Mordsverlust

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„Und wenn wir einfach eine Gefahr unterstellen, etwas konstruieren?”, dachte ich laut nach.

„Vergiss es! Wenn wir Renate tatsächlich auffinden würden und es sich weiterhin herausstellte, dass sie ganz bewusst von zuhause weggegangen ist, dann dürften wir den Angehörigen nur dann ihren Aufenthaltsort preisgeben, wenn sie damit einverstanden wäre.”

„Aber was tun wir nun? Darius? Herr Koman? Ich mache mir halt Sorgen.”

„Frau Faber hat Recht. Dieses Verhalten ist nicht typisch für Renate”, stimmte ich ihr zu.

„Natürlich könnte ihr etwas zugestoßen sein. Aber sie ist ein freier Mensch. Wissen Sie, Frau Faber, jährlich werden etwa 100 000 Menschen in der Bundesrepublik als vermisst Gemeldete registriert, etwa 45 000 Kinder und Jugendliche und 55 000 Erwachsene. Die meisten sind kurze Zeit später wieder zuhause.”

„Und innerhalb wie kurzer Zeit?”, fragte Gertrud unsicher.

„90 Prozent dieser Fälle regeln sich innerhalb eines Monats.”

„Und was ist mit den restlichen zehn Prozent?”

„Solange noch Hoffnung besteht, werden auch die nicht so einfach zu den Akten gelegt. Ein Kollege aus Wien erzählte mir, dass seit 1998 ganz oben auf seinem Schreibtisch der Ermittlungsvorgang eines entführten Mädchens liegt, den er immer wieder aufnimmt. Der Fall dieser Natascha Kampusch, so heißt sie, glaube ich, geistert daher auch immer wieder durch die österreichische Presse. Er wird erst dann abgeschlossen sein, wenn Gewissheit über ihr Schicksal besteht.”

„Also, was schlägst du nun vor?” Ich fand, dass Heribert unsere Geduld etwas zu sehr strapzierte.

„Die Idee mit dem Privatdetektiv ist in diesem Fall grundsätzlich nicht unbedingt schlecht.”

„Aber?”

„Ich betrachte die Erfolgsaussichten ohne weitere Anhaltspunkte als äußerst gering. Wir sind nicht in den USA. Bei polizeilichen Maßnahmen haben wir Möglichkeiten, die einer Privatdetektei nicht zur Verfügung stehen. Wir können eine normale Fahndung anlaufen lassen, das ganze Programm, je nach Sachlage.”

„Und was wäre das? Vielleicht kann ich ja etwas aus diesem Programm, wie du es nennst, übernehmen.”

Heribert runzelte die Stirn. „Das ist eine ganze Palette. Da ist zuerst einmal die Durchsuchung aller Wohnungen, in denen Renate gelebt hat, und die Befragung der Personen im sozialen Umfeld, die Auswertung von Tagebüchern, Adressbüchern, Briefen, Com­puterdaten. Dann der Abgleich mit Daten, also zum Beispiel Passagierlisten, Kreditkartenumsätze, Telefonverbindungen, Krankenhäuser, unbekannte Tote und eventuell die Register der Botschaften. Genügt das?” Er hielt inne.

„Weiter”, forderte ich

„Na gut. Ortungen, Absuchen bestimmter Gebäude und Landstriche, Öffentlichkeitsfahndung mit Kfz-Kennzeichen, Aushang ihres Fotos bei den Polizeistationen, Handzettel, Steckbriefe in öffentlichen Gebäuden, Funkrundsprüche, Aufrufe im Internet und im Rundfunk, Aktenzeichen XY und so weiter. Such dir etwas aus!”

Ich horchte auf. „Ortungen? Sagtest du Ortungen? Ihr Handy …” Die zaghafte Hoffnung wurde durch Heriberts Kopfschütteln schneller erstickt als sie aufgeglommen war. Ich schaute Gertrud an, aber sie schien Heriberts Aufzählung überhaupt nicht registriert zu haben.

Unvermittelt fragte sie: „Und wenn sie sich überhaupt nicht mehr meldet?” Lange genug hatte sie Haltung bewahrt, aber nun war die Verzweiflung in ihrer Stimme nicht mehr zu überhören.

„Damit müssen Sie rechnen, Frau Faber. Auch das kommt immer wieder vor. Manche Menschen sehen in ihrer Verzweiflung nur die Flucht aus ihrem sozialen Umfeld als einzige Chance zum Neubeginn.”

„Ist das nicht feige? Das ist doch nicht meine mutige Renate?”, murmelte Gertrud fast unhörbar.

