Blutheide

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

»Frau von Hagemann«, setzte Rehder auch prompt an, »da drüben, die junge blonde Frau, das ist Jana Helm. Sie arbeitet hier im Service und hat die Leiche entdeckt. Würden Sie bitte eine erste Befragung vornehmen?«

»Klar, mach ich«, antwortete Katharina. Sie hatte also eben mit ihrer Vermutung richtig gelegen, dachte sie, während sie sich auf den Weg zu der jungen Frau machte, die nach wie vor verängstigt in der Ecke saß.

10.09 Uhr

Bene hatte sich ein wenig abseits gestellt und beobachtete aus den Augenwinkeln die Frau, mit der er die letzte Nacht verbracht hatte und die sich in den frühen Morgenstunden aus seiner Wohnung geschlichen hatte. Natürlich hatte er es bemerkt, doch er hatte sie nicht zurückgehalten. Ihm war es ganz recht gewesen – bloß keine Verbindlichkeiten! – und außerdem war er davon ausgegangen, ihr sowieso bald wieder über den Weg zu laufen. Das ließ sich im überschaubaren Lüneburg kaum vermeiden und war ganz in seinem Sinn. Dass er sie allerdings dermaßen schnell wiedersehen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Irgendwie freute er sich, obwohl die Umstände nicht gerade seinen Vorstellungen entsprachen.

Katharina gehörte durchaus zu der Kategorie Frau, die ihn auch ein zweites Mal reizen würde. Schon allein deshalb, weil sie einfach so sang- und klanglos aus seinem Bett verschwunden war. Für ihn war das ein Zeichen von Souveränität, die er eher selten bei Frauen erlebt hatte, die er sonst so abschleppte. Normalerweise wollten sie nach einer gemeinsamen Nacht auch noch ein gemeinsames Frühstück und machten keinen Hehl daraus, auf der Suche nach einem männlichen Gegenstück zu sein. Es war nicht immer das reinste Vergnügen, ihnen klar zu machen, dass er genau dafür nicht zur Verfügung stand. Katharina aber imponierte ihm. Wie er in der vergangenen Nacht mehrmals hatte feststellen können, war sie eine Frau, die wusste, was sie wollte. Bei diesem Gedanken musste er schmunzeln. Oh ja, sie wusste sogar sehr genau, was sie wollte, und das hatte mächtig Spaß gemacht. Viel geredet hatten sie zwar nicht gerade, aber trotzdem hatte er irgendwie das Gefühl, mit ihr auf einer Welle zu sein. Und außerdem sah sie wirklich toll aus mit ihren roten Locken, ihrem fein geschnittenen Gesicht und der nach seinem Gusto geradezu perfekten Figur. Halt nicht zu dünn, sondern gerade richtig. Sehr feminin und ohne jegliche Koketterie, die er bei Frauen immer furchtbar anstrengend fand. Ja, Katharina war definitiv ganz nach seinem Geschmack. Einer Eingebung folgend, setzte Bene sich in Bewegung und drängte sich durch die Schaulustigen auf Katharina zu, die nach wie vor bei der Hotelangestellten stand und leise auf die junge Frau einredete. Katharina war also Polizistin. Das wiederum gefiel Bene nicht unbedingt.

Bene rechnete damit, dass sich hier noch jemand herumtrieb, den er kannte, doch bisher hatte er ihn noch nicht entdecken können. Bei dem Gedanken an seinen Bruder beschlich ihn ein seltsames Gefühl. Er hätte sich längst bei ihm melden sollen. Spätestens jetzt, wo er wieder hier war. Aber irgendetwas hatte ihn davon abgehalten. Sie hatten sich damals nicht gerade unter besten Umständen voneinander getrennt. Bene hatte seinen Bruder enttäuscht. So wie er ihn Zeit ihres gemeinsamen Lebens enttäuscht hatte, weil er es immer wieder schaffte, in Schwierigkeiten zu geraten, und sein Bruder ihn ständig vor der ultimativen Katastrophe bewahren musste. Beim letzten Mal war das Fass aber übergelaufen. Sein Bruder hatte ihm klipp und klar gesagt, dass Bene ab jetzt auf sich allein gestellt sei, und dann hatte er den Kontakt abgebrochen. Bene hatte das akzeptiert. Zuerst aus Schamgefühl, dann, weil er nicht wusste, wie er wieder an die Familienbande anknüpfen sollte. Dennoch hatte er die ganzen Jahre seinen Bruder, den Fels in der Brandung, der so ganz anders war als er selbst, vermisst. Mehr noch als Julie, denn dieses Vermissen war bald verblasst und inzwischen einer schönen Erinnerung an alte Zeiten gewichen. Mit seinem Bruder war das anders. Mit ihm verband ihn einfach sein komplettes Leben. Hin und wieder erfuhr Bene von seiner Mutter, was ›der Große‹ so trieb, aber das war es dann auch. Rohe Eckdaten eben.

Ob Katharina und sein Bruder sich wohl bereits kannten? Aber nein, dann hätte sie das sicher erwähnt. So wie eigentlich jeder, der erst den einen und dann den anderen Bruder kennenlernte. Bene erinnerte sich auch vage daran, dass Katharina ihm erzählt hatte, dass sie heute einen neuen Job anfangen würde und erst gestern in die Stadt gekommen war. Wahrscheinlich war sie seinem Bruder also noch gar nicht über den Weg gelaufen.

Bene war nun bis an die Absperrung der Terrasse gelangt und blieb unschlüssig stehen. Er sah, wie Katharina immer noch leise mit der jungen Blondine sprach und sich dabei Notizen machte. Jetzt klappte sie ihren Block zu, stand von ihrem Stuhl auf und legte dem Mädchen noch einmal beruhigend die Hand auf die Schulter. Als sie sich nun umdrehte, traf ihr Blick genau auf seinen. Ihr Mund formte ein stilles ›Oh‹. Dann kam sie direkt auf ihn zu.

»Wieso … wieso haben Sie sich denn umgezogen?« Katharina schaute Bene verwirrt an.

»Na ja, im Adamskostüm wäre es jetzt wohl ein wenig kalt«, erwiderte Bene schlagfertig, wie er fand. Gleichzeitig war er ernüchtert. Warum siezte Katharina ihn, und warum schaute sie ihn jetzt so entsetzt an? Die Art der Begrüßung überraschte ihn, er hatte sie für cooler gehalten. Doch dann stutzte er: Inzwischen guckte sie gar nicht mehr ihn an, sondern haarscharf an seiner rechten Schulter vorbei. Bene drehte sich um und sah sich seinem Spiegelbild gegenüber.

»Benjamin!«, entfuhr es Bene. Benjamin Rehder sagte gar nichts. Er stand nur da. Ganz ruhig. Dann sagte er zu Katharina gewandt: »Frau von Hagemann, darf ich vorstellen: Benedict Rehder, mein Zwillingsbruder.«

10.27 Uhr

Katharina konnte nur fasziniert von einem zum anderen gucken. Innerlich musste sie beinahe lachen, aber sie riss sich zusammen, um es niemanden merken zu lassen. Immerhin hatte sie nicht mit ihrem Chef geschlafen, das war schon mal eine Menge wert. Sie würde jetzt erheblich entspannter mit ihm umgehen können. Unangenehm war ihr die ganze Geschichte trotzdem, denn Benedict hatte soeben keinen Hehl daraus gemacht, dass sie beide sich schon begegnet waren, und den Rest würde sich der Kommissar vermutlich allein zusammenreimen können. War ja schließlich sein Job, zwischen den Zeilen zu lesen. Ansonsten waren die beiden Brüder in Katharinas Augen merkwürdig distanziert miteinander umgegangen, aber das ging sie nichts an. Um der merkwürdigen Situation möglichst schnell zu entkommen, hatte sie sich darauf berufen, wieder an die Arbeit gehen zu müssen. Zudem war sie sich auch überhaupt nicht im Klaren darüber, wie sie mit Bene – oder Benedict, wie sie jetzt wusste – umgehen sollte und wollte auch nicht länger seinem intensiven Blick ausgeliefert sein. So nickte sie beiden kurz wortlos zu und machte sich weiter an ihre Arbeit, denn darum war sie ja schließlich hier.

Katharina betrachtete die Leiche, die zweifellos schon ein paar Tage im Wasser verbracht hatte. Mit der Identifizierung würde es nicht einfach werden, zumal man bisher bei dem Toten keinerlei Papiere gefunden hatte. Eindeutig war lediglich eine Wunde in der Herzgegend, denn der Blutfleck war nicht zu übersehen. Dunkle Erinnerungen stiegen in Katharina hoch, doch sie verdrängte sie sofort und wendete sich einem Kollegen der Spurensicherung zu, der neben ihr stand.

»Haben Sie irgendetwas bei der Leiche gefunden?«, fragte sie ihn ohne Einleitung und dann: »’tschuldigung, Katharina von Hagemann, das ist heute mein erster Tag.«

»Na, das ist ja kein so toller Start«, antwortete der Kollege trocken. »Bisher haben wir gar nichts gefunden, wir sind aber auch noch nicht ganz durch. Ich denke mal, so in 20 Minuten können wir ihn abtransportieren lassen. Ich bin übrigens Bodo, Bodo Schmitt.«

»Haben Sie da schon nachgesehen?« Katharina bückte sich, streifte sich dünne Einweghandschuhe über und sah sich den Gürtel des Opfers an. Es war einer dieser Gürtel mit einem Reißverschlussfach, in dem in der Regel gerade genug Platz für ein paar Münzen oder Ähnliches war. Für Katharina war so ein Gürtel der Inbegriff von Spießigkeit, aber für solche Gedanken war jetzt nicht der richtige Moment. Es dauerte etwas, bis der Verschluss sich aufziehen ließ. Sie konnte ein kleines Stück Papier sehen, wollte es aber lieber nicht herausziehen, aus Angst, es vielleicht zu beschädigen.

»Hier ist was. Können Sie das heil rausbekommen? Vielleicht finden wir da ja einen Hinweis auf seine Identität.«

Der Kollege war augenscheinlich nicht begeistert, dass ihm das Gürtelfach bisher nicht aufgefallen war, schnappte sich aber kommentarlos eine Pinzette und zog einen mehrfach zusammengefalteten Zettel hervor.

»Und?«, fragte Katharina neugierig.

»Hm, auf jeden Fall ist es kein zusammen geknuddelter Kassenbon«, erwiderte Bodo, der die Pinzette mitsamt dem Zettel vor seinen Augen hin und her wendete und dann Katharina vor die Nase hielt.

»Das Papier sieht eher wie Notizpapier aus und es scheint etwas darauf geschrieben zu sein. Sehen Sie, an den Ecken hat er eine blassblaue Färbung, wie von verlaufener Tinte. Wollen Sie ihn gleich mitnehmen?«, fragte er Katharina. »Ich denke, Sie sollten ihn aber etwas trocknen lassen, bevor Sie ihn auseinanderfalten.«

Katharina nahm eines der Plastiktütchen, die sie stets mit sich trug, aus ihrer Jackentasche, und der Kollege ließ das durchnässte Stück Papier vorsichtig hineingleiten. »Danke, ja. Vielleicht hilft es uns ja tatsächlich weiter.«

Nachdem sie die Tüte vorsichtig in der Innentasche ihrer Lederjacke verstaut hatte, sah Katharina sich erneut am Tatort um. Dabei entdeckte sie einen Mann um die 40, der mit einer Kamera durch die Gegend lief und Fotos machte. Der Polizeifotograf war es nicht, den hatte sie schon gesehen, als sie angekommen waren. Sie ging auf den Mann zu, doch Rehder kam ihr zuvor.

 

»So, so, die Presse ist also auch schon wieder vor Ort. Hallo, Toffi.« Kommissar Rehder gab dem Typen mit der Kamera die Hand. »Hör zu, du kennst das Spiel. Direkt am Tatort hast du nichts zu suchen, die Absperrung gilt auch für dich, okay?«

»Schon gut, Benjamin, ich bin ja gleich weg. Ich mach hier auch nur meinen Job, genauso wie du.«

Mürrisch bückte sich der Mann mit der Kamera unter dem Absperrband hindurch und trat zwischen die Zuschauer, die immer noch nicht die Lust am Gaffen verloren hatten.

Katharina trat neben ihren Chef. »Toffi? Was ist denn das für ’n Vogel?«

Benjamin Rehder musste grinsen. »An den müssen Sie sich gewöhnen. Toffi, also eigentlich Christofer Saalbach, schreibt für den ›Lüneblick‹, das ist hier die örtliche Tageszeitung. Den kenn ich schon seit meiner Schulzeit, war damals auch schon etwas schräg drauf. Er kennt jeden in Lüneburg und ist immer als erster Reporter vor Ort. So unscheinbar er wirkt, von seinem Job scheint er was zu verstehen, auch wenn das aus unserer Sicht nicht gerade immer angenehm ist. Er nervt ziemlich, zieht aber schnell Leine, wenn man einen etwas schärferen Ton anschlägt. Die leidige Presse halt. Haben Sie noch irgendwas Wichtiges entdecken können, oder sind wir hier erstmal durch?«

»Wie man’s nimmt. Im Gürtel des Opfers hab ich einen Zettel gefunden, den hab ich schon an mich genommen. Wenn wir zurück auf der Dienststelle sind, werde ich ihn trocknen und versuchen, ihn heil auseinander zu falten. Vielleicht wissen wir dann, wer der Tote ist. Jana Helm, das junge Mädchen, das die Leiche gefunden hat, steht noch ziemlich unter Schock. Zur Not werden wir sie noch mal aufs Präsidium bestellen müssen, eben war nicht viel aus ihr herauszubekommen. Aber ich denke, mehr können wir hier im Moment nicht machen.«

»Gut, dann tun wir dem Direktor einen Gefallen und verschwinden.«

Zurück auf der Dienststelle nahm Katharina die Tüte mit dem sichergestellten Papierstück aus der Jacke, holte den Zettel mit einer Pinzette vorsichtig heraus und legte ihn auf die Fensterbank in die Sonne. Sie überlegte kurz, ob sie irgendwo einen Fön organisieren könnte, entschied dann aber, dass die Sonnenstrahlen genauso gut funktionieren müssten. Dann schnappte sie sich die bereits angelegte Akte des anderen Falles, von dem Rehder ihr am Morgen berichtet hatte. Bezüglich der Wasserleiche musste sie jetzt sowieso erst mal auf die ersten Untersuchungsergebnisse aus KTU und Pathologie warten.

Bei dem vorhergegangenen Mordfall war das Opfer eine junge Studentin, 23 Jahre alt und Single. Sie war von einem Auto überfahren worden, und zuerst hatte alles nach Fahrerflucht ausgesehen. Dann war jedoch bei der Obduktion festgestellt worden, dass sie bereits tot gewesen war, bevor das Auto sie überrollte. Darum ging der Kommissar davon aus, dass der Täter versucht hatte, durch das Überfahren mit dem Auto den eigentlichen Mord zu vertuschen. Bisher gab es keinen einzigen Verdächtigen, nicht einmal einen wirklichen Ansatz. Auch die bereits in der Nacht informierte Familie – die Studentin war gebürtige Lüneburgerin – hatte keine hilfreichen Aussagen machen können. Katharina begann, die Akte noch einmal von vorn zu lesen. Vielleicht konnte sie ja doch einen entscheidenden Hinweis entdecken, um damit ihren Chef davon zu überzeugen, dass sie ihren Job gut machte und nicht nur hier in Lüneburg war, um amouröse Abenteuer zu erleben.

17.42 Uhr

Benjamin Rehder saß an seinem Schreibtisch. Sein Büro war nur durch eine Glaswand vom Nebenraum getrennt, sodass er die neue Kollegin an ihrem Arbeitsplatz sehen konnte. Normalerweise setzte er sich zusammen mit den anderen ins Großraumbüro, weil es einfach hilfreich war, um sich über den jeweils gerade aktuellen Fall untereinander auszutauschen. Manches Mal wusste er jedoch den Luxus zu schätzen, als ranghöchster Kommissar der Dienststelle auch ein eigenes Büro zu haben, in das er sich in besonderen Situationen zurückziehen konnte. Jetzt war so eine besondere Situation: Mit allem hatte er am Tatort gerechnet, mit nervenden Schaulustigen, mit der kaum vermeidbaren Presse in Gestalt des Lokalreporters Saalbach … aber ganz sicher nicht damit, dass sein Zwillingsbruder ihm plötzlich gegenüberstehen würde. Er war sich sicher, nach außen einen gelassenen Eindruck gemacht zu haben, was ihm wichtig war, doch in ihm drin hatte es definitiv anders ausgesehen. Acht Jahre war es her, dass sie sich zuletzt gesehen hatten. Dazwischen hatte es nur einige wenige Telefonate und ein paar Informationen durch seine Eltern gegeben.

Er entließ ein »Pffffff« aus seinen gespitzten Lippen. Erst gestern hatte er an Benedict gedacht und ihn anrufen wollen. Benjamin Rehder fragte sich, seit wann sein Bruder wieder in der Stadt war und vor allem warum. Er schwankte zwischen Freude und Verunsicherung. Ohne Frage hatte ihm sein Bruder gefehlt. Doch es war einfach zu viel passiert in der Vergangenheit, als dass er sich jetzt unvoreingenommen freuen konnte. Er fühlte in sich hinein, ob er enttäuscht darüber war, dass Bene sich nicht gleich bei ihm gemeldet hatte, um ihm zu sagen, dass er wieder in Lüneburg war. Überrascht stellte er fest, dass es nicht so war. Er konnte seinen Zwilling sogar ein wenig verstehen, hatte er ihm doch damals mehr als deutlich gemacht, wie sehr er sein Verhalten und seine lockere Einstellung zum Leben verachtete. Ob Bene hier wohl wieder Fuß fassen wollte? Oder stattete er der alten Heimat nach all den Jahren nur einen kurzen Besuch ab und hatte es deswegen sowieso für unnötig befunden, sich bei ihm zu melden? Egal, wie es war, fest stand: Sie würden reden müssen. So bald als möglich. Am besten jetzt gleich. Zu lang schon hatte er, Ben, geschwiegen. Rehder wollte schon zum Telefon greifen, um seinen Bruder um ein Treffen zu bitten, als sein Blick erneut durch die Glasscheibe seines Büros auf Katharina von Hagemann fiel. Etwas musste er zuerst erledigen, bevor er mit Benedict sprechen würde. Er stand auf, ging in den Nebenraum und sprach Katharina an, die in eine Akte vertieft war. »Frau von Hagemann, wie sieht es aus – gehen wir zusammen ein Glas Wein trinken? Sozusagen, um auf Ihren Einstand anzustoßen?«

Die neue Kollegin sah ihn etwas ungläubig an, und Benjamin Rehder war klar, dass er nicht sonderlich glaubhaft geklungen hatte. »Okay, ich sage es lieber gerade heraus: Ich muss mit Ihnen sprechen und ich würde das lieber in einer etwas unbürokratischeren Umgebung tun.«

18.13 Uhr

Katharina beobachtete ihren Chef Benjamin Rehder, während er sich mit einem Aschenbecher in der Hand einen Weg durchs Lebrello bahnte. Das moderne Bistro hatte er vorgeschlagen, und es war ein eindeutiger Kontrast zu der Lokalität am vergangenen Abend. Hier war alles sehr trendy und durchgestylt, eine typische Chill-out-Lounge. Katharina gefiel es hier auf jeden Fall, obwohl sie sehr gespannt und etwas unsicher war, was Rehder mit ihr besprechen wollte. Es hatte vorhin im Büro absolut nicht so geklungen, als wenn es etwas mit dem Fall zu tun hätte. Ob es um seinen Bruder ging? Wollte er etwa mit Katharina über ihre Verbindung zu seinem Zwilling sprechen? Katharina fand es zwar nach wie vor unglücklich, dass sie mit dem Bruder ihres Chefs im Bett gewesen war, aber letztlich war das ihre Privatsache. Genau das würde sie Rehder auch sagen, wenn er sie darauf ansprechen sollte. Außerdem würde sie ihn bitten, nicht über ihre jüngste Vergangenheit in München zu sprechen, falls er davon anfangen sollte. Katharina war sich sicher, dass er die Fakten aus ihrer Akte kannte. Er war schließlich ihr Vorgesetzter und hatte sich über seine neue Mitarbeiterin im Team ganz bestimmt schlaugemacht.

»Hier im Lebrello gibt es wenigstens noch einen anständig großen Raucherbereich, ich dachte mir, das wäre Ihnen ganz recht.« Benjamin Rehder riss Katharina aus ihren Gedanken, als er den Aschenbecher auf den Tisch stellte und sich ihr gegenüber setzte.

Katharina war sich nicht sicher, wie er das meinte. Bisher konnte sie ihn einfach nicht einschätzen, und sie hoffte inständig, dass sich das bald ändern würde. »Ja sicher, danke, aber wenn es Sie stört, dann können wir auch …«

»Nein, nein, ich rauche selbst ab und zu, wenn mir danach ist, und heute ist mir definitiv danach.« Rehder holte eine Schachtel Zigarillos aus seiner Hosentasche und bot Katharina einen an.

»Danke, aber ich bleib bei meinen eigenen«, lehnte Katharina freundlich ab, zündete sich selbst eine ihrer Zigaretten an und sah ihrem Chef erwartungsvoll ins Gesicht.

»Hören Sie, Frau von Hagemann …« Rehder stockte. »Eines vielleicht vorweg: Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber die meisten von uns auf der Dienststelle duzen sich. Wenn Sie damit kein Problem haben, würde das einiges vereinfachen.«

Katharina musste schmunzeln. »Ich weiß, das mit dem ›von‹ ist nervig. Meinetwegen können wir uns gern duzen.«

»Gut, dann wäre das ja schon mal geklärt, meinen Vornamen kennen Sie – kennst du ja bereits. Wobei, die meisten nennen mich einfach Ben.«

Benjamin wusste nicht so recht, wie er beginnen sollte. »Also, Katharina, du kennst ja nun meinen Zwillingsbruder, und ich möchte dazu gern etwas sagen, bevor du es von anderer Seite erfährst.«

20.51 Uhr

Katharina schlenderte langsam durch die Straßen. Für den ersten Tag im neuen Leben war da eine ganze Menge los gewesen, und sie war ganz froh, sich jetzt auf dem Weg vom Lebrello zu ihrer Wohnung noch ein bisschen den Abendwind um die Nase wehen lassen zu können. Bis eben hatte sie mit Benjamin im Bistro gesessen. Sie hatten nicht über ihre Münchner Zeit gesprochen, Ben hatte ihre Vergangenheit mit keinem einzigen Wort angesprochen. Dafür hatte Katharina einiges erfahren, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Sie versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Wie Benjamin ihr berichtete, hatten Benedict und er sich seit acht Jahren nicht mehr gesehen. Seit Benedict Lüneburg verlassen hatte. Und bis heute Morgen hatte ihr Chef offenbar keine Ahnung davon gehabt, dass sein Zwilling zurückgekehrt war. Als Katharina nachgefragt hatte, warum Benedict weggegangen war, und vor allem warum die beiden keinen Kontakt gehalten hatten, merkte sie Benjamin sofort an, dass ihm dieses Thema ziemlich unangenehm war. Dann hatte sie erfahren, dass Benedict damals offenbar das eine oder andere krumme Ding gedreht hatte. Wohl nichts Großes, aber immerhin ausreichend, als dass es für seinen Bruder bei der Polizei äußerst unangenehm war. Genauer hatte Benjamin sich da nicht geäußert, und sie hatte nicht neugierig erscheinen wollen. Sie empfand es ohnehin als ziemlichen Vertrauensvorschuss, dass er ihr so offen davon erzählte. Benjamin hatte ihr auch noch einmal erklärt, dass er ihr lieber selbst die Umstände erklären wollte, bevor sie in den kommenden Tagen von Kollegen auf der Dienststelle oder anderen, die beide Brüder kannten, irgendwelche Halbwahrheiten hören würde. Schließlich war es vor acht Jahren wohl so weit gekommen, dass Benedict sich ziemlich reingeritten hatte, und nur durch die Hilfe seines Bruders hatte er einer Anklage entgehen können. Benjamin selbst hatte seine Karriere bei der Polizei damit riskiert, und das hatte den Bogen endgültig überspannt. Benedict verließ Lüneburg, und bis auf seltene Lebenszeichen bei seiner Mutter oder noch seltenere Telefonate mit Benjamin war die Verbindung abgerissen.

Katharina wusste nicht recht, ob sie beeindruckt oder eher schockiert davon sein sollte, wie glatt ihr Chef die Situation am Morgen überspielt hatte. Wenn sie selbst sich in die Situation hineinversetzte, hätte sie es niemals geschafft, so abgeklärt zu reagieren, wenn der lang verschwundene Bruder so unverhofft vor ihr gestanden hätte, noch dazu unter diesen Umständen. Konnte ihr neuer Chef seine Gefühle so gut verbergen, oder hatte er vielleicht kaum welche? Zu Katharinas Erleichterung war Benjamin nach seinem Bericht mit keinem Wort darauf eingegangen, dass sie und Benedict sich zu kennen schienen. Und sie selbst hatte zum jetzigen Zeitpunkt nach wie vor keinerlei Anlass gesehen, ihm davon zu erzählen. Auch Benjamin Rehders Offenheit ihr gegenüber hatte ihre Einstellung dazu nicht geändert. Was für ein Bild sie in den Augen ihres Chefs sonst abgeben würde, konnte sie sich lebhaft vorstellen. Und auch wenn er sich seinen Teil sicher dachte, musste sie das ja nicht unbedingt bestätigen.

Benjamin hatte Katharina abschließend nur gebeten, die Geschehnisse aus seiner Vergangenheit für sich zu behalten, trotzdem er meinte, dass alle im Kommissariat Bescheid wussten. Aber er wollte das Gerede darüber nicht neu entfacht sehen – für Katharina eine Selbstverständlichkeit, sie war noch nie ein Tratschmaul gewesen, und damit war das Thema vom Tisch. Dann hatten sie noch kurz über die beiden aktuellen Fälle gesprochen, bevor sie sich verabschiedeten.

 

Als Katharina nun in ihre Wohnung kam, fühlte sie sich unangenehm verloren. Der ganze Tag war so vollgepackt gewesen, dass sie keine Zeit gehabt hatte, sich richtig unwohl zu fühlen, doch jetzt kam alles auf einmal in ihr hoch. Die neue Stadt, der neue Job … Ganz abgesehen von der vertrackten Situation mit Bendedict, der ihr – unabhängig von dem unverhofften Wiedersehen – öfter durch den Kopf geisterte, als ihr lieb war. Und diese vermaledeite Namensähnlichkeit mit ihrem Chef tat ihr Übriges dazu. Was hatten sich die Eltern wohl dabei gedacht? Brüdern – und dann auch noch eineiigen Zwillingen – fast gleiche Namen zu geben, das war doch grausam. Das konnte ja nur zu Verwirrung bei anderen führen! Katharina beschloss, sofort ins Bett zu gehen, um den trüben Gedanken erst gar keine Chance zu geben, sich weiter auszubreiten. Sie rauchte am offenen Fenster noch eine Zigarette, bevor sie sich auf den Futon legte und einschlief, ehe sie wieder ins Grübeln verfallen konnte.