Schwarzes Geld für schwarze Schafe

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„Smegge so ähnlis, wie Pasta Diavolo”, fügte er hinzu. Und da er an meinem Gesichtausdruck erkennen konnte, dass seine Erklärung immer noch nicht den erwünschten Erfolg hatte, beendete er seine Empfehlung mit der gut gemeinten Warnung: „Isse sarf, wie Sau! Scusi, icke wolle sage, isse sehr wurzig.”

Immerhin bemühte er sich um eine Sprache, die ihm wohl noch Probleme bereitete, daher verkniff ich mir auch nur den Ansatz eines Grinsens. Ich wollte schon bestellen, da mischte sich Koman ein, der den Kellner die ganze Zeit über mit hochgezogenen Augenbrauen fixiert hatte:

„Sebastiano, lass den Scheiß, bei dem brauchst du nicht die Schau zu machen”.

„Aach guud”, kam es im breitesten Rheinhessisch, „ei mer waas ja nedd, manche wolle halt so e Gebabbel. Ich bin zwar Idalliener, abber hier uffgewachse. Iss wechem Ambiende.”

„Unn wechem Dringgeld, odder”, forschte Koman im gleichen Idiom nach.

„Dess aach”, gab Sebastiano feixend zu. „Also, was wollener hunn?”

Wir bestellten beide die wurzige Pasta-Sarf-Wie-Sau. (Das Gericht hatte für alle Zeiten seinen Namen bei uns weg.)

Dann begann Koman übergangslos zu erzählen, weshalb er mich eigentlich angerufen hatte.

„Es geht, wie ich ja schon erwähnt habe um einen Ihrer Kollegen hier in Alzey, Peter Simonis. Er …”

„Was hat er denn ausgefressen?”, unterbrach ich ihn mit unverhohlener Neugier.

„Wie … ausgefressen …, das klingt ja fast so, als warten Sie nur darauf. Kennen Sie ihn näher?”

„Was heißt näher, wie gut kann man einen Menschen überhaupt kennen lernen?”

„Es geht jetzt weniger um philosophische Betrachtungen, sondern um greifbare Fakten. Ich glaube, es ist hilfreich, wenn Sie mir kurz erzählen, was Sie über ihn wissen. Wie lebt er, was für ein Mensch ist er, wie läuft seine Kanzlei, welche Stärken und vor allem Schwächen hat er und so weiter.”

Ich schilderte Koman meine bisherigen Erlebnisse mit Simonis, so auch den Abwerbungsversuch bei Frau Gerbes (die übrigens immer noch bei mir arbeitete), seine Versuche, mir Mandanten abspenstig zu machen und auch mich selbst bei jeder sich bietenden Gelegenheit in Misskredit zu bringen, wie mir immer wieder berichtet wurde. Dabei sparte ich auch nicht aus, was ich lediglich von Dritten über ihn erfahren hatte, trennte dies jedoch ausdrücklich von meinen persönlichen Erfahrungen. Trotzdem konnte ich mir ein paar abfällige Bemerkungen über die Person Simonis’ nicht verkneifen. Der Frust, dass ich ihn ungeschoren aus unserem damaligen Zusammentreffen hatte gehen lassen müssen, saß doch zu tief. Hätte ich gewusst, dass Simonis zu diesem Zeitpunkt gerade noch fünf Wochen zu leben hatte, hätte ich mir diese Bissigkeiten wohl verkniffen. Ja, fünf Wochen standen uns zur Verfügung, um …, aber wir wussten ja nichts – gar nichts.

Koman machte sich ein paar Notizen, hörte aber ansonsten aufmerksam und ohne Unterbrechung zu.

Als ich fertig war konnte er sich eine Boshaftigkeit nicht verkneifen: „Na das ist ja mal ein Herzchen. Ist diese Pappnase ein typischer Vertreter Ihres Berufsstandes?”

Ich überlegte kurz, was ich schon so alles über korrupte oder prügelnde Polizisten gelesen hatte, fand es aber dann doch unangemessen, ihn mit dieser Retourkutsche aufzuziehen.

„Nein, garantiert nicht. Die überwiegende Mehrheit besteht aus absolut integren und vertrauenswürdigen Menschen. So, wie Simonis sich aufführt, ist er eine der Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Natürlich gibt es bei uns genauso dubiose Typen – wie in allen anderen Branchen – die ihr Geschäft jenseits jeglicher Ethik, Moral und Rechtsgrundlage auf mehr als fragwürdige Art und Weise betreiben. Die haben dann aber auch die entsprechende Klientel, sodass da selten etwas ans Licht der Öffentlichkeit kommt. Es wird in eingeweihten Kreisen darüber gesprochen, selbst unsere Aufsichtsbehörde kennt Namen und Fakten ohne handeln zu können oder zu wollen, aber … lassen wir das.”

Koman blickte mich prüfend an, bevor er ohne weiteren Kommentar fortfuhr: „Jetzt geht es an Interna, Sie wissen, was das bedeutet!”

„Als Steuerberater weiß ich, was …”, er unterbrach mich mit einer ungeduldigen Handbewegung.

„Ich spreche jetzt zu Darius Schäfer, dem ich als Person vertrauen will, nicht mit dem Steuerbrater, dem ich Kraft Vereidigung vertrauen muss. Und, bitte nicht mehr unterbrechen.

Vor einem halben Jahr etwa ging das los. Da hat Simonis den ersten anonymen Schrieb erhalten und ist auch gleich, mit gestrichen voller Hose, heulend zu einem seiner Spezeln beim LKA – das ist die Abkürzung für Landeskriminalamt – in Mainz gelaufen. (Liebend gerne hätte ich ihn darüber aufgeklärt, dass ich schon wusste, was LKA heißt, aber ich sollte ihn ja nicht unterbrechen.) Ich glaube, es war der Leiter der Abteilung 4, Deliktsorientierter Einsatz, na, ist ja egal. Von dort ging es über den informellen Dienstweg an die Polizeidirektion Worms zu meinem Chef, Polizeidirektor Karsten Wehmut – nomen est omen. Ich war durch Zufall in seinem Büro. Das Erste, was er tat – in meinem Beisein auch noch! – er griff zum Telefon und brabbelte Simonis etwas vor von: Warum er denn nicht direkt zu ihm gekommen sei … man pflege doch schließlich seit Jahren eine gute Freundschaft … und die vielen schönen gemeinsamen Stunden … und er, also mein Chef, wisse doch, was man ihm, also Simonis, einem der honorigsten und wichtigsten Bürger der Stadt, schuldig sei … und er solle doch bitte schnellstens mit dem Corpus delicti vorbeikommen … seinen besten Mann, Hauptkommissar Koman, werde er persönlich auf die Sache ansetzen und ihm für einen schnellen Erfolg geradestehen.

Ich war entgeistert, ich traute meinen Ohren nicht und dachte, ich sei im falschen Film. Ich sah kaiserlich-preußisches Untertanendenken und Kadavergehorsam wieder fröhlich Urständ in unserer Inspektion feiern. Nachdem mein Chef das Telefonat beendet hatte, fand ich meine Sprache wieder.”

„Und wie ging es aus?”, grinste ich ahnungsvoll.

„Ich entging haarscharf einem Disziplinarverfahren in Einheit mit einer Zivilklage wegen Beleidigung und machte zähneknirschend mit Simonis für den nächsten Tag einen Termin aus. Na ja, ich will die Sache abkürzen. Seitdem nervt mich mein Chef, und Simonis ruft immer mal wieder an – stinkfreundlich übrigens – und die Angelegenheit gammelt bei mir auf dem Tisch. Ich arbeite nach Prioritäten, immer das Wichtigste zuerst, Dienst nach Vorschrift sozusagen. Wissen Sie”, jetzt war ihm der Groll anzusehen und auch anzuhören, sodass ich mit einer Handbewegung seine Lautstärke dämpfte, was er dankbar nickend quittierte. „Wenn eine Frau bei uns anruft und aufgeregt und total verängstigt ins Telefon flüstert, dass ihr Ehemann sie wieder einmal verprügelt hätte, ihr das letzte Geld abgenommen und in die Kneipe gegangen sei, mit der Bemerkung: Wenn ich heimkomme, mach’ ich dich kalt, wissen Sie, was wir dann tun? … Nichts tun wir dann. Protokollieren, das ja! Erst wenn’s zu spät ist, dürfen wir uns einschalten. So ist das. Und dann haben wir sogar noch solche chauvinistischen Arschl… in unseren Reihen, die ungestraft die Meinung rausblöken können, die ‚Alte‘ wird’s halt verdient haben. Aber bei einem Simonis, da wird mit anderem Maß gemessen.”

„Ja kann ihr Vorgesetzter Sie denn dann überhaupt anweisen, in solchen Fällen aktiv zu werden?”

„Eigentlich nicht, da gibt es klare Gesetze und Regelungen. Aber wer soll denn der Katze die Schelle umhängen? Ich etwa? Nicht nur, dass Wehmut für meine weitere Beförderung zuständig ist, ich bekomme zum Dank für meine korrekte Einstellung von den lieben Kollegen noch ein Paket mit einem abgehackten Schweinskopf auf den Tisch gestellt.”

„Was soll das denn?”

„Das ist mittelalterliches Mobbing. Das ist die zum Kugeln komische Art, jemandem anonym und feige zu verstehen zu geben, dass er ein Kameradenschwein ist.”

„Geschieht das oft?”

„Nee, es gibt ja kaum welche unter uns, die unabhängig und stark genug sind, die immer wieder angemahnte und eingeforderte Zivilcourage zu beweisen.”

„Aber, wenn es doch herauskommt, dass Ihre Zeit nur aufgrund persönlicher Netzwerke für unsinnige Nachforschungen verschwendet wird und dafür andere, wichtigere Fälle unbearbeitet liegen bleiben? Wenn zum Beispiel die Presse davon Wind bekommt?”

„Dann gibt es kurz einen Sturm im Wasserglas, Schuldzuweisungen und Exkulpationen werden sich die Waage halten und irgendwer nimmt seinen Hut. Tatsächliche Konsequenzen werden keine gezogen, so ist das heute halt.”

„Früher”, sinnierte ich, „haben sich die alten Römer nach einer Niederlage in ihr Schwert gestürzt.”

„Na, und heute”, Koman nippte an seinem, mit Wasser verdünnten Pinot Grigio, den Sebastiano gerade mit meinem „Edelminerealwasser” San Pellegrino serviert hatte, „heute geht man in den gut bezahlten Vorruhestand. Aber, lassen Sie mich Ihnen weiter den Fall Simonis darlegen, sonst vergeht mir der Appetit noch vor dem Essen.”

Er grinste und war von einem auf den anderen Moment wieder der eher nüchterne Kriminaler.

„Also, Simonis zitierte mich dann jedes Mal, wenn er wieder einen Drohbrief erhalten hatte, zu sich. Wie an den Datumsangaben zu sehen war, sofort. Von Mal zu Mal war er aufgeregter und sah sich schon vergiftet, mit einer Kugel im Kopf, erdrosselt und erschlagen, aus einem Hochhausfenster gestürzt und dann von einem Auto überfahren mit dem Gesicht nach unten leblos im Rhein in Richtung Mainz treiben.”

„Ja, haben Sie die Angelegenheit denn nie ernst genommen und wenigstens oberflächlich recherchiert?”

Irgendwie hatte das doch getroffen.

„Ja uns nein”, quälte er heraus, „am Anfang klang das doch irgendwie … na ja … spaßig ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Aber es waren halt … Morddrohungen, ja – aber immer nur Sprüche. Alle paar Wochen fand er ähnliche Episteln. Mal im Briefkasten, mal unter den Scheibenwischer seines Autos geklemmt. Einmal sogar in seiner Manteltasche nach einem Lokalbesuch. Das Originellste war, als einer dieser Briefe, um einen Stein gewickelt, durch das offene Toilettenfenster seines Privathauses flog, als er gerade einem Ruf der Natur folgte.”

 

Ich konnte das Bild vor mir sehen, plastisch und in Farbe: Simonis, zu Tode erschrocken, hilf- und sprachlos, mit runtergelassener Hose auf cremefarbenem Villeroy & Boch sitzend, den Consultant oder die NWB, die er als Lektüre ausgewählt hatte, in verkrampften, zitternden Händen haltend und ungläubig auf den papierumwickelten Stein vor sich starrend. Welch ein Bild, wie schön! Vor allem, wie schön unfair, lass das Junge!, schalt ich mich. Aber wenn mich die Fantasie einmal gepackt hatte … Mir fiel blitzartig (blitzartig ist gut), der Zornesausbruch eines Bauern ein, als er einen Mann in seinem Weinberg beim Massendiebstahl von Weinblättern überraschte: „Ei, disch soll doch de Blitz beim Scheiße treffe!”

„Ich habe mich dann hin und wieder umgehört, auch einmal Kontakt mit der Steuerberaterkammer aufgenommen, um zu erfahren, ob da irgendetwas an, na sagen wir mal, Merkwürdigkeiten über ihn vorliegt, also, anhängig ist”, hörte ich Koman wie aus dem Off meiner gedanklichen Szene. „Ich hatte dabei schon den Eindruck, dass Simonis einen zweifelhaften Ruf besitzt, der über ein eigentlich akzeptables Maß hinausgeht. Man war sehr freundlich, aber null Information. Aus Datenschutzgründen. Ich wollte zum damaligen Zeitpunkt nicht weiter nachbohren, sonst hätte ich denen ihren Datenschutz um die Ohren geschlagen. Ich nehme ja immer noch an, dass es sich um ein banales Insiderproblem handelt. Kollegenintrigen, Neid. Es kann auch grober Unfug sein, ist ja bisher nichts passiert.”

„Immerhin Morddrohung, wie Sie eben sagten.” Jetzt war ich wieder bei der Sache. „Gibt es denn irgendetwas Konkretes?”

„Da”, sagte er und reichte mehrere zusammengefaltete, lindgrüne Blätter Papier über den Tisch, die er aus seiner Brusttasche gezogen hatte.

„Sie möchten, dass ich das lese?”, fragte ich, „jetzt, hier?”

„Nein, ich möchte, dass Sie daraus Papierflieger basteln, jetzt und hier! Entschuldigung, natürlich sollen Sie es lesen, ich bitte darum.”

„Ach, hören Sie doch auf, sich zu entschuldigen, was frage ich auch so blöde.”

Ich entfaltete die Blätter und überflog deren Inhalte erst einmal. Es waren Kopien, aber, wie mir Koman erklärte, auf dem gleichen grünen Papier, wie die Originale. Jedes Blatt war sowohl mit dem Tagesdatum versehen, an dem Simonis jeweils die Botschaft gefunden hatte, als auch mit dem Datum, an dem er es der Polizei übergeben hatte. Es waren immer nur wenige Zeilen darauf gedruckt; alle in 12-Punkt Arialschrift.

Zwei weitere Dinge waren stets gleich: Die Anrede Euer teuflische Pestilentia und der „Unterzeichnende” Eure segensreiche Medica. Dieses sprachliche Ritual bezog sich offensichtlich auf den ersten Drohbrief. Er lautete:

IHR SEID DIE TEUFLISCHE PESTILENTIA

UND ICH WERDE DIE WELT VON EUCH,

DIESEM ÜBEL, BEFREIEN!

ICH, EURE SEGENSREICHE MEDICA

„Klingt ja recht bizarr”, war mein erster Kommentar.

„Na, lesen Sie erst einmal alle.”

Ich las den zweiten Brief:

EUER TEUFLISCHE PESTILENTIA,

EIN GUTER TEIL DER LEBENSFREUDE BESTEHT AUCH

DARIN, DASS MAN NICHT TOT IST, SAGT MAN.

EURE LEBENSFREUDE WIRD EUCH BALD VERGEHEN.

UND DAFÜR WERDE ICH SORGEN, MIT TÖTLICHER

SICHERHEIT.

EURE SEGENSREICHE MEDICA

„Was für ein Unsinn!”, schüttelte ich den Kopf.

„Weiterlesen!”. Koman war unbarmherzig.

EUER TEUFLISCHE PESTILENTIA,

DAS LEBEN IST SCHÖN,

NUR KOMMT MAN LEIDER NICHT LEBEND RAUS,

SAGT MAN.

UND DAS WERDET IHR SCHNELLER ERLEBEN,

ALS IHR GLAUBT.

EURE SEGENSREICHE MEDICA

Ich musste kurz auflachen: „Das kann man doch nicht ernst nehmen, da hat doch jemand einen mehr als bloß dezenten Dachschaden.”

Koman schwieg und deutete nur auf die restlichen zwei Blätter.

„Ja, doch! Ich lese ja schon.”

EUER TEUFLISCHE PESTILENTIA,

DER TOD IST DAS EINZIGE DEMOKRATISCHE MITTEL,

SAGT MAN.

UND MANCHE MUSS MAN ZUR PRAKTIZIERTEN

DEMOKRATIE ZWINGEN.

EURE SEGENSREICHE MEDICA

Der letzte lautete:

EUER TEUFLISCHE PESTILENTIA,

ICH SAH EUCH KÜRZLICH WIEDER EINMAL ZORNIG,

MIT HOCHROTEM KOPF. ES MACHT MICH SO SCHARF,

WENN IHR WÜTEND SEID. DANN FÜHLE ICH MICH DER

TESTAMENTERÖFFNUNG GLEICH VIEL NÄHER.

UND DA ERWARTE ICH EINEN FETTEN HAPPEN,

SAG’ ICH IMMER.

EURE SEGENSREICHE MEDICA

Ich reichte Koman die Blätter wieder zurück.

„Und?”, fragte er herausfordernd?

„Das Essen kommt!”, meldete ich erleichtert, als ich Sebastiano mit zwei überdimensionalen Pastatellern auf unseren Tisch zusteuern sah.

„Mhh”, kaute Koman seine erste Gabelladung, „nicht schlecht. Aber bitte, was halten Sie davon? Geben Sie mir eine Kostprobe Ihrer analytischen Intelligenz.”

Aufmerksam und mit kleinlicher Präzision drehte ich ein saucengetränktes Nudelnest auf meine Gabel, schob es bedächtig in den Mund, kaute und schaute Koman dabei selbstzufrieden an. „Also. Es geht aus dem Inhalt nicht hervor …”, ich nahm einen Schluck Wasser,” … nicht hervor, ob es sich bei dem Verfasser um eine Sie oder einen Er handelt. Richtig?”

„Aber die Unterschrift oder wie man das nennen soll, heißt doch Eure und Medica ist doch ein Femininum. Deutet das nicht auf einen weiblichen Absender hin?”

„Erst einmal könnte das ein Ablenkungsmanöver sein, damit man genau das denkt. Wesentlicher ist, dass es sich bei Medica um den lateinischen Begriff für Medizin handelt, also die Medizin. Im Lateinischen kennzeichnet die Endsilbe a, auch ohne Artikel, dass Medica grammatikalisch als weiblich einzuordnen ist. Eure Medica heißt also lediglich: Eure Medizin und nicht etwa Eure Medizinerin.”

„Also kennt sich die gesuchte Person mit der lateinischen Sprache aus”, dachte Koman laut nach.

„Muss nicht. Im Italienischen und im Spanischen gibt es ähnliche Regeln. Es kann auch aus irgendeinem Roman angelesen und übernommen worden sein.”

„Und was soll das mit der Anrede Pestilentia?”

„Ich nehme an, dass Simonis damit auf die gleiche Stufe, wie die Pest gestellt werden soll. Eine Geisel der Menschheit, eine Strafe Gottes. Letztlich natürlich eine zerstörende Kraft, die mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, der Medica, ausgerottet werden muss. Ich interpretiere es als eine Art Legitimation, als Rechtfertigung für den Plan seines gewaltsamen Todes.”

„Weshalb meinen Sie, dass der Schreiber …”

„Oder die Schreiberin!”

„… die Schreiberin, die dritte Person benutzt?”

„Vielleicht ein Hinweis drauf, dass zu Simonis irgendeine Beziehung besteht, die eigentlich das vertrauliche Du einschließt, man will dieses aber bewusst oder auch unbewusst vermeiden. Simonis steht ja mit Gott und der Welt auf Duzfuß. Aber wir wollten die Angelegenheit aus meiner Sicht betrachten, richtig?”

Koman setzte zu einer Antwort an, die ich ihm jedoch vorwegnahm.

„Richtig! Also weiter. Der Verfasser oder die Verfasserin besitzt, neben einer gewissen literarischen Neigung oder Fertigkeit, einen Hang zum Spott, zur Ironie. Zudem sind der betreffenden Person nicht nur die Örtlichkeiten des Anwesens von Simonis vertraut, sondern sie muss sich wenigstens ab und zu in seiner näheren Umgebung aufhalten. Ob Simonis das jeweils mitbekommt, ist allerdings fraglich.”

„Wie meinen Sie das?”

„Ganz einfach, er hat einen großen Freundeskreis, was man halt so ‚Freunde‘ nennt. Man trifft sich hier auf einem Fest, einem Empfang, mal dort auf einer Party. Da kann man ihn aus der Anonymität der Menge heraus beobachten und auf das Genaueste studieren, ohne dass er etwas davon mitbekommt. Selbst Fotos lassen sich mit diesen winzigen Digitalkameras bei fast jeder Beleuchtung machen, ohne dass es auffällt. Da kennt der Anonymus das Toilettenfenster, weiß sogar, wann Simonis die Örtlichkeit aufsucht und”, ich blickte ihn überlegend an, „diese Person kennt seine sprachlichen Besonderheiten. Ist Ihnen das aufgefallen?”

„Welche sprachlichen Besonderheiten?”

Sagt man und sag’ ich immer. Das ist O-Ton Simonis! Wenn er diese Minipamphlete nicht selbst verfasst, um sich wichtig zu machen, äfft ihn jemand nach!”

„Bis jetzt decken sich unsere Gedankengänge, aber das Letzte ist neu. Sind Sie sicher?”

Ich nickte mit vollem Mund und wandte mich konzentriert der akribischen Fertigstellung einer neuen Pastarolle zu.

„Das war alles?”, missverstand Koman die Pause und legte die Gabel zur Seite.

„Gemach, erst wieder ein paar Kalorien zuführen, nur in einem gesunden Körper wohnt schließlich ein gesunder Geist!”, zügelte ich die Ungeduld meines Gegenübers und führte die nächste Portion zum Mund. „Essen Sie doch auch weiter!”

Er schüttelte den Kopf und schob seinen Teller demonstrativ zur Seite, winkte aber dann Sebastiano herbei, um zwei doppelte Espresso zu bestellen. „Sie doch auch?”, vergewisserte er sich – mehr rhetorisch.

„Ja, gerne. Aber, um auf unser Thema zurückzukommen: Ich meine, bisher kann das, was wir den Schreiben entnehmen können, auf die verschiedensten Personenkreise hinweisen, natürlich auch auf Kollegen. Ich kann nur beim besten Willen keinen Hinweis auf irgendeine besondere Gruppe erkennen.”

„Vielleicht sagt uns ein mögliches Motiv etwas mehr?”

„Mein Gott, Herr Koman, da gibt es keinerlei Forderungen. Weder Geld, noch sonst irgendetwas. Mir drängen sich nur Begriffe auf, wie: abgrundtiefer Hass, Bestrafung, Angst und Unsicherheit schüren, Simonis zu Kurzschlussreaktionen verleiten oder ihn von irgendetwas abhalten wollen … Da gibt es zig ähnlich gelagerte Möglichkeiten und bestimmt auch genauso viele potenzielle Verdächtige, aus allen möglichen Kreisen. Das können so genannte Freunde sein, Mitarbeiter, Mandanten, eine oder mehrere verprellte Liebschaften. Menschen halt, die er irgendwann einmal über den Löffel barbiert hat …”

„Ja, und genau diese Verdächtigen benötige ich. Ich brauche Gesichter mit Namen und mögliche Motive. Daher wollte ich Sie fragen, ob Sie mit den Ihnen zur Verfügung stehenden Kontakten und persönlichen Fertigkeiten Nachforschungen anstellen könnten.”

Das Grinsen, mit dem meine persönlichen Fertigkeiten unterstrich, war die fleischgewordene Impertinenz und würde jeden Freispruch wegen Körperverletzung im Affekt rechtfertigen.

Er beeilte sich noch hinzuzufügen: „Aber absolut diskret und natürlich inoffiziell, auf rein privater Basis. Na, was sagen Sie?”

„Wo ist das Tonband?”

„Welches Tonband?”

„Das, welches sich selbsttätig vernichtet und jetzt gleich in Rauch aufgeht. Ach nein, Sie sind ja anstelle des Tonbandes da. Gehen Sie jetzt in Rauch auf?”

Koman starrte mich verständnislos an.

„Sind wir nicht in der Fernsehkultserie Cobra übernehmen Sie? Oder handelt es sich gar um Vorsicht Kamera?” Ich blickte mich suchend um, als ob ich die Kameras aufspüren wollte.

„Bitte, ich wäre Ihnen sehr dankbar.”

„O.k. Bevor ich mich jedoch entscheide, habe ich mehrere Fragen: Erstens, falls doch irgendetwas bei meinen Recherchen auffliegt, stehen Sie dann zu mir oder verleugnen Sie mich?”

„Ich würde mich so verhalten, wie Sie es an meiner Stelle tun würden.” Aus seiner Stimme klang eine ungeheuere Festigkeit und Sicherheit.

„Wie würde ich mich denn ihrer Meinung nach verhalten?”

„Sie würden ohne Rücksicht auf die Folgen zu dem stehen, was sie angeleiert haben!”

Ich nickte zufrieden, das hatte ich hören wollen „Und nun, als Zweites, wüsste ich gerne, wie Sie sich meine ‚Ermittlungen‘ vorstellen.”

„Sprechen Sie Ihre Kollegen auf deren konkreten Erfahrungen mit Simonis an. Lassen Sie sich irgendeine Begründung einfallen, die in Ihren Kreisen derartige Fragen rechtfertigt. Zum Beispiel, dass Sie den Verdacht hegen, dass er Mandanten und Mitarbeiter abwirbt. Zum einen scheint das ja zu seinen Spezialitäten zu gehören, insofern fällt diese Behauptung nicht auf, und außerdem bestehen offensichtlich keine persönlichen Kontakte zu ihm, sodass ihm keiner Ihre Nachfragen stecken wird. Dann könnte doch Ihre Mitarbeiterin, wie hieß Sie noch mal, Frau Gerber? …”

 

„Gerbes.”

„Dann könnte Frau Gerbes doch einmal ihrer Kollegin, die bei Simonis arbeitet oder gearbeitet hat, auf den Zahn fühlen.”

„Ich kenne einige seiner Mandanten und Bekannten, mit denen ich durch deren Geschäfte Kontakt habe. Carlo Dornhagen, meine Sozietätspartner, war früher hier bei der Betriebsprüfungsstelle und kennt von daher bestimmt den einen oder anderen Mandanten von Simonis; mit ihm könnte ich auch einmal sprechen.”

„Also, sind Sie im Boot?”

„Nicht so schnell”, wiegelte ich ab, „ich habe noch eine Frage, die letzte: Verraten Sie mir, weshalb Sie jetzt auf einmal dieser Angelegenheit eine derartige Priorität beimessen?”

„Ungern, weil es jetzt um Dinge geht, die einer anderen Form der Geheimhaltung unterliegen. Ich kann Ihnen nicht alles erzählen. Einiges nehmen Sie bitte einfach als gegeben, ja?”

Ich signalisierte mit einem leichten Kopfnicken zwar keine Zustimmung, aber doch Verständnis.

„Gestern Nachmittag rief mich ein früherer Kollege an. Wir waren zur Grundausbildung in der gleichen Polizeikaserne und teilten eine Stube.”

Wie Horst und ich, meldete sich die Erinnerung. Es schmerzte immer noch, den besten Freund verloren zu haben.

„Dieter Erb heißt er. Er ist schon seit mehreren Jahren beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden in einer Sondereinheit im Bereich Organisierte Kriminalität tätig. Dieter bat mich, abseits des Dienstweges, um Unterstützung.”

„Geht denn bei euch überhaupt noch etwas seinen normalen Gang?”

„Klar, wenn man Schnecken- oder Schildkrötenrennen aufregend findet. Diese Hilfeersuchen quer durch die Hierarchien haben nichts mit mangelnder Disziplin oder Ungehorsam zu tun. Es ist einfach Notwehr. Das BKA arbeitet ja ansonsten auch mit anderen deutschen Sicherheitsbehörden zusammen. Zum Beispiel in gemeinsamen Ermittlungsgruppen im Zusammenhang mit Geldwäsche oder Rauschgiften, aber in der Regel nicht direkt mit Inspektionen wie der unseren. Zu den Ermittlungsmethoden der Kollegen gehört auch die, der so genannten heimlichen Informationsbeschaffung, also der Einsatz von verdeckten Ermittlern, geheime Bild- und Tonaufzeichnungen oder Eingriffe in das Post- oder Fernmeldegeheimnis. Per Saldo tun wir damit also nichts Ungesetzliches, wir agieren nur schneller. Jedenfalls, ich schulde Dieter noch einen Gefallen. Bei einem unserer Pflichtseminare, das er als Referent leitete, hatte ich mich etwas abseits der Norm bewegt. Wenn das aufgeflogen wäre, hätte das meine Ablösung und damit zumindest eine Laufbahnsperre nach sich gezogen. Aber das tut hier eigentlich nichts zur Sache. Es ist ja auch schon so lange her.”

Ich blickte ihn fragend an.

„Sie wollen es anscheinend unbedingt wissen. Also, gut, bevor Sie sich in wüsten Spekulationen ergehen …”, seufzte Koman. „Die bewusste Fortbildungsveranstaltung fand vor etwa 20 Jahren irgendwann um die Herbstzeit an der Landespolizeischule Rheinland-Pfalz auf dem Hahn statt. Da wir nicht kaserniert waren, konnten wir uns in der Freizeit ohne Einschränkung bewegen. Im Hunsrück veranstaltete zu dieser Jahreszeit gerade jedes Kaff seine Kirmes, und dabei lernte ich ein Mädchen kennen. Die junge Dame war zwar bildhübsch, aber etwas einfach gestrickt. Ich hatte schon Pullover, die waren intelligenter als sie, jedoch bei ihrem faszinierenden Lächeln und dem hübschen kleinen Beinahe-Nichts, das Sie damals anhatte, schaltete meine Verstand auf Reserve. Um ihr zu imponieren, ließ ich sie mit meiner Dienstpistole in einem Steinbruch auf leere Flaschen schießen. Und diese Dorfschönheit hatte nichts Besseres zu tun, als das zu Hause brühwarm zu erzählen, woraufhin ihr Vater sich telefonisch beschwerte. Dieter Erb sorgte dafür, dass die Sache nicht an die große Glocke gehängt wurde.

Er rief nun gestern an und bat mich, ihm allgemeine Informationen über Simonis zukommen zu lassen. Genau das, worum ich Sie auch gebeten habe.”

„Was will denn das BKA von Simonis?”

Koman wand sich sichtlich: „Das dürfte selbst ich nicht wissen, noch weniger dürfte ich das Wenige, das ich Dieter entlocken konnte, an Sie weitergeben.”

„Wir hatten heute doch schon einmal Wilhelm Busch. Was sagt der zum Thema Vertrauen?: Wer andren gar zu wenig traut, hat Angst an allen Ecken.”

„Das nenne ich Zitatenfälschung!”, erwiderte Koman, „funktioniert aber nicht, denn auch ich habe meinen Buschband zu Hause im Schrank und lese ihn sogar. Ihr Zitat ist nicht komplett, lieber Schäfer! Busch sagt nämlich weiter: Wer gar zu viel auf andre baut, erwacht mit Schrecken. Es trennt sie nur ein leichter Zaun, die beiden Sorgenbrüder; zu wenig und zu viel Vertrauen sind Nachbarskinder. Und jetzt reimt es sich auch”, fügte er mit sichtlichem Stolz hinzu, bevor er in der Sache fortfuhr.

„Also gut! Ich erzähle Ihnen einmal, was die Kollegen vom BKA so alles an Fällen auf dem Tisch haben, ohne damit irgendeinen Bezug zu Simonis herstellen zu wollen. Davon, dass Sie das unter Umständen für sich selbst tun, kann ich Sie ja schließlich nicht abhalten. Über solche überregionalen Straftatermittlungen wird ja auch immer wieder im Fernsehen berichte, in stern TV, im focus Magazin oder Monitor. Die Kollegen ermitteln da zum Beispiel … mhmm, ja, in groß angelegten Diebstählen von Luxusautos, die ohne offensichtliche Gewalteinwirkung gestohlen werden. Homejacking ist das Schlagwort.”

„Homejacking?”

„Ja, das ist ein absoluter Renner seit ein paar Jahren. Gerade letzte Woche wurde in Ludwigshafen nachts bei einem Ehepaar mit drei Kindern eingebrochen. Die Einbrecher gingen so leise und routiniert vor, dass Bewohner nichts mitbekamen. Als sie am nächsten Morgen aufwachten, waren die Diebe mit Schmuck und Bargeld verschwunden. Und auch den Porsche nahmen sie mit, mitsamt Papieren und natürlich den Originalschlüsseln.”

„Aber was hat das mit Simo…, mit unserem Gespräch zu tun?”

Koman reckte sich kurz, bevor er fortfuhr: „Da entdeckt man vielleicht durch Zufall ein paar gestohlene Autos säuberlich in Ersatzteile zerlegt auf einem polnischen ‚Automarkt‘. Und dann könnte man sich vorstellen, dass in Zusammenarbeit mit den polnischen Behörden ermittelt und eine konkrete Spur aufgenommen wird.”

„Und was kommt bei einer solchen Spur zum Beispiel ans Tageslicht?”, ging ich weiter auf das Spiel ein.

„Man überprüft dann bei Serienstraftaten unter anderem, ob und was die Opfer an Gemeinsamkeiten aufweisen. Gleiche Altersgruppe, Geschlecht, Nationalität, Zugehörigkeit zu Religionen oder Vereinen. Es gab aber auch schon Fälle, da hatten die Opfer die gleichen Lieferanten, den gleichen Hausarzt oder ließen sich vom gleichen Anwaltsbüro beraten. Dann recherchiert man natürlich, zuerst verdeckt, weiter bei dem Hausarzt oder dem Rechtsanwalt. Könnte ja auch einmal ein Steuerberater sein, wie Sie.”

„Was hätte denn so ein Hauarzt, Rechtsanwalt oder meinetwegen auch Steuerberater mit solchen Verbrechen zu tun?”

„Meistens handelt es sich bei den Tätern um Mitglieder von mehr oder weniger gut organisierten Banden, mit klaren Strukturen und Aufgabenteilungen. Wie in einem normalen Wirtschaftsunternehmen, oft sogar noch bedeutend effizienter. Die wollen vor einem Coup die Ertragsaussichten und das Risiko checken. Eine Nutzen-/Aufwandsanalyse sozusagen. Und ein Hausarzt, ein Rechtsanwalt oder auch ein Steuerberater weiß nun einmal sehr viel von und über seine Kundschaft. Wann diese sich im Urlaub befindet, ob sie mit oder ohne Auto verreist, wie es um den Schutz des Hauses – durch eine Alarmanlage oder einen Hund – bestellt ist, wie risikobereit ein potenzielles Opfer ist – ein Familienvater, dessen Kinder im Hause sind, wird zum Beispiel leichter einzuschüchtern sein als eine Einzelperson. Und dann sind ihnen oft auch die Vermögensverhältnisse bekannt. Bei einem Steuerberater trifft das natürlich eher zu, als bei dem Hausarzt. Aber, das sind ja nur Hypothesen, gelt?”

„Sicher, sicher. Das heißt aber doch, dass wir es nun mit einem weiteren Kreis an möglichen Drohbriefschreibern zu tun haben.”