Heribert schüttelte energisch den Kopf. „Im Gegenteil. Es gehört Mut dazu, sein gewohntes Umfeld zu verlassen. Feige ist es, wenn jemand einer Katastrophe entkommt und diese Situation zum Verschwinden nutzt. So, wie es wohl Hunderte bei dem Tsunami vor einem viertel Jahr gemacht haben dürften. Renate ist eine selbstbewusste und erfahrene Frau. Sie bestimmt ihr Leben nach ihren eigenen Regeln und Vorstellungen. Wir müssen das respektieren.”

„Aber sie ist doch mein Kind. Wir hatten doch immer eine enge, vertrauensvolle und innige Beziehung! Seit dem Tod ihres Vaters,sie war damals fünf Jahre alt, gab es nur noch uns. Schon mit vierzehn, fünfzehn Jahren hat sie in ihrer Freizeit in der Kanzlei mitgearbeitet. Wir hatten nie Geheimnisse voreinander, bis …”. Sie griff zu einem Papiertuch und wischte sich über die Augen.

Heribert hatte sich in seinem Sessel aufgerichtet und fragte mit rauer Stimme: „Bis …? Gibt es ein Schlüsselerlebnis, ein Ereignis, einen Zeitpunkt, an dem Sie eine Veränderung in ihrem Verhalten festmachen können?”

„Jetzt, wo Sie so direkt fragen, fällt mir etwas ein. Schon im letzten Sommer hatte ich den Eindruck, dass sie etwas bedrückt. Auf meine Nachfragen hat sie aber nur ausweichend geantwortet. Sie sagte etwas von der Arbeitsbelastung auf dem Weingut, langwierige Diskussionen mit ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter wegen Nichtigkeiten. Es wären halt die typischen Konflikte, wenn man Familie und Beruf verquicken würde, nichts Dramatisches, das würde sich schon wieder legen, sagte sie.”

„Sonst noch etwas, Gertrud?”

„Ja, da war noch etwas.” Sie überlegte kurz. „Seitdem wurde sie noch einsilbiger. Renate hat ja auch immer noch ihr Zimmer hier im Haus. Mit Kindheitserinnerungen und all ihren Unterlagen aus der Ausbildung bei dir, Darius, und von der Polizeischule. Auch von später noch, als sie schon in Mainz diese Sonderkommission übernommen hatte, hat sie noch Papiere in ihrem Schreibtisch. Kurz vor Weihnachten letztes Jahr war sie hier, weil sie etwas nachsehen wollte. Es hätte etwas mit ihrem früheren Chef zu tun.”

„Hat sie einen Namen genannt?” Heribert blickte sie angespannt an.

„Darauf besinne ich mich nicht mehr. Aber er war wohl einige Tage zuvor bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.”

„Etwa Korfmann, Ulf Korfmann?”

„Ja, genau, das war sein Name. Hat das etwas zu bedeuten?” Heribert zuckte mit den Schultern, wirkte aber plötzlich merkwürdig erleichtert. „Ich kann es mir nicht vorstellen. Der Kollege Korfmann hatte nach dem Ausscheiden ihrer Tochter als Leiter desKommissariats vorübergehend auch die Leitung der SoKo übernommen. Würden Sie mir denn die Unterlagen überlassen? Vielleicht finde ich doch etwas, was uns weiterbringt.”

„Ich weiß nicht. Wenn Renate …”, Gertrud blickte mich fragend an.

Ich nickte aufmunternd und sie forderte Heribert auf, mit ihr in Renates Zimmer zu gehen, da er sich mit den Dokumenten bestimmt besser auskennen würde als sie.

Ich erhob mich von der weichen Couch, um mir ein wenig Bewegung zu verschaffen und trat an das große Blumenfenster. Es nahm fast die gesamte Länge des Wohnzimmers ein und gab über eine Terrasse den Blick in einen gepflegten Garten frei, in dem sich endlich der Frühling breitmachen durfte. Gertrud beschäftigte einen Gärtner, der sporadisch kam und den Garten in Schuss hielt.

Ich dachte über ihre Situation nach. Wir trafen uns mehrmals im Jahr in einem Netzwerk mit anderen gleichgesinnten Kolleginnen und Kollegen in Frankfurt zum Erfahrungsaustausch. Da war sie stets der fröhliche und schlagfertige Mittelpunkt. Aber ich glaubte, diese Treffen gehörten zu den seltenen Momenten in ihrem Leben, in denen sie ihren persönlichen Ballast für kurze Zeit abwerfen konnte. Seit dem Tod ihres um fast zwanzig Jahre älteren Mannes hatte sie nur noch für Renate und ihre Kanzlei gelebt. Sie hatte ihre Tochter zum Mittelpunkt ihres Lebens gemacht. Ohne diese fehlte ihr ein Teil ihres Selbst.

