Mörderische Bilanz

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Er ereiferte sich, als ob es darum ginge, uns für eineDemonstrationsveranstaltung zu gewinnen. „Und nicht zu vergessen: Rauschgiftdelikte. Die sind um ca. 2 000 auf rund 17 500 Fälle angestiegen. Und …”

Ich unterbrach ihn. „Heribert, hast du mich deshalb nach Alzey kommen lassen? Das hättest du mir auch per Fax schicken können.”

Er war so in Fahrt, dass ich ihn mit meiner Bemerkung nur kurz abbremsen konnte. Dagmar Keller legte ihre Hand auf meinen Arm, als wollte sie sagen: Lassen Sie ihn, er braucht das. Er muss ein wenig Dampf ablassen, um den Kopf frei zu bekommen.

„Natürlich ist das nicht der Grund. Aber auch das beschäftigt mich. Überleg doch mal, Darius, wir hätten es in der Hand, etwas zu ändern. Wenn nur unsere Steuergelder mehr in Ausbildung, in Jugendarbeit, in Streetworker und in polizeiliche Vorbeugungsmaßnahmen investiert werden würden!”

„Hör mal, ich bin Steuerberater und nicht Steuerverteiler”, versuchte ich noch einmal, ihn zu bremsen. Sinnlos. Sag dem Sturm, er soll nicht toben.

„Es gibt ja bereits greifbare Ergebnisse. Die Polizeipräsidien haben mehr als 30 operative Einheiten an Brennpunkten der Straßenkriminalität eingesetzt. Und was glaubst du wohl war das Ergebnis?” Wollte er wirklich eine Antwort von mir?

Nein, die wollte er selbst geben, doch Dagmar Keller kam ihm zuvor: „Dort wo Zivilfahnder und die Kollegen vom Streifendienst präsent sind, funktioniert die Brandverhütung hervorragend.”

„Die Straßenkriminalität”, nahm Heribert wieder den Faden auf, „ist um mehr als 2 500 Straftaten zurückgegangen. Alleine die Sachbeschädigungen sind um mehr als 1 600 Delikte rückläufig, Kapitaldelikte, also Mord, Raub,Vergewaltigungen – rückläufig, sexuelle Nötigungen, Bedrohung mit und Einsatz von Schusswaffen – rückläufig. Aber das sind doch nur ein paar Tropfen auf immer mehr werdende heiße Steine.”

Endlich schien seine Tirade beendet. Heribert setzte sich wieder, schloss die Augen und verharrte für einen Moment, wie ein Schauspieler, der auf seinen wohlverdienten Applaus wartet.

„Heribert, bitte, du sagtest, du benötigst meine Hilfe wegen eines Kollegen auf La Palma. Ich weiß bis jetzt noch nicht, um was es geht. Aber …” und jetzt klopfte ich mit der flachen Hand mehrmals auf seinen Schreibtisch, um den nächsten Satz zu unterstreichen, „ich habe auch etwas für dich. Vor vier Tagen erhielt ich einen merkwürdigen Anruf. So, wie es scheint, von einem Berufskollegen von den Kanaren.”

Ich dachte, dass Heribert nun endlich zur Sache kommen würde, jedoch schien er es irgendwie darauf angelegt zu haben, mich zur Verzweiflung zu bringen. Offensichtlich hatte er mir überhaupt nicht zugehört und setzte nach der kurzen Verschnaufpause zu einem neuen Wortschwall an.

„Wie schon gesagt, wir hätten es in der Hand. Aber was machen wir? Wir vergeuden die für unsere Zukunft notwendige Zeit in Rückwärtsbetrachtungen. Nach dem Motto: ‚Wer kriecht seinem Chef am weitesten in den Allerwertesten‘. Da, lies!”

Mit einem schiefen Seitenblick auf seine Kollegin reichte er mir ein Papierknäuel, das er zuvor aus seinem Papierkorb gefischt hatte, entzog es mir aber sofort wieder mit der Bemerkung: „Gib her, ich lese es dir vor, damit du siehst, womit Dagmar und ich, wie auch all die anderen Kolleginnen und Kollegen, uns tatsächlich auseinandersetzen müssen, weil unser aller Wohl davon abzuhängen scheint.”

Er glättete das Dokument und las mit aufgesetzter Feierlichkeit. „Grundsätze der Beurteilung – das war die Überschrift. – Bedienstete sind unabhängig von Beurteilungen auf Leistungs- und Verhaltensmängel aufmerksam zu machen. Ihnen ist rechtzeitig Gelegenheit zur Beseitigung dieser Mängel zu geben. Die Art und Weise, in der sich der Beurteilungsprozess vollzieht, ist von wesentlicher Bedeutung für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit und für die Transparenz des Beurteilungsverfahrens. Sie eröffnet zugleich die Möglichkeit der Standortbestimmung der Beurteilten und der Rückkopplung für die Vorgesetzten. Deshalb haben vor allem die vorbereitenden, begleitenden und abschließenden Gespräche besonderes Gewicht. Das Beurteilungsverfahren soll, um eine geschlechtsbezogene Benachteiligung auszuschließen, diskriminierungsfrei und geschlechtsneutral sein und …

An dieser Stelle unterbrach er sich plötzlich und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an, als würde er mich erst in diesem Moment wahrnehmen.

„Was hast du da gesagt? Du hast vor vier Tagen, am …” Er warf einen Seitenblick in seinem Tischkalender. Dann nahm er einen E-Mail-Ausdruck zur Hand, den er ebenfalls kurz überflog und sah mich nachdenklich an. Blitzschnell hatte er auf die sachliche Ebene umgeschaltet und war endlich wieder der „Alte.”

Ich sollte es bald bereuen.

„Dagmar, lässt du uns jetzt bitte alleine?”

Sie beteuerte, dass sie das auch gerade hatte vorschlagen wollen, nickte mir freundlich zu und verschwand durch die Tür. Heribert wartete bis sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, bevor er fortfuhr.

„Ja, dann muss es tatsächlich am Freitag dem 19. gewesen sein. Du sagst also, dass du einen Anruf bekommen hast? Um was ging es dabei?”

„Ich kann mir keinen Reim darauf machen”, begann ich zögernd. „Ein Mann, er muss schon älter gewesen sein, er flüsterte ängstlich meinen Namen.”

„Kam dir die Stimme bekannt vor?”

„Nein. Der sprach auch so leise. Ich fragte dann, um was es denn geht. Und er sagte, auch …, warte, jetzt entsinne ich mich wieder: Er sagte auch, dass ich ihn nicht kenne, aber wir wären Berufskollegen und er müsse mich dringend sprechen und es wäre wichtig. Na ja, er war überaus aufgeregt. Oder sagte er sehr wichtig?”

Ich blickte Heribert fragend an, als ob er mir die Antwort darauf geben könne. Er hatte während meiner Schilderung mehrmals auf seine Uhr gesehen und kurze Notizen auf einem Stück Papier gemacht. Trotzdem schien er mir zugehört zu haben. Auf meine eigentlich sinnlose Frage reagierte er jedenfalls mit Schulternzucken. Dann bedeutete er mir mit einer Handbewegung fortzufahren, schloss dann aber doch erst einmal einen Fragekatalog an.

„Woher kannte er dich eigentlich? Was wollte er? Weshalb rief er gerade dich an? Hat er seinen Namen genannt?”

„Es war wirklich merkwürdig. Er sagte, er sei durch einen Artikel im deutschsprachigen Wochenspiegel auf mich gestoßen. Später erst ist mir eingefallen, dass es sich dabei um das wöchentlich erscheinende Journal handeln könnte, das auf den Kanaren vertrieben wird, auch auf La Palma.”

„Und seinen Namen?”, hakte Heribert nach, „hat er den denn nicht genannt?”

„Nein, dazu kam er nicht. Ich entsinne mich zwar, dass er dazu ansetzte. Dann stammelte er aber etwas wie: Wassoll denn das .., das ist doch idiotisch …, lass das …, wir können doch darüber reden …, meine Tochter … So, als ob er verwirrt war. Und dann war die Verbindung auf einmal unterbrochen. Es knackte nur noch in der Leitung. Da habe ich aufgelegt.”

Wieder sah Heribert auf seine Uhr. „Um welche Zeit war das?”

„Das muss so gegen 22 Uhr 30 gewesen sein. Ich weiß das daher so genau, weil Sonja kurz danach von der Chorprobe ihrer Gesangsgruppe in Siefersheim bei mir vorbeikam.”

Heribert schüttelte den Kopf und blickte noch einmal auf den E-Mail-Ausdruck. Dann stellte er lakonisch fest,

„Das kann nicht sein.”

„Natürlich kann das sein, weil nämlich …”

Ohne zu realisieren, dass ich zu einer Erklärung angesetzt hatte, unterbrach mich Heribert, um seinen Gedankengang fortzusetzen.

„Es sei denn, du hast mit einem Geist telefoniert. Da war der nämlich schon eine Stunde tot. Vorausgesetzt, die Angaben von Inspector Muñoz von der …” wieder sah er auf den Ausdruck und las zögernd „Politsia Juditsial de Santa Crutz de La Palma, sind korrekt. – Das ist die Kripo dort.”

Trotzdem ich mir sicher war, dass mein Freund sich verrannte, mich andererseits die Angelegenheit aber auch verwirrte und meine Neugierde weckte, dominierte mich meine berufstypische Korinthenkackerei. Ich konnte nicht anders, als zuerst eine Korrektur anzubringen. „Die Übersetzung stimmt, aber an deiner Aussprache musst du noch feilen. Ein Spanier würde dich nur mit allergrößter Mühe verstehen, obwohl du buchstabengetreu abgelesen hast. Ein c vor den Selbstlauten i und e und wenn es der letzteBuchstabe in einem Wort ist, wird in der Regel mit der Zungenspitze zwischen den Schneidezähnen gesprochen. So, wie du es vom englischen th kennst. Also, Poli-th-ia Judit-th-ial de Santa Cru-th de La Palma.”

Heribert seufzte. „Und das ist alles, was dich nun interessiert? Dann kann ich ja kurz deine Aussage zu Protokoll nehmen und an den Kollegen nach Spanien schicken.”

„Wie kommen die überhaupt auf mich und worum geht es?”, überging ich seinen verständlichen Zynismus.

„Vor drei Jahren habe ich bei einem internationalen Polizeiseminar in Hamburg einen spanischen Kollegen kennen gelernt und mich ein wenig mit ihm angefreundet. Wir haben die Adressen ausgetauscht und zu den Feier- und Geburtstagen schicken wir uns seitdem ein Kärtchen. Er heißt Muñoz mit Nachnamen und mit Vornamen, du wirst es nicht glauben, Heribert.”

„Ich wusste gar nicht, dass dein Vorname aus dem Spanischen kommt? Eribert klingt ja auch irgendwie melodischer und weniger profan. Dabei dachte ich immer Heribert kommt aus dem Althochdeutschen, hat was mit Heer und Krieger zu tun. Aber jetzt verstehe ich, weshalb mir bei dir ab und zu etwas spanisch vork…”

„Umgekehrt wird ein Schuh draus”, unterbrach er mich heftig. „Die Erklärung ist ganz simpel. Seine Mutter ist Deutsche und sein Vater Palmero. Er hat mir erzählt, dass sie sich Anfang der Siebziger bei einem Aufenthalt auf La Palma in seinen Vater und die Insel verliebte. Sie blieb dort und ein Jahr später kam er zur Welt. Sein Taufpate, der Bruder seiner Mutter, heißt Heribert. Daher der für einen Palmero ungewöhnliche Vorname. Mit dem zweiten Vornamen heißt er übrigens José, den benutzt er aber nicht. Er ist zweisprachig aufgewachsen und spricht daher fließend deutsch, sogar mit rheinischem Akzent.”

 

„Und was hat das nun mit mir zu tun?”

„Er hat sich gestern Morgen telefonisch direkt mit mir in Verbindung gesetzt und im Laufe des Tages auch über seine vorgesetzte Behörde. Er benötigt meine Hilfe, schnell und daher unbürokratisch.”

„Aber, ich verstehe immer noch nicht.”

„Ich gehe am besten mal der Reihe nach vor. So, wie inzwischen mein Informationsstand durch Heribert und meine eigene Recherchen beim Einwohnermeldeamt und der Steuerberaterkammer ist. Ich habe es bereits chronologisch sortiert.” Heribert nahm seinen kleinen zerfledderten DIN-A 5-Notizblock, mit Ringheftung, der mich immer wieder an Colombo erinnerte. Er blätterte ihn nervös durch und suchte offenkundig den Anfang seiner Aufzeichnungen.

„Da ist es. Am Abend des 19. Septembers 2003 – also, Freitag letzter Woche – wurde die Feuerwehr von Breña Baja abends wegen eines Brandes im Wohnhaus einer Finca oberhalb der Wohnsiedlungen zugewanderter Residente alarmiert. Kennst du die Gegend?”

„Aber ja. Das ist eine kleine Ortschaft, cirka fünf Kilometer südlich der Inselhauptstadt Santa Cruz, nicht weit weg vom Flughafen. Dadurch, dass Breña Baja etwa 300 Meter hoch liegt, hat man von den meisten Grundstücken aus einen herrlichen Blick auf den Atlantik. Bei gutem Wetter kannst du von dort aus sogar den Teide auf Teneriffa erkennen. Dort haben viele Deutsche ihren Dauerwohnsitz, ohne eingebürgert zu sein. Die so genannten Residente, wie du ja schon gesagt hast.”

Heribert machte sich eine kurze Notiz.

„Und? Was war da nun?”, wollte ich weiter wissen.

„Der Brand verursachte nur einen geringen Schaden. Die Feuerwehr ist nicht weit entfernt und wurde offenbarauch unmittelbar nach dem Ausbruch des Feuers alarmiert. So konnte sie zwar die Flammen innerhalb kurzer Zeit unter Kontrolle bringen, aber den Hausbesitzer, einen 69-jährigen Deutschen, namens Conrad Hauprich, fand man tot in seinem Wohnzimmer. Dort wird nach dem ersten Stand der Ermittlungen auch der Brandherd vermutet. Die Leiche befand sich trotzdem noch in einem so guten Zustand, dass bereits der Notarzt, den man aus dem in der Nähe gelegenen Krankenhaus herbeigerufen hatte, erkennen konnte, dass der Tod nicht durch die Verbrennungen oder den Rauch, sondern wahrscheinlich durch mehrere Stichwunden verursacht worden war. Das wurde auch kurz danach von dem Polizeiarzt, der mit der Kripo eingetroffen war, bestätigt.

Heribert Muñoz und der Fiscal …, das scheint wohl der Staatsanwalt zu sein?” Heribert sah mich fragend an.

„Kann sein. So gut sind meine Spanischkenntnisse nun auch wieder nicht”, antwortetet ich gereizt. Ich wusste immer noch nicht, worauf das hinauslaufen sollte.

„Na gut”, fuhr Heribert mit einer beschwichtigenden Handbewegung fort. „Er heißt Feliciano Garcia und leitet jedenfalls die Untersuchung. Man hatte zuerst wegen des Verdachts auf Brandstiftung ermittelt, dann aber die Untersuchung auf ein Tötungsdelikt ausgeweitet.

Der Todeszeitpunkt war übrigens wegen des schnellen Einsatzes ziemlich genau zu ermitteln, plus/minus zehn Minuten.”

Langsam dämmerte es mir, dass vielleicht der Tote der unbekannte Anrufer gewesen war. Aber weshalb sollte er telefonisch Kontakt mit mir aufgenommen haben? Was hatte ich mit ihm zu tun? Und, was mich noch weitaus mehr interessierte, wie hätten Heribert Muñoz oder Heribert Koman das wissen können?

„Jetzt erklär mir doch endlich einmal, was in Dreiteufelsnamen dich dazu bewogen hat, mich zu dieser Sache zu befragen?”

„Gleich weißt du es. Unweit des Hauses, auf dem Tisch einer Sitzgruppe im Garten, lag der aufgeschlagene Kalender von Hauprich. Laut einem Eintrag in seiner Handschrift hat er an diesem Abend einen Besucher erwartet. Die Eintragung war in Deutsch und lautete: 20.30 Uhr, letzter Mandant, E.-B., 250 000. Und jetzt kommst du ins Spiel.”

Den nächsten Satz leitete er mit bedeutsamem Nicken ein. „Neben dem Kalender lag die Inselzeitung von Mitte August. Sie war umgefaltet bei einem Artikel über Hera Simonis. Darin ist unter anderem ein Darius Schäfer, Steuerberater in Bernheim bei Alzey erwähnt. Und dieser Name war dick unterstrichen. Am Rand ist eine Nummer gekritzelt – 0049. Das ist die Vorwahl von Deutschland. Und dann ….”

Er hielt mir seine Notizen hin und deutete auf die Ziffernfolge, die mit einem Bindestrich von der Landesvorwahl getrennt war. „Lies selbst!” Seine Aufforderung klang fast beschwörend.

„Mein Telefonanschluss! Das gibt‘s doch nicht!”

„Doch, siehst du ja. Und jetzt, Darius, bist du dran!” Heribert legte sein Notizbuch zur Seite und lehnte sich zurück.

„Ich bin erst einmal sprachlos”, entgegnete ich und atmete tief durch.

„Das war es wert”, grinste Heribert zufrieden, erkannte jedoch sofort die Unangemessenheit seiner Bemerkung und schwächte sie mit einem entschuldigenden „Sorry, war nicht so gemeint, dafür ist die Angelegenheit zu ernst” ab.

Ich dachte einige Sekunden nach. Hera Simonis! Sie war die Ehefrau des von seinen Mitarbeitern ermordeten Kollegen aus Alzey. Wir hatten im Umfeld der Aufklärung des Mordes mehrere Male miteinander zu tun gehabt. Ihre Ehe hatte an dem Tag aufgehört glücklich zu sein, als ihre kleine Tochter Corinna spurlos aus dem Garten der Großeltern verschwand. Jede Suche nach dem Kind blieb erfolglos. Es hatte auch nie Lösegeldforderung gegeben, so dass eine Entführung schließlich ausgeschlossen wurde. Während ihr Mann über die Jahre hinweg immer mehr verbitterte, wurde Hera Simonis krank.

Man hätte erwartet, dass der grausame Tod von Peter Simonis zu ihrem endgültigen Zusammenbruch führen müsste, aber das Gegenteil war der Fall. In dieser traumatischen Situation war sie über sich hinaus gewachsen und hatte schließlich die Ermittlungsarbeit durch ihre Mithilfe wesentlich beschleunigt.

Beatrice, meine geschiedene Frau, hatte die langjährige Leidensgeschichte der Witwe und ihren Weg in eine lebenswerte Zukunft zum Anlass für eine inzwischen erfolgreiche Sendereihe mit dem Titel „Wer nicht am Abgrund steht, dem wachsen keine Flügel” gemacht. Das hatte ein derartiges Aufsehen erregt, dass man Hera Simonis daraufhin geradezu vermarktet hatte. In Zeitungsartikeln und Talkshows hatte man sie zur Vorbildfigur für Menschen stilisiert, die sich nicht mehr mut- und kampflos ihrem Schicksal ergeben wollten.

„Artikel!”, fuhr es mir durch den Kopf. „Heribert, was ist das für ein Artikel mit Hera Simonis und mir? Wir sollten sie umgehend anrufen oder aufsuchen und nachforschen, ob sie dazu etwas sagen kann.”

„Das ist bereits geschehen. Ich habe heute Morgen mit ihr telefoniert und mit der Redaktion des Wochenspiegel inGran Canaria. Die haben tatsächlich in einer der letzten Ausgaben aller kanarischen Inseln über die Artikelserie von Beatrice berichtet. Dazu wurde im Nachdruck der etwas reißerisch aufgemachte Artikel, den ein Redakteur der Regenbogenpresse über Hera Simonis geschrieben hatte, verwendet. Da wird ihr ganzes Leben breitgetreten. Und zwar ziemlich voyeuristisch, wenn du mich fragst. Frau Simonis hat, wie sie mir gesagt hat, über Ihren Rechtsanwalt juristische Schritte gegen die Zeitschrift eingeleitet. Außer einer formelhaften Erklärung zum Pressegesetz und dem üblichen Blabla der Regenbogenpresse ist nichts dabei herausgekommen. Sie wusste nichts von dem Artikel im Wochenspiegel. Davon hat sie erst durch mich erfahren. Offenbar geht der noch mehr ins Detail als seinerzeit dieses Boulevardblatt. Und im Wochenspiegel ist auch die Rolle beschrieben, die du bei der Aufklärung des Mordes gespielt hast, mit Nennung von Ross und Reiter.”

„Ja, jetzt ist mir die Sache vom Ablauf her schon etwas klarer, aber mir fehlt der Hintergrund. Was, bitte schön, habe oder hatte ich mit Herrn Haurich zu tun?”

„Hauprich, Darius, mit p, Conrad Hauprich”, stellte Heribert richtig. „Was ich auf die Schnelle bisher herausbekommen konnte, ist Folgendes: Er führte als Steuerbevollmächtigter eine mittelgroße Kanzlei in Bingen-Büdesheim, die er vor etwa 25 Jahren verkaufte. Sagt er dir als Kollege etwas? Kann es sein, dass ihr euch schon einmal begegnet seid? Auf einer Fortbildungsveranstaltung, bei einem Vortrag oder einer Versammlung vielleicht?”

„Nicht dass ich mich erinnern könnte. Ich bin ja auch erst seit 14 Jahren mit der Kanzlei in Bernheim.”

„Hätte ja sein können.”

Heribert sah wieder in seine Aufzeichnungen. „Anscheinend hatte er alle Zelte abgebrochen, denn seine Spur verlor sich in Deutschland ab dem Verkauf der Kanzlei. Aber genau zu diesem Zeitpunkt tauchte er mit seiner Familie auf La Palma auf. Dort besaßen sie schon zu einer Zeit, als es noch nicht in war, eine alte Finca, die sie danach im Laufe der Jahre zu einem ansehnlichen Anwesen umgebaut haben. Mit Blick auf das Meer, Swimmingpool und allem drum und dran. Muss eine tolle Lage sein – laut meinem Namensvetter und wie du ja auch schon beschrieben hast.”

„Da hat er seine Kanzlei ja gut verkauft, wenn er seit 25 Jahren das geruhsame Leben eines Rentners genießen kann”, stellte ich mit etwas Sehnsucht fest.

„Nur kein Neid, Darius. Im Gegensatz zu ihm kannst du das Leben noch genießen. Er hat nichts mehr davon. Außerdem hat er wohl auch auf La Palma gearbeitet und gut verdient. Heribert recherchiert noch. Hauprichs Frau, Ilona, ist vor vier Jahren gestorben und es existiert noch eine Tochter”, er sah wieder in seine Notizen, „Isabelle. Aber da gibt es offenbar einige Merkwürdigkeiten, zu denen mir Heribert auch noch nichts sagen konnte.”

„Wenn du den Namen Heribert aussprichst, dann habe ich den Eindruck, als ob du von dir in der dritten Person sprichst. Sag einfach Eribert. Im Spanischen wird das H nämlich nicht gesprochen.”

„Danke für die weitere Lektion Spanisch sprechen in fünf Minuten”, nickte Heribert mit gespieltem Ernst, klappte die umgeblätterten Seiten seines Notizblockes wieder zu und sah mich erwartungsvoll an.

„Was willst du nun von mir wissen?”, beendete ich das sekundenlange Schweigen.

„Ob du mir die Wahrheit gesagt, dich nur geirrt odermich angelogen hast!” Sein Tonfall verriet, dass er sich inzwischen immer weniger wohl fühlte in seiner Haut.

„Wie meinst du das?”

„Darius, wir sind befreundet. Das kann ich nicht einfach negieren. Die Kollegen in Spanien haben uns um Amtshilfe ersucht, zugegeben noch inoffiziell. Aber du weißt ja, dass das im Rahmen der EU-Harmonisierung inzwischen nur noch reiner Formalismus ist.”

Ich setzte zu einer Frage an, was Heribert jedoch mit einer energischen Handbewegung abwehrte.

„Die derzeit einzige Spur auf der Suche nach dem Täter führt nach Deutschland, hierher, zu dir. Und es ist meine Aufgabe, der Sache auf den Grund zu gehen. Egal, was dabei herauskommt. Je mehr ich die inzwischen bekannten Tatbestände miteinander verbinde und die potenziellen Möglichkeiten dazu addiere …”, er schüttelte den Kopf. „An der Geschichte stimmt etwas nicht!”

„Wovon sprichst du? Welche Tatbestände? Was soll nicht stimmen?”

„Darius, ich bin ja überzeugt davon, dass sich alles aufklären wird. Bevor sich ein anderer einschaltet, zum Beispