Blutheide

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Gedicht

Und all die seidenen Kissen

Gehörten deinem Mann.

Doch uns schlug kein Gewissen.

Gott weiß, wie redlich untreu

Man sein kann.

Weißt du noch, wie wir’s trieben,

Was nie geschildert werden darf?

Heiß, frei, besoffen, fromm und scharf.

Weißt du, dass wir uns liebten?

Und noch lieben?

Man liebt nicht oft in solcher Weise.

Wie fühlvoll hat dein spitzer Hund bewacht.

Ja unser Glück war ganz und rasch und leise.

Nun bist du fern.

Gute Nacht.

(Joachim Ringelnatz)

Kapitel 3: Dienstag, 03. Mai 2011

04.17 Uhr

Benjamin schaute auf den kleinen Wecker neben seinem Bett. Zuletzt hatte er um kurz nach zwei drauf gesehen, dann war er endlich eingeschlafen, aber schon jetzt war er wieder wach. Sinnlos, nun noch einmal zu versuchen, wieder einzuschlafen. Das kannte er schon. Ihm ging einfach zu viel durch den Kopf. Die unerwartete Begegnung mit seinem Zwilling und dazu noch zwei ungeklärte Mordfälle auf dem Tisch, bei denen ihm bisher jeglicher Lösungsansatz fehlte. Dann auch noch eine neue Kollegin, aus der er nicht richtig schlau wurde. Er war sich ziemlich sicher, dass Katharina und Benedict sich heute Morgen am Tatort nicht zum ersten Mal begegnet waren. Zumindest würde das auch Katharinas merkwürdiges Verhalten erklären, das sie bei der Begrüßung auf der Dienststelle an den Tag gelegt hatte. Benedict war noch nie ein Kind von Traurigkeit gewesen und hatte bisher von kaum einer schönen Frau die Finger gelassen. Und Katharina war durchaus eine attraktive Erscheinung, das war auch Benjamin Rehder nicht entgangen. Wer weiß, vielleicht waren die beiden sich ja viel früher einmal über den Weg gelaufen, schließlich wusste er gar nicht, wo Benedict während der letzten Jahre gesteckt hatte. Das war das nächste Problem – er musste wirklich unbedingt mit Benedict sprechen, und zwar nicht erst, wenn sie sich irgendwann noch einmal zufällig über den Weg laufen sollten. Was machte er hier? Steckte er mal wieder in Schwierigkeiten? War er ganz zurück gekommen in seine Heimatstadt? Wusste er von Julie? Benjamin fragte sich außerdem, ob er selbst durch das Auftauchen seines Zwillings erneut mit Problemen in Lüneburg zu rechnen hatte.

Benjamin rappelte sich auf und beschloss, ins Kommissariat zu fahren. Bevor er sich noch länger schlaflos herumwälzte, konnte er die Zeit lieber nutzen, um etwas Licht in die Fälle zu bringen, die er auf dem Tisch hatte.

05.33 Uhr

Katharina war beim Betreten des Kommissariats etwas komisch zumute. Sie fühlte sich ein bisschen wie ein Eindringling. Nicht nur weil sie neu hier war, sondern auch, weil ihr Dienst eigentlich erst um acht Uhr begann. Aber als sie vor einer Stunde aufgewacht war, hatte sie sofort an den kleinen, durchnässten Zettel gedacht, den sie bei der Leiche gefunden hatte. Durch den plötzlichen Aufbruch mit Benjamin und die Dinge, die sie im Lebrello von ihm über seinen Zwillingsbruder erfahren hatte, war der Zettel komplett aus ihren Gedanken gerutscht. Und als ihr beim Aufwachen wieder einfiel, dass sie das mögliche Beweisstück zum Trocknen auf die Fensterbank gelegt hatte, bekam sie einen Riesenschreck. Was, wenn die Putzfrau den Zettel für Müll hielt und ihn einfach wegschmiss? Sie kannte die Abläufe auf dem Präsidium noch nicht und konnte nicht einschätzen, wann dort die Reinigungskräfte Dienst hatten und wie mit derartigen Dingen umgegangen wurde. Wenn ihr jetzt aus reiner Unachtsamkeit ein wichtiges Beweismittel abhanden gekommen war, konnte sie gleich ihre Sachen packen. Also war sie nur schnell unter die Dusche gesprungen, hatte sich aus den noch nicht ausgepackten Kartons eine Jeans und ein halbwegs glattes T-Shirt geschnappt und war im Laufschritt ins Präsidium gehetzt. Als sie jetzt ihr Büro betrat, ging sie geradewegs auf die Fensterbank zu, ohne erst das Licht einzuschalten. Für ihren Zweck war es hell genug. Die ersten Lichtstrahlen fielen schon durch das Fenster und versprachen einen sonnigen Tag. Doch das nahm Katharina gar nicht wahr – die Fensterbank war leer.

Der jungen Kommissarin klopfte das Herz bis zum Hals – das war das Ende. So etwas durfte einfach nicht passieren, sie war schließlich keine Anfängerin mehr! Eine Chance gab es noch. Sie kniete sich auf den Boden und hoffte, dass der kleine, unscheinbare Zettel von der Fensterbank gefallen war und irgendwo dort unten lag. Sie tastete im Schummerlicht herum, als plötzlich die Deckenbeleuchtung anging und jemand hinter ihr fragte: »Kann ich dir irgendwie helfen?«

Katharina schreckte hoch und knallte mit dem Kopf gegen den Thermostat der Heizung. »Scheiße, das auch noch!«

Sie hob den schmerzenden Kopf und sah Benjamin in der Tür stehen, der sich ein leichtes Grinsen nur schwer verkneifen konnte.

»Mal abgesehen davon, dass es gerade mal halb sechs ist – was machst du da unten? Suchst du vielleicht das hier?«

In seiner Hand hielt Benjamin ein kleines silbernes Tablett, auf dem Katharina den noch immer zusammengefalteten Zettel erkannte. Katharina schwankte zwischen Scham und Erleichterung. Ein bisschen Ärger kam auch noch dazu, da ihr Chef sich offensichtlich über sie lustig machte. Das Schlimmste aber war: Sie konnte ihm das nicht mal verdenken. Musste ja auch superdämlich aussehen, wie sie hier im Dunkeln unter dem Fenster auf dem Boden herumkroch.

»Gott sei Dank, ich dachte schon, der Zettel ist weg! Als ich heute Morgen aufgewacht bin, ist mir eingefallen, dass ich vergessen hatte, ihn von der Fensterbank zu nehmen und …«

»Du hast Glück gehabt«, fiel Benjamin ihr ins Wort. »Unser Reinigungspersonal hat strikte Anweisungen, nichts wegzuschmeißen, was nicht im Mülleimer liegt, oder zumindest nachzufragen, wenn jemand hier ist. Und ich war schon hier, da hat mich die Putzfrau auf den Zettel aufmerksam gemacht.«

»Dann bin ich also nicht die einzige Frühaufsteherin in diesem Kommissariat«, versuchte Katharina die Situation etwas zu entspannen. »Kann ich den Zettel haben? Ich möchte sehen, ob darauf etwas Brauchbares zu lesen ist.«

»Das hatte ich auch gerade vor, aber da du ihn entdeckt hast … hier, dein Job!« Der Hauptkommisar reichte Katharina, die sich inzwischen aufgerappelt hatte, das kleine Tablett mit dem Zettel.

»Wenn du mich brauchst, ich bin in meinem Büro.« Mit diesen Worten drehte Benjamin sich um und verschwand ins Nebenzimmer. Katharina hängte indessen ihre Lederjacke über den Stuhl, setzte sich an ihren Schreibtisch und betrachtete das kleine Stück Papier. Vorsichtig, mit spitzen, behandschuhten Fingern, faltete sie es auseinander. Es ging besser als sie dachte. Bereits kurze Zeit später hielt sie den komplett auseinandergefalteten, unlinierten Notizzettel, der an der oberen Kante aussah, als sei er von einem kleinen Block abgerissen, in der Hand und versuchte, die Worte darauf zu entziffern. Die Schrift war sehr ausgewaschen, an einigen Stellen war gar nichts mehr zu sehen, aber dazwischen gab es überall Wortfragmente. Sie würde versuchen müssen, wie bei einem Rätsel den Lückentext zu füllen. Das könnte dauern, aber möglicherweise war es eine erste entscheidende Spur.

06.47 Uhr

Die Vorbereitungen waren ihm extrem wichtig. Vielleicht sogar wichtiger als die Durchführung selbst. Nicht nur, weil schon beim geringsten Fehler alles für die Katz sein könnte, sondern auch des Gefühls wegen. Bereits bei den Vorbereitungen begann es, angenehm in ihm zu kribbeln. Das hielt dann an, manchmal Tage, bis es schließlich geschafft war. Aktion gelungen. Dieses Gefühl nahm wie eine Droge einen Platz in seinem Körper ein, wurde immer mächtiger und beherrschte ihn und sein ganzes Tun. Über die Zeit hinweg brauchte er eine immer stärkere Dosis von diesem Gefühl, um in seinen Rauschzustand zu verfallen. So hatte er nun für seinen dritten Fall gelernt, die Vorbereitungen zu verfeinern, sie hinauszuzögern und voll Konzentration zu erleben.

Der Akt selbst war natürlich die Krönung. Doch auch das Beobachten, Sondieren und Taktieren danach brachte ihm Befriedigung. Es war die Genugtuung, wie man sie nach einem vorzüglichen Essen verspürt. Wie früher in der Schule nach dem Aushändigen der Zeugnisse, wenn er wieder seine Einsen eingeheimst hatte und die Lehrer ihm mit schiefem Lächeln gratulierten, obwohl sie ihn im Grunde nicht mochten. Ihn insgeheim Streber nannten, aber doch nichts gegen seinen Geist, seine Beharrlichkeit ausrichten konnten und gegen ihren Willen machen mussten, was er ihnen aufdrängte. Während dieses Prozesses kam meist das Fieber. Es setzte langsam ein. War nicht mehr als erhöhte Temperatur, die sich erst bis zu ihrem Gipfel steigerte, wenn wirklich alles vorbei war, erledigt, und er wusste, er hatte mal wieder alle getäuscht. Er erklärte sich das Fieber selbst so, dass er durch die Kontaktaufnahme mit seinen Opfern den ganzen Dreck auf sich lud und am Ende mit dem Fieber wieder ausschwitzte. Darum war es ihm auch lieb. Es machte ihn auf ganz natürliche Weise wieder rein.

Sorgsam packte er sein Material in eine Leinentasche, streifte sich die neuen, ledernen Autofahrerhandschuhe über, nahm die Schlüssel vom Brett, verließ seine Wohnung, die er zweimal abschloss, und ging langsam die Treppenstufen hinunter. Er hatte keine Eile. Er plante immer ausreichend Zeit ein, denn nichts störte die Konzentration mehr als Abhetzerei. Das vorbereitete Auto stand nur eine Straße weiter. Nachdem er eingestiegen war und den Motor gestartet hatte, begann er seine ganz persönliche Hymne zu pfeifen: ›We are the champions‹ von Queen.

Sie stand bereits an der Ecke und wartete. So wie jeden Tag, ausgenommen am Wochenende. Das gehörte ihrer Familie, den zwei kleinen Kindern und dem Ehemann. Sie war keine Schönheit, bei Weitem nicht, aber sie hatte dieses gewisse Etwas um ihren Mund herum, das es ihr einfach machte, andere Menschen für sich einzunehmen. Besonders Männer. So viel wusste er, und er wusste auch, wie weit sie dabei ging.

 

Was den Ausschlag für sie gegeben hatte – sozusagen den Funken überspringen ließ –, war ihre Dreistigkeit. Sie scherte sich nicht um andere, sondern vollzog ihren Lebenswandel in aller Öffentlichkeit. Er hatte sie schon eine Weile beobachtet, bevor seine Entscheidung fiel, denn Unschuldige waren nicht seine Sache. Er legte Wert darauf, dass es passte. Denn wenn die Geschichte es nun einmal vorsah, war er ungern derjenige, der sie umschrieb.

Langsam fuhr er an die Bushaltestelle heran, sie stand dort ganz allein. Die Fenster hatte er gleich nach dem Einsteigen heruntergekurbelt. Das angenehm warme Wetter ließ es zu. Direkt vor ihr hielt er an, beugte sich über die Mittelkonsole und rief ihr zu: »Lara, brauchst du einen Shuttle oder wartest du lieber auf den Bus, weil du dich so gern zwischen verschwitzte Menschen drängelst?«

»Hey, was für eine nette Überraschung! Zu so einem Angebot sag ich nicht Nein«, erwiderte Lara Jüssen, trat an das Auto heran, öffnete ohne Scheu die Beifahrertür und ließ sich in den Sitz fallen. Er hätte nicht gedacht, dass es so dermaßen einfach gehen würde, aber umso besser. Ein kurzer Blick in den Rückspiegel sagte ihm, dass sein Timing perfekt gewesen war – Laras Bus bog in diesem Moment um die Ecke, von der er selbst gerade gekommen war. Er klopfte sich innerlich auf die Schulter, gab seinem laufenden Motor wieder Gas und fuhr los, während Lara sich noch anschnallte.

»Puh«, sagte sie, »bei dieser Hitze ist es wirklich angenehm, nicht im stickigen Bus zu sitzen. Danach bin ich immer reif für ’ne Dusche. Leider konnte ich meinen Chef aber noch nicht überzeugen, eine bei uns im Büro einzubauen. Boa, und du trägst auch noch Handschuhe! Kommst dir dann wohl vor wie ein Cabrio-Fahrer, was? Aber chic sind sie, hast halt nur den falschen Wagen dazu.«

Sie lachte fröhlich auf, fing dann aber an, ungemütlich und mit gerunzelter Stirn auf ihrem Sitz hin und her zu rutschen. »Sag mal, und wieso hast du bei diesem Wetter so dicke Lammfellüberzüge auf deinen Sitzen?«

Er war auf diese Frage vorbereitet. Schnell setzte er ein zerknirschtes Gesicht auf und tat reumütig: »Faulheit. Ist noch aus der frostigen Zeit. Mea culpa.«

Lara ließ ein kurzes »Hm« vernehmen und blickte dann aus ihrem Seitenfenster. »Weißt du denn eigentlich, wo ich arbeite?«

Er nickte nur und fuhr weiter in Richtung des Oedemer Kreisels. Normalerweise versuchte er, so wenig wie möglich mit diesen Menschen zu sprechen, doch diesmal entschloss er sich doch zu ein paar Worten. Warum auch nicht, er kannte sie ja, hatte sie für seinen Plan sogar näher kennenlernen müssen: »Du hast es mal erwähnt, in Kirchgellersen, bei Dr. Rabe als Rechtanwaltsgehilfin, nicht wahr?«

»Stimmt. Wusste gar nicht, dass ich das erzählt hab. Aber dann ist’s ja gut. Und du – wo musst du hin?«

Auch auf diese Frage war er vorbereitet: »Ich hab in Reppenstedt zu tun.«

»Ah«, kam es nur von Lara, damit war das Thema durch.

»Oh, da fällt mir grad was ein«, sagte er mit einem Seitenblick auf seine Mitfahrerin. »Im Handschuhfach liegen ein Notizblock und ein Kugelschreiber, könntest du kurz was für mich notieren?«

»Klar, was denn?«, erwiderte sie entspannt und holte beides aus dem Handschuhfach. »Leg los!«

Nachdem er ihr in die Feder diktiert hatte, schwiegen sie wieder beide. Plötzlich wurde die Stille von Beethovens 9. Sinfonie unterbrochen. Die Musik kam aus Laras Tasche, die im Fußraum lag. Auch diese Situation hatte er einkalkuliert, obgleich seine Reaktion darauf für ihn nicht durchgängig planbar gewesen war. Er musste sich auf sein Improvisationstalent verlassen. Glücklicherweise hatte er davon eine ganze Menge. Gänzlich unvorbereitet war er aber natürlich nicht, und so wusste er, wie oft Laras Handy klingelte, bis die Mailbox ansprang. Von einer Telefonzelle aus hatte er es ein paarmal getestet. Er hatte noch etwa zehn Sekunden Zeit. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie Lara nach ihrer Tasche griff und darin herumwühlte. Im Stillen zählte er die Sekunden. Jetzt hatte sie es herausgefischt, um es gleich an ihr Ohr zu halten. Nur drei Sekunden blieben ihm noch. Er trat fest auf die Bremse. Laras Oberkörper schleuderte hart nach vorn und wurde dann genauso heftig vom Gurt wieder gebremst. Das Handy fiel ihr aus der Hand und rutschte zwischen Mittelkonsole und Sitz. Geschafft. Improvisation geglückt.

»Mann, was soll denn das? Warum bremst du wie ein Irrer?«, fuhr Lara ihn an.

Er schluckte den aufsteigenden Zorn konzentriert hinunter. Derartige Beschimpfungen hatte er in seinem Leben zu oft ertragen müssen – Irrer, Wahnsinniger, Idiot … Nie wieder wollte er das hören, doch die Situation erforderte seine Vernunft. Also sagte er nichts, sondern zuckte nur entschuldigend mit den Schultern.

»War da was?«, fragte sie ihn schon etwas weniger wütend. Natürlich gab er auch darauf keine Antwort. Genervt hob Lara eine ihrer etwas zu schmal gezupften Augenbrauen und fischte nach dem Handy. Ein dreimaliges Piepen ertönte dumpf. Das Zeichen, dass jemand eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen hatte. Dann nichts mehr. Nur noch das Motorengeräusch und Schweigen. Als sie das Handy endlich erwischt hatte, schaute sie drauf, klickte auf die Anruferinformation und sagte mehr zu sich selbst: »War nur mein Mann.«

Sie rief nicht zurück, was mit Sicherheit auch besser für sie war. So dachte er und lächelte stumm in sich hinein.

Inzwischen waren sie am Parkplatz zum Heiligenthaler Forst angekommen. Er bog ein und hielt den Wagen an. Zwei weitere Autos parkten ebenfalls hier, ein blauer Audi und ein anthrazitfarbener Range Rover. Er kannte diese Autos, sie standen jeden Tag um diese Uhrzeit hier. Ihre Besitzer waren Jogger, die in etwa 30 Minuten wieder auf dem Parkplatz einlaufen würden. Zeit genug für sein Vorhaben.

»Warum parkst du hier?«, kam nun die nächste Frage, auf die er bereits gewartet hatte. Wie er das hasste, immer diese Fragerei! Da war Lara nicht anders als andere Frauen.

»Ich war hier gestern joggen und hab mein Handy verloren. Als ich es zu Hause bemerkt habe, war es schon dunkel, da hätte ich mich totsuchen können. Ich brauche nur zwei Minuten und … und wenn du mir hilfst, vielleicht sogar nur eine«, erwiderte er bewusst freundlich und fast ein wenig schmeichlerisch. »Dauert echt nicht lang, es muss hier irgendwo vorn am Weg liegen. Das weiß ich genau, denn kurz davor habe ich noch telefoniert.«

Lara schaute auf ihre Uhr. »Hm, na gut. Ich lieg ja dank dir ganz gut in der Zeit. Aber meinst du im Ernst, das ist da noch? Ich mein, sooo einsam ist es hier ja nicht.«

»Du solltest an das Gute im Menschen glauben, Lara«, meinte er nur und konnte sich dabei ein Grinsen kaum verkneifen. Dann griff er erst nach dem Notizblock, der durch seine Bremsaktion in Laras Fußraum gelandet war und anschließend hinter den Sitz nach seiner Tasche. Er öffnete die Wagentür, ging ums Auto herum und hielt Lara die Tür auf. Während sie zögernd ausstieg, strich sie ihren geblümten Rock glatt und zog ihn sich über die Knie. Er merkte, dass ihr die Situation merkwürdig vorkam, und setzte sicherheitshalber sein einstudiertes, gewinnendes Lächeln auf: »Nimm lieber deine Handtasche mit, du hast schon recht, man weiß ja tatsächlich nie … Allerdings gehen wir nicht weit, es muss wirklich da gleich irgendwo liegen«, sagte er, machte eine vage Handbewegung zum Eingang des dichten Waldes und spazierte langsam in die gezeigte Richtung. Er hörte die Autotür zuklappen und spürte mehr, als dass er es hörte, wie sie ihm folgte. Kurz darauf hatte sie ihn eingeholt.

»Wo muss ich gucken?«, fragte sie, als sie mit wenigen weiteren Schritten den Pfad in den Wald hinein erreicht hatten.

»Irgendwo zwischen der Biegung da hinten und hier«, erklärte er.

Sie nickte und schaute konzentriert auf den Boden, während sie rechts neben ihm herlief. Kurz bevor die Wegbiegung kam, tippte er sie an und zeigte auf einen kleinen Graben auf Laras Seite. Zuvor hatte er sich mit einem Blick nach hinten versichert, dass sie nach wie vor allein an dieser Stelle im Wald waren: »Guck mal, ich glaub da liegt was, das könnte es sein!«

Wie erwartet – sie waren ja alle so berechenbar – trat Lara vor ihm an den Graben heran, um nachzusehen.

»Tatsache! Mann, was für ein Glück!«, rief sie aus und bückte sich, um das Handy, das er gestern Nacht dort platziert hatte, aufzuheben. Genau in diesem Moment schlug er zu. Er hörte mit Genugtuung den dumpfen Ton des Schlages, als seine rechte Handseite ihren Nacken traf, bevor sie kopfüber zu Boden ging. Sie stöhnte und versuchte sich aufzurichten, doch da hatte er schon einen Satz über den Graben gemacht, sie an den Schultern gepackt und ins Dickicht gezogen. Lara bäumte sich mit aller verbliebenen Kraft auf, strampelte mit den Füßen und schaute ihn aus ihren blauen Augen ungläubig an. Noch hatte ihr Verstand nicht eins und eins zusammengezählt, doch es würde nicht mehr lang dauern. Er drückte sie unsanft an den Boden und trat ihr mit seinen eigens für diesen Zweck gewählten schweren Wanderschuhen ins Zwerchfell. Wieder stöhnte sie auf und japste nach Luft. Zum Schreien war sie dadurch momentan nicht in der Lage – ein weiterer Punkt, den er vorausgeplant hatte. Alles lief wie am Schnürchen. Schnell öffnete er seine Tasche und holte den neuen Seidenschal heraus. Er beugte sich über die Frau und schlang ihn ihr um den Hals. Lara öffnete ihren Mund zum Schrei, doch er war schneller und stopfte ihr vom Boden aufgeklaubte Erde in den Mund. Sie würgte, und es sammelte sich Speichel mit Waldboden, Tannennadeln und Gras um ihre geschminkten Lippen. Ihre Nase schleimte, und ihre Beine zappelten, ohne ein Ziel zu treffen, während er auf ihrer Brust kniete und den Schal immer fester zog. Noch immer blickten ihre Augen ihn fragend und ungläubig an, doch nun quollen sie langsam aus ihren Höhlen heraus, ebenso wie die dicken blauen Adern an ihren Schläfen. Er registrierte, wie Laras Beine hinter seinem Rücken ruhiger wurden, sich schwächer bewegten. Kurz darauf waren sie völlig still, und er fühlte nur noch Schlaffheit unter sich. Bevor er sich fast schon bedächtig erhob, füllte er ihre Nasenlöcher und ihren Mund noch einmal mit Waldboden. Er schaute auf die Uhr, machte sich daraufhin behände an seiner Tasche zu schaffen und holte eine aufgezogene Spritze hervor. Jetzt war Eile geboten, wollte er noch vor den Joggern an seinem Wagen sein und klar Schiff machen. Mit der präparierten Spritze trat er wieder an sein Opfer heran, schob ihm den Rock hoch und den schwarzen Spitzentanga herunter. Dann entleerte er den gesamten Inhalt der Spritze auf Laras rasierter Scham. Ihn ekelte es beim Anblick der milchig weißen, sämigen Befruchtungsflüssigkeit, die so lebendig war, wie die daliegende Frau tot. Sachte suchte sie sich ihren Weg zwischen den eben noch zappelnden Beinen hindurch. Beine wie die einer ständig läufigen Hündin, denn genau so hatte sich sein Opfer zu Lebzeiten benommen. Er musste würgen, doch das hielt ihn nicht auf. Aus seiner linken Hosentasche nahm er den Notizblock. Er riss die von Lara beschriebene Seite ab, faltete den Zettel zusammen und klemmte ihn mit vorsichtigen, behandschuhten Fingern unter ihren Rockbund. Gleich darauf stand er auf, raffte, bis auf den Seidenschal, seine wenigen Utensilien zusammen, bedachte die Tote mit einem verächtlichen Blick und zog eine kleine Kamera aus seiner rechten Hosentasche. Als er sein Werk ausreichend fotografiert hatte, machte er sich schnellen Schrittes auf den Rückweg zu seinem Auto.

Sowohl der Audi als auch der Rover standen nach wie vor auf dem Parkplatz. Von ihren Besitzern war noch nichts zu sehen. Kein weiteres Auto war dazugekommen. So was nannte er Glück, denn alles konnte selbst er nicht beeinflussen oder vorbereiten. Ähnlich wie die Sache mit dem Handy und dem Anruf. Das war ihm immer bewusst. Umso minutiöser plante er das, was nicht vom Zufall abhing. Er öffnete seinen Kofferraum, verstaute die Tasche auf einem dort bereitgelegten Lammfell, holte einen Akkuschrauber und seine Nummernschilder hervor und machte sich beflügelt an die letzte Arbeit zu diesem Fall: Geübt löste er die bisherigen Nummernschilder von seinem Auto und schraubte stattdessen die richtigen an. Danach stieg er in den Wagen ein, summte die Anfangsklänge von Beethovens Neunter, ließ diese dann übergehen in ›We are the champions‹ und fuhr die wenigen Kilometer zurück in Richtung Lüneburg.

Kurz bevor er den Ortseingang erreichte, bog er in einen Feldweg ab und fuhr ihn entlang, bis er, wie er wusste, von der Straße aus nicht mehr zu sehen war. Nachdem er ausgestiegen war, holte er aus seinem Kofferraum einen alten Kartoffelsack, sammelte alle Lammfellbezüge zusammen und stopfte sie hinein. Dann begann er, sein bis auf den letzten Knopf geschlossenes Hemd sowie seine Jeans aufzuknöpfen. Als er sich aus beidem herausgepellt hatte, kamen die Klamotten mitsamt den Wanderschuhen und Socken ebenfalls in den Sack. Nun stand er zwar barfüßig, aber durchaus angezogen auf dem Feldweg, da er unter Jeans und Hemd sein kurzes Radlertrikot trug. Zuletzt wanderten die Leinentasche mit dem Werkzeug und die Handschuhe in den Kartoffelsack, über den er nun noch einen blauen Müllbeutel zog. Anschließend verstaute er alles wieder im Kofferraum, zog die dort bereitliegenden Sandalen an und fuhr endgültig zurück nach Lüneburg. Das würde gleich ein schönes Feuerchen geben. Er hatte sich dafür eine kleine Lichtung an der Ilmenau, dem Fluss, der Lüneburg durchzog, ausgesucht. Auf der Lichtung verbrannten die Leute im Herbst ihr Laub, und die Jugend traf sich hier an Sommernachmittagen zum Grillen und Chillen. Doch jetzt war es noch früh. Um diese Zeit würde sich niemand hierher verirren, auch das wusste er aufgrund seiner Beobachtungen.

 

Zur Arbeit würde er heute nicht mehr gehen, er hatte für diesen Tag bereits genug getan. Oder, na ja, vielleicht würde er doch gehen. Es könnte interessant werden, das spürte er … irgendwie.

11.03 Uhr

Benedict schlug die Augen auf, und das Sonnenlicht, das durch das vorhanglose Fenster fiel, blendete ihn. Er würde sich dringend Jalousien zulegen müssen.

Sein Kopf dröhnte und erinnerte ihn daran, dass er auch am vergangenen Abend wieder länger im Krass rumgehangen hatte, als gut für ihn war. Bene, Bene, dachte er, du wirst alt. Früher hast du so was lockerer weggesteckt. In Wirklichkeit wusste er aber genau, was er da nicht so gut weggesteckt hatte. Das Zusammentreffen mit Benjamin ging ihm immer wieder durch den Kopf. Sein Bruder hatte eiskalt reagiert. Da war kein Fünkchen Freude in seinem Gesicht zu lesen gewesen, obwohl er nicht mit der Begegnung hatte rechnen können. Benedict wusste selbst nicht, wie er sich die Situation vorgestellt hatte, aber vermutlich hatte er gehofft, sein Bruder würde ihm ungeachtet der Vergangenheit einfach vor Freude um den Hals fallen, und alles wäre vergessen. Aber das hätte er eigentlich besser wissen müssen. Er hatte Benjamin verletzt – wie sehr, das wurde ihm jetzt erst so richtig klar. Immer und immer wieder hatte Benjamin ihn aus dem Dreck ziehen müssen, und beim letzten Mal war Bene deutlich zu weit gegangen. Sein Bruder hatte für ihn die eigene Polizeikarriere aufs Spiel gesetzt, und er, Bene, hatte ihm nicht einmal dafür gedankt. Im Gegenteil: Sang- und klanglos hatte er sich aus dem Staub gemacht. Benedict schämte sich heute noch dafür, und gerade das machte es ihm so schwer, sich bei seinem Bruder zu entschuldigen. Aber da würde er jetzt nicht mehr drum herum kommen. Er wollte hier in Lüneburg neu anfangen und er hatte nicht vor, seinen Bruder erneut zu enttäuschen. Nicht, dass er jetzt unbedingt ein Spießerleben für sich geplant hatte, Gott bewahre. Aber er würde keine krummen Dinger mehr drehen. Diese Zeiten waren endgültig vorbei. Die Frage war nur, ob Benjamin ihm das glauben würde. Der neue Job im Heideglanz war auf jeden Fall ein Anfang. Und sobald sich die Gelegenheit ergab, würde er seinen Bruder um eine Aussprache bitten.

Mit Schwung schlug Bene die Bettdecke zurück und sprang aus dem Bett. Zwar dröhnte ihm dabei mächtig der Kopf, aber er befahl sich selbst, das zu ignorieren. Dann streckte er sich einmal kräftig, gähnte herzhaft und war gerade auf dem Weg ins Bad, als sein Handy klingelte. Ohne auf das Display zu gucken, nahm er ab und erkannte die Stimme am anderen Ende sofort – sie war seiner eigenen zum Verwechseln ähnlich: »Ich bin’s, ich denke wir sollten reden!«

12.47 Uhr

»Hey, schätze mal, du bist die Neue?!«

Katharina schreckte hoch. Sie hatte nicht gehört, dass jemand das Büro betreten hatte. Vor ihr stand ein etwas dicklicher Typ, sie schätzte ihn auf Mitte 30, mit schlabbrigen Jeans und einem St.-Pauli-Shirt unter der Sweatshirtjacke. Auffordernd streckte er ihr die Hand entgegen.

»Ich bin Tobi, Tobias Schneider, hast ja bestimmt schon von mir gehört!«

»Um ganz ehrlich zu sein – nein.« Katharina wusste nicht recht, wen sie da vor sich hatte und antwortete ziemlich kühl: »Ich bin Katharina von Hagemann, und ja … ich habe gestern hier angefangen.«

»Das ist ja wieder typisch, da ist man mal ein paar Tage nicht hier und schon ist man vergessen. Mann, Mann, trauriger Laden hier. Also, dann hol ich das mal nach: Ich bin dein Kollege, genauer gesagt dein Teampartner, Kommissar Tobias Schneider, geboren in Oldenburg, seit vier Jahren in Lüneburg und davon die meiste Zeit hier in dieser Bude. Hab dir also ein bisschen was voraus, was Stadt und Leute angeht, und werd versuchen, dir das Leben nicht allzu schwer zu machen. Das ist nicht mein Ding, ist viel zu anstrengend. Also, wenn du nicht einen auf Oberzicke machst, werden wir zwei schon klarkommen. Du bist also Katharina …«

Katharina konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Was für eine Laberbacke! Aber irgendwie nicht unsympathisch, sie hätte es deutlich schlimmer treffen können. Wenigstens war Tobi ein Mann und keine Teamkollegin. Das hätte sie vermutlich zu sehr an Helen erinnert, ihre Kollegin aus München, die zugleich ihre beste Freundin gewesen war. Ach, Helen … Katharina schüttelte ihren Kopf, um die aufsteigenden Erinnerungen daraus zu vertreiben. Für Tobi sah es jedoch so aus, als ob die neue Kollegin sich darüber ärgerte, dass ihr bisher niemand von ihm erzählt hatte.

Katharina seufzte einmal auf, dann erklärte sie: »Sorry, aber mir hat bisher wirklich keiner was von dir gesagt. Wir hatten seit gestern Morgen hier aber auch nicht gerade viel Zeit zum Plaudern, wenn ich ehrlich bin. Da ist das sicher einfach untergegangen.«

Tobias Schneider rollte übertrieben mit den Augen. »Schon klar, du musst die Jungs nicht in Schutz nehmen, das ist wohl mein Schicksal, dass ich immer vergessen werde, ich kenn das schon.«

»Kaum zu glauben, bei deinem Redeschwall …« Katharina grinste den neuen Kollegen an.

»Touché, Madame«, Tobias deutete aus Spaß eine Verbeugung an. »Ich merk schon, das wird ein munterer Schlagabtausch mit uns beiden. Kein Problem, auch das kenn ich, Frauen stehen nun mal auf Typen wie mich!«

Katharina war nicht sicher, ob er das ernst gemeint hatte, oder ob das seine Form von Selbstironie war, denn wenn Tobias eines ganz sicher nicht war, dann ein klassischer Frauentyp!

»Wo sind denn Ben und Mausi überhaupt, Kollegin?«, fragte Tobi, bevor Katharina wieder zu Wort kam.

»Mausi?«

»Na, dein Oberboss, Stephan Mausner. Den wirst du ja wohl schon kennengelernt haben, das lässt der sich doch nicht nehmen, die hochoffizielle Begrüßung selbst vorzunehmen.«

Katharina musste lachen. »Mausi, soso. Ja, Herrn Mausner hab’ ich in der Tat gestern kennengelernt.«

»Na also, dacht’ ich mir’s doch. Ich war übrigens ein paar Tage zur Fortbildung, sonst hätt’ ich dich natürlich gleich in die Geheimnisse unserer Lüneburger Dienststelle eingeweiht.«

»Wir werden ja vermutlich noch genug Gelegenheit dazu haben«, erwiderte Katharina, »außerdem haben wir zwei Fälle auf dem Tisch, mit denen sollte ich dich wohl erst mal vertraut machen.«