Gertrud und Heribert kamen wieder zurück, als ich mir gerade eine weitere Tasse Kaffee einschenkte. Heribert legte einen cirka 20 Zentimeter hohen Packen, bestehend aus mehreren, unterschiedlich gefüllten Hängeheftern auf dem Couchtisch ab.

„Offensichtlich Kopien von Ermittlungsakten der SoKo Rheinhessennetz”, sagte er mit bedenklicher Miene. „Das ist mir völlig unverständlich. Renate weiß, dass so etwas nicht gestattet ist. Ich werde die Unterlagen behalten müssen, Frau Faber.”

Gertrud deutete bedrückt auf Heriberts Ausbeute. „Da hätte ich Ihnen das wohl besser nicht erzählt?”

„Ich schaue mir zuerst einmal an, worum genau es sich handelt. Wenn Renate wieder da ist, werde ich sie dazu befragen, bevor ich weitere Maßnahmen einleite. Ohne Renate läuft da nichts. Das nehme ich vorläufig auf meine Kappe. Das bin ich ihr einfach schuldig … als ihr Pate in der Inspektion.”

„Sie mögen sie”, stellte Gertrud fest.

„Ja, ich mag sie. Sehr sogar.” Heribert senkte seinen Blick. „Sie ist ein ganz besonderer Mensch, eine ganz besondere … Kollegin”, bestätigte er zögerlich, fast andächtig.

Ich wunderte mich ein wenig über seine Anwandlung, schob aber jeden weiteren Gedanken beiseite und schloss mich seiner Würdigung vorbehaltlos an. Schließlich hatte auch ich mir über zwei Jahre lang ein Urteil über sie bilden können.

Am Sprachgebrauch von Gertrud und Heribert war mir etwas aufgefallen. „Ich betrachte es übrigens als gutes Zeichen, dass ihr beide in der Gegenwartsform von Renate sprecht. Also, Heribert, was meinst du, was kann man nun tun? Die Fakten sind: Renate ist verschwunden, die Polizei darf nicht ermitteln, Frau Faber möchte etwas unternehmen. Das verstehen wir doch beide – oder?”

„Natürlich verstehe ich das, aber …” In Heribert fochten Kopf und Bauchgefühl einen heftigen Kampf aus.

„Können Sie nicht … inoffiziell sozusagen … oder Urlaub nehmen … ich würde natürlich auch für alle Kosten aufkommen.” Gertrud musste sich ganz offensichtlich überwinden, Heribert diese Bitte zu unterbreiten, von der sie genau wusste, dass sie eigentlich unzumutbar war.

 

„Frau Faber, ich unterliege dem Beamtengesetz. Das macht nicht halt vor Privataktionen, die ursächlich mit meinen hoheitlichen Aufgaben zu tun haben.”

„Und wenn ich …?”

„Was willst du denn tun, Darius? Mit einem Bild von Renate durch die Fußgängerzonen laufen und die Passanten befragen? Wenn wir wenigstens den geringsten Anhaltspunkt über ihren Aufenthaltsort hätten. Aber so?!”

„Gibt es einen Ort, den sie mag, wo sie sich auskennt, oder hat sie Freunde, bei denen sie für einige Zeit unterkommen könnte?”, fiel mir ein.

Gertrud schüttelte den Kopf. „Wenn ich darauf eine Antwort wüsste, hätte ich schon von mir aus etwas unternommen. Seit sie verheiratet ist, weiß ich auch in dieser Beziehung rein gar nichts mehr von ihr.”

„Und wenn sie in ein Hotel geht oder Geld abhebt oder einkauft, dann müsste man doch feststellen können, wo sie mit ihrer Kredit- oder mit ihrer Scheckkarte bezahlt hat. Sie hat ein eigenes, gut gefülltes, Konto bei der Kreissparkasse in Wöllstein. Das weiß ich, da ich ihre Steuererklärung in meiner Kanzlei mache.”

„Gertrud, du weißt es doch am besten, dass auch die sich hinter ihren Gesetzen verschanzen. Höchstens Heribert könnte das.”

„No way! Oder denkst du, nur aufgrund meines Dienstausweises öffnen die mir ihre Konten? Da benötige ich selbst bei einer offiziellen Ermittlung Unterstützung vom Staatsanwalt.”

Ich gab nicht auf. „Könnte man eventuell aufgrund der Kleidung die sie mitgenommen hat, auf eine Spur schließen?”

„Woher soll ich denn wissen, was sie mitgenommen hat. Vielleicht weiß Benjamin etwas darüber oder Marga. Soll ich ihn anrufen?” Gertrud war schon aufgestanden, als Heribert sie zurückhielt.

„Einen Moment noch.” Er lehnte sich zurück und dachte kurz nach, bevor er aufstand und vor dem Tisch auf und ab ging.

„Die Idee, ihre Banktransaktionen zu verfolgen, finde ich eigentlich ganz gut. Frau Faber, Sie sollten vielleicht doch versuchen über den Kontoführer bei der Kreissparkasse einen Auszug zu bekommen. Sagen Sie einfach, Sie benötigen ihn für eine steuerliche Angelegenheit. Und wenn das nichts hilft, dann könnten Sie auf, ich sage einmal, zwischenmenschlicher Basis, mit dem Filialleiter ein Arrangement treffen. Innerhalb von zehn Tagen müsste Renate ja irgendwo Geld abgehoben oder mit einer Karte bezahlt haben. Und selbst wenn sie den Ort wechselt, ließe sich daraus eine Art Spur mit einem Muster ableiten”

Gertrud ging sofort auf den Vorschlag ein. Sie wollte sich gleich nach unserem Gespräch darum kümmern.

„Und du, Darius, sprichst mit Marga Preuß und Benjamin Dohne.”

Ich nickte. „Gertrud, avisierst du mich bitte für heute Abend, so ab neunzehn Uhr?”

„Natürlich. Falls es bei einem nicht passen sollte, rufe ich dich an.”

„Und ich”, Heribert hatte seinen Spaziergang eingestellt und stand nun ruhig vor uns, „ich werde nach Durchsicht von Renates Kopien ein paar unverfängliche Gespräche mit einigen Kollegen in Mainz führen. Die SoKo Rheinhessennetz wurde kurz nach Korfmanns Tod aufgelöst, da es zu keinen greifbaren Ergebnissen gekommen war. Das liegt nun schon einige Monate zurück, und da ist man dann schon eher einmal dazu bereit, einem Kollegen von einer anderen Inspektion etwas aus der Gerüchteküche kosten zu lassen.”

Als Gertrud uns vor die Haustür brachte, blieb sie zwischen uns stehen, legte ihre Arme um unsere Schultern, drückte uns leicht und sagte leise. „Danke, vielen Dank.” Dann drehte sie sich ohne weiteren Abschiedsgruß um und schloss die Tür hinter sich.

Ich wollte gerade in mein Auto steigen, als Heribert hinter mir herrief: „Einen Moment noch.” Er kam zu mir. „Bitte kein Wort darüber zu Dagmar.” Ich sah ihn irritiert an. „Ich will sie da nicht mit hineinziehen. Sie fühlt sich wohl bei uns in der Inspektion und hat eine Aufgabe, die sie erfüllt. Das möchte ich nicht gefährden, falls in dieser Sache doch noch eine Bombe hochgehen sollte.”

„An was denkst du? Etwas Konkretes?”

„Weiß ich nicht. Nur so ein Gefühl. Das ist wie bei einer Melodie. Du meinst, dass du sie schon einmal gehört hast und dass sie dich an einen Ort, an eine Begebenheit erinnern müsste, aber es fällt dir partout nicht ein, wo und was. Na ja, lass mal. Mach‘s gut.”

„Ich rufe dich spätestens übermorgen an und informiere dich, was ich von Marga Preuß und Benjamin Dohne erfahren habe.”

„Aber morgen bitte nicht vor elf. Ich habe eine Vernehmung und davor ist die wöchentliche Frühbesprechung, du verstehst.”

Das hohe, zweiflüglige Holztor in der Langgasse, die den östlichen Ortsrand begrenzte, war geschlossen. Die holzgeschnitzte Hausnummer 12, die auf dem rechten Flügel angebracht war, konnte man nicht übersehen. Aber erst nach intensiver Suche entdeckte ich das kleine Namensschild mit der Inschrift Marga Preuß und den kleinen Klingelknopf darunter an der Hausmauer, die in der Verlängerung des Tores das Grundstück zur Langgasse begrenzte.

Ich hatte den Eindruck, dass sie schon hinter dem Tor auf mich gewartet hatte, so schnell wurde es geöffnet und hinter mir wieder geschlossen. In dem etwa einhundert Quadratmeter großen, mit altem Kopfsteinpflaster befestigten Innenhof begrüßte mich eine grauhaarige, schlanke Frau. Sie war einen guten Kopf kleiner als ich und beobachtete mich, trotz der stahlblauen Augen, mit fast ängstlicher Zurückhaltung. Die Inkarnation der verblühten Schönheit, dachte ich, als ich in ihr Gesicht blickte. Nicht ihr Alter, denn sie war erst Anfang 40, sondern das, was sie erlebt haben musste, hatte seine Spuren hinterlassen. Trotz ihres dunklen Teints, der ihr ein gesundes Aussehen verlieh, hätte ich sie auf über fünfzig geschätzt, wenn Gertrud mir nicht ihr Alter verraten hätte. Sie war mit einer grünen Latzhose und einem kurzärmligen, braunen T-Shirt bekleidet. Ihre Füße steckten in weißen Clogs, wie man sie oft bei Ärzten sah.

„Schauen Sie sich nur um, Herr Schäfer”, sagte sie und begleitete ihre Aufforderung mit einer sanften, raumgreifenden Geste, „das ist mein Lebensraum. Hier fühle ich mich wohl, seit über 20 Jahren, wie Sie ja auch an meiner Aufmachung erkennen.” Sie grinste und strich mit der Rechten über ihre Arbeitshose. „Ursprünglich war das einmal ein bäuerliches Anwesen, kein großes, eher ein ärmliches. Das sieht man an der Konstruktion. Ständerbauweise, ausgefüllt mit Sandsteinen, aber nicht von den Steinmetzen aus den Bernheimer oder Flonheimer Steinbrüchen, son­dern Bruchsteine vom Feld. Doch es steht sicher, seit über 200 Jahren. Dieses Haus hat die napoleonische Herrschaft und mehrere Kriege überstanden.” Stolz klang aus ihrer Stimme. Man spürte, dass das Haus für sie ein Eigenleben hatte und dass sie sich über seine Standhaftigkeit definierte. Es schien ihr Sicherheit zu geben.

„Ich habe im Laufe der Zeit alles authentisch saniert, allerdings technisch auf den neuesten Stand gebracht und so eingerichtet, wie es mir gefällt. Auch wenn der Vorbesitzer schon vieles gemacht hatte, er war Handwerker, ein verrückter Kerl. Was der nicht alles eingebaut und umgebaut hat. Aber auch ohne aberwitzige Ideen ist so ein altes Gebäude wie ein Fass ohne Boden.” Wem sagte sie das, fragte ich mich. „Aber mir kann das egal sein. Don Johann Preuß zahlt schließlich alles, nur damit ich mich von der Familie fern halte.”

Ihre Stimme verhärtete sich, als sie den Namen ihres Vaters aussprach. Und ich war irritiert. Nicht, weil sie über ihn sprach, als sei er eine fremde Person, sondern weil sie sich mir so schnell öffnete. Gut, Gertrud hatte mich avisiert und ihr erzählt, weshalb ich sie aufsuchte, und sie wusste mich als Dorfbewohner einzuordnen. Aber weshalb sie mir ohne Not derart persönliche Dinge so schnell offenbarte, war mir unerklärlich.

„Ich kenne inzwischen jede Ecke und jeden Winkel hier. Diese alten Häuser stehen oft auf den Grundmauern noch älterer Häuser, die irgendwann abgetragen wurden, um an der gleichen Stelle ein neues zu errichten. Da stößt man auf allerhand außergewöhnliche und merkwürdige Dinge.”

Auf ihren Vorschlag hin blieben wir im Freien. Die Sonne hatte schneller, als es die letzten Tage hatten vermuten lassen, die Temperaturen nach oben getrieben und es war auch jetzt, kurz nach 19 Uhr, noch angenehm warm.

„Bitte nehmen Sie Platz”, sie deutete auf eine wetterfeste Sitzgruppe, die von einem überdimensionalen blauen Sonnenschirm und mehreren in Holztrögen eingepflanzten Ligusterhecken geschützt wurde. „Ich hole uns ein Glas Wein. Rot oder weiß?”

Ich entschied mich für einen Weißwein und sie ging über die drei Terrazzostufen in ihr Wohnhaus.

„1786” verkündete stolz die Zahl, die man in den steinernen Türsturz gemeißelt hatte, das Baujahr. Es war die Zeit der französischen Revolution, die Zeit, als George Washington der erste Präsident der USA war und Goethe seine berühmte Italienreise machte. Die Jahreszahl war noch ergänzt worden um den Namen des ehemaligen Bauherrn: August Hehl.

Annähernd zwanzig Familien in der 735-Seelengemeinde Bernheim trugen diesen Namen. Irgendwie waren sie alle miteinander verwandt. Inzwischen waren sie natürlich weiträumiger und stärker gemischt als noch im 18. Jahrhundert. Selbst denen, die hier geboren und miteinander aufgewachsen waren, erschlossen sich die tatsächlichen Verwandtschaftsverhältnisse der Hehls, der Langs, der Lahrs, der Schöns und noch einiger weiterer – bewusst – nur mit Mühe.

Trat man allerdings einem von ihnen auf die Füße, bildlich gesprochen natürlich, im Gesangverein, im Gemeinderat, im Landfrauenverein oder auch nur beim Stammtischgespräch im Bernheimer Schafbock, wurde man innerhalb kürzester Zeit gewahr, wo die Blutsbande verknüpft waren. Mit offenbar genetisch gesteuertem Instinkt solidarisierten sich Namensgleiche und gleichnamig geborene Dorfbewohner in einhelligem Schulterschluss gegen den Frevler. Böse Blicke, ein nur noch knapper oder erst gar nicht gebotener Gruß, schroffe oder patzige Antworten auf freundlich gestellte Fragen waren die offen erkennbaren Signale kollektiver Abstrafung.

Marga Preuß hatte sich diesem dörflichen Kult durch ihre Abschottung ebenso entzogen wie ihre Familie, die mit ihr nichts mehr zu tun haben wollte.

Ich schaute hinüber zur Scheune, die den Hof parallel zur Langgasse begrenzte.

„Dahinter habe ich meinen Gemüsegarten, aus dem ich mich verpflege. Ich ernähere mich vegan und da ist es schwer, die Pro­dukte zu bekommen, die man will. Man gelangt direkt durch die Scheune in den Garten. Das ist sehr praktisch für mich.”

Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass sie wieder neben mir stand. Sie nahm zwei gefüllte Weingläser von einem Tablett und stellte eine Schale mit Käsegebäck dazu. Sie prostete mir zu, nahm einen Schluck und sah mich erwartungsvoll an.

„Ich sehe Sie oft in ihrem Garten arbeiten, wenn ich zur Dunzelquelle oder zum Bernheimer Wald gehe. Aber Sie sind stets so eifrig mit ihren Pflanzen beschäftigt, dass sich noch nie ein Wort über den Zaun ergeben hat.”

„Ja, ich weiß. Ich gehe dem aus dem Weg. Dorfgetratsche ist meist grässlich und böse. Ist nicht gegen Sie gerichtet, ich meine das allgemein. Aber ich habe Sie auch schon oft gesehen, mit Ihren Hunden. Schöne Tiere. Wissen Sie”, nun lächelte sie sogar, „ich kann natürlich alle beobachten, die hinter meinem Garten vorbeigehen, mit einem Seitenblick, wenn ich mich nach unten bücke.”

Ich nippte von dem Wein. „Riesling?”

Sie nickte.

„Von Preuß & Erben?”

Ihr „Nein” klang hart, beinahe schroff. Blödmann, schalt ich mich, musst du dir die Fettnäpfchen auch noch selbst aufstellen?

„Nicht von Preuß und nicht von Dohne, Herr Schäfer. Den beziehe ich von Heinz Gebhard, direkt nebenan. Der ist gut, nicht wahr?” Sie trank hastig und wartete meine Antwort nicht ab. „Geld ja, sonst aber nehme ich nichts. Ich muss schließlich physisch leben, auch wenn man mich psychisch vegetieren lässt.” Und kaum vernehmlich sagte sie, wohl mehr zu sich selbst, als zu mir: „Ich weiß nicht einmal weshalb, was ich getan haben soll. Man weigert sich einfach, mit mir zu reden. Ich habe es aufgegeben. Außer meinem Neffen Andreas und einem Mitarbeiter vom Weingut ist Renate die einzige, die sich mit mir befasst. Sie hat mir zugehört. Aber auch ihr hat man nicht den Grund verraten, weshalb man mich verstoßen hat wie eine Aussätzige.”

„Ich weiß, Frau Preuß, dass es mich nichts angeht. Aber Sie ver­trauen mir freimütig einiges von Ihrem Leben an und das lässt mich natürlich nicht kalt. Ich frage mich allerdings, weshalb Sie noch hier sind, in Bernheim? Weshalb ziehen Sie nicht einfach fort?”

 

„So, wie Renate, meinen Sie? Ich beneide sie um ihre Entschlusskraft, um ihren Mut, ihr Rückgrat. Ich habe hier mein Haus, das kann ich aber nicht verkaufen. Ich bin zwar die Besitzerin, aber Eigentümer ist der Alte.”

Ich sah sie verdutzt an.

„Ich kann ihn einfach nicht mehr als meinen Vater bezeichnen, verstehen Sie?” Sie zuckte mit den Schultern, setzte dann aber ihre Erklärung wieder fort, ohne eine weitere Reaktion von mir abzuwarten. „Ich habe nichts gelernt und keinen finanziellen Rückhalt, nichts. Ich bin auf die Zuwendungen dieser Menschen angewiesen. Was also sollte ich tun?”

Es folgten einige Sekunden des Schweigens. Sie starrte in ihr Weinglas und brachte die zartgrüne Flüssigkeit darin wie in einem Cognacschwenker zum Kreisen.

„Sprechen wir jetzt über Renate, Frau Preuß?”

„Wir sprechen schon die ganze Zeit über sie.” Wieder huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. „Weshalb meinen Sie wohl, habe ich Ihnen schon so viel über mich erzählt?”

Ich sah sie fragend an.

„Kommen Sie mit, ich möchte Ihnen etwas zeigen.”

Ohne auf meine Zustimmung zu warten, erhob sie sich und ging voraus zur Scheune, die wir durchquerten, um durch eine schmale Tür an der Rückseite in den Garten hinauszutreten. Auf einem mit Rindenmulch bedeckten Pfad lotste sie mich zwischen zwei Beeten hindurch, bis wir kurz vor dem Gartenzaun an einem anscheinend wild wachsenden Strauch anlangten. Liebevoll griff sie mit gespreizten Fingern unter eine Knospe.

„Sie wird sich bald öffnen wie die vielen anderen auch. Wunderschöne, leuchtendgelbe Blüten werden sich bald öffnen, die abends einen betörenden Duft ausströmen. Ich weiß nicht, was fürein Gewächs das ist und wo es herkommt. Auf einmal war es da. So, wie Renate.”

Ich wusste nicht, worauf sie hinauswollte und musste sie wohl recht belämmert angesehen haben.

Sie lachte ein eigenartiges Lachen. „Irgendwann einmal dachte ich, der Strauch würde zu groß. Wie nennt man das bei Menschen? Zu selbständig werden? Einem über den Kopf wachsen? Also, was tat ich?”

„Frau Preuß, ich verstehe nicht.”

„Gleich werden Sie es, warten Sie nur ab. Ich nahm also eine Heckenschere und schnitt alles weg, was mir nicht gefiel. Ich stutzte ihn zurecht. Und im nächsten Jahr? Keine Knospen, keine Blüten. Ich habe ihn angefleht, mich entschuldigt, aber es dauerte fünf Jahre, bis er mir den Eingriff verziehen hatte. Und plötzlich, vor zwei Jahren hatte er sich erholt. Verstehen sie jetzt?”

„Nicht so ganz. Ich vermute, Sie vergleichen den Strauch mit Renate?”, fragte ich unsicher.

Sie drehte sich um und ging den Weg zurück zur Scheune voraus. „Richtig. Renate wäre auf dem Weingut zurechtgestutzt worden. Und ob sie dann irgendwann noch einmal aufgeblüht wäre, das möchte ich bezweifeln. Ich glaube, wenn der Strauch den Garten verlassen könnte, er wäre damals auf und davon. So wie Renate.”

Als gälte es, die Worte von Marga Preuß zu untermalen, drang, als wir gerade wieder die Scheune betraten, gedämpft, wie durch Watte, eine Melodie an mein Ohr, die nach wenigen Tönen abbrach. „War das nicht der Anfang des Titelsongs aus Titanic: My heart will go on?”

„Was meinen Sie?”

„Die Musik eben.”

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich habe nichts gehört. Vielleicht von nebenan; das kommt schon mal vor, je nachdem, wie der Wind steht und wie laut die Gebhardkinder ihre Musikanlage aufdrehen.”

Inzwischen waren wir wieder an dem Freiplatz angelangt und hatten uns gesetzt.

„Nun, Renate stand am Karsamstag, spät abends bei mir vor der Tür. Sie war völlig aufgelöst, so hatte ich sie noch nie erlebt.”

„Hatten Sie vorher häufiger Kontakt mit ihr?”

„Sie wohnt, besser wohnte, ja seit fünf Jahren auf dem Weingut. Seitdem besuchte sie mich unregelmäßig. So etwa einmal im Monat. Die Familie versuchte, sie davon abzuhalten. Aber Renate hat erklärt, solange man ihr nicht sagen würde, was ich verbrochen hätte, würde sie den Kontakt mit mir pflegen. Ich glaube, sie musste ab und zu aus dem geschlossenen Clansystem des Weingutes ausbrechen. Sie kennen es?”

„Nein.”

„Es ist sehr großräumig. Die haben während der letzten Jahre erweitert. Dadurch, dass es am Ortsrand liegt, war das kein Problem. Der Alte wohnt weiterhin im Hauptgebäude, obwohl es viel zu groß ist – acht Zimmer. Für meine Neffen mit ihren Frauen und meine Schwester mit ihrem Mann gibt es drei große Wohnungen. Da bekommt jeder mit, was der andere tut. Und dann gibt es noch das 2-Zimmer-Appartement in dem Klaus Zerfass wohnt.”

„Klaus Zerfass?”, ich war überrascht, „der Name ist mir neu.”

„Er arbeitet schon seit vielen Jahren auf dem Gut. Er ist Weinchemiker und -technologe. Gehört irgendwie zum lebenden Inventar. Er ist so ein Mädchen für alles, Faktotum nennt man das, glaube ich, obwohl sie ihn eher wie einen Domestiken behandeln, nur weil er … Er kommt auch ab und zu bei mir vorbei und lässt den neuesten Hoftratsch hier. Es interessiert mich zwar nicht, aber bevor er gar nicht mehr kommt, höre ich ihm zu. Er hat sich übrigens auch mit Renate angefreundet, zum Ärger ihres Mannes.”

„Läuft da etwas zwischen den beiden? Das könnte doch auch ein Grund dafür sein, dass sie durcheinander ist.”

„Das kann ich mit absoluter Sicherheit ausschließen.” Wieder einmal huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. „Klaus hat nichts übrig für Frauen, er ist schwul. Der Alte war ganz schön sauer, alsKlaus sich vor vier Jahren mit den Worten: Ich bin schwul, und das ist gut so, öffentlich geoutet hat. Das Beispiel seines Namensvetters aus Berlin hatte ihm Mut dazu gemacht. Am liebsten hätte der Alte ihn hochkant rausgeworfen, der scheinheilige Moralapostel. Aber er braucht ihn.”

„Lassen Sie uns wieder zurückkommen zum Karsamstag. Was hat Renate erzählt?”

„Nicht viel mehr, als ich bereits wusste. Renate hat ja Ende 2003 ihren Dienst bei der Polizei quittiert und arbeitet seitdem hauptberuflich in der Verwaltung des Gutes mit. Sie ist zuständig für die Buchhaltung.”

„Hauptberuflich?”

„Ja, sie hatte die Buchhaltung schon lange zuvor über die Kanzlei ihrer Mutter betreut. Mit dem Unterschied, dass sie direkt vor Ort einiges an Mängeln entdeckt hat, die sie abgestellt hat. Eigenmächtig, wie man ihr vorwirft. Sie hat mir nur ganz kurz erzählt, dass es sich unter anderem um Steuerhinterziehung bei der Perlweinproduktion handeln würde.”

Ich musste unwillkürlich grinsen, da mir die verlockende Möglichkeit, der sich einige Winzer nicht entziehen konnten, hinlänglich bekannt war.

„Und natürlich wollte Renate diese Mängel auch rückwirkend beseitigen, was den nächsten Stein ins Rollen brachte.”

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. „Die hätten doch froh sein müssen. Wieso soll man riskieren, dass bei einer Betriebsprüfung Dinge hochkommen, die man rechtzeitig hätte abstellen können. Wenn die einmal den Anfang eines Garnknäuels gefunden haben, wickeln sie den bis zu seinem Ende auf.”

„Sie musste dazu in alte Vorgänge einsteigen, Ordner der letzten Jahre durchforsten und … Fragen stellen. Man hat ihr schließlich vorgeworfen, sie würde nur rumschnüffeln, statt ihre Arbeit zu machen.”

Ich entsann mich, dass Gertrud Faber mir von einigen Äußerungen Renates erzählt hatte, die sich nun konkretisierten. Von Ar­beitsbelastung hatte sie gesprochen, von langwierigen Diskussionen wegen Bagatellen.

„Wer warf ihr das vor? Ihr Mann, ihre Schwiegermutter? Oder auch Ihr Vater?”

„Der Alte schien sich da rausgehalten zu haben, obwohl er die Begabung besitzt, andere so zu manipulieren, dass sie gar nicht merken, dass sie sich geistig wie Marionetten verhalten. Nein, meine Schwester stänkerte und Benjamin spielte mit.”