er nicht kannte. Benjamin hatte ihn als seinen Kollegen Tobi vorgestellt, der ziemlich verwirrt von einem zum anderen geblickt hatte. Kein Wunder, woher sollte Tobias auch von Benes Existenz wissen. Er war erst nach Benes Wegzug nach Lüneburg gekommen, wie Ben erwähnte. Und selbst wenn er von der Existenz eines Zwillingsbruders gewusst hätte – sie direkt nebeneinander stehen zu sehen, war bei der extremen Ähnlichkeit noch einmal etwas ganz anderes. Früher hatten Ben und Bene sich stets einen Spaß aus solchen Situationen gemacht, doch noch waren sie sich nicht wieder so nahe, wie Bene mit einem kurzen Anflug von Traurigkeit dachte. Dafür war es jetzt an Tobias, der sich wieder gefangen hatte und sich prompt einen Spaß erlaubte:

»Das ist ja ein Ding mit euch! Da fällt mir spontan ein, kennt ihr den: Ein Zwillingspärchen macht zum 18. Geburtstag seinen Führerschein. Beide bekommen von ihrem Vater jeder einen Manta geschenkt. Sagt der eine: ›Pass mal auf, damit wir die beiden Mantas auseinanderhalten können, breche ich an meinem die Antenne ab.‹ Gesagt, getan. Eine Woche geht das gut, dann kommt der andere aus der Stadt wieder und hat auch die Antenne abgebrochen. Sagt der erste: ›Pass mal auf, dann mach ich zum Auseinanderhalten jetzt eine Beule in meinen Kotflügel.‹ Gesagt, getan. Eine Woche geht das gut, dann kommt der andere aus der Stadt wieder und hat auch eine Beule am Kotflügel. Sagt der erste: ›So jetzt bin ich es leid: Du nimmst den roten und ich nehme den weißen‹.«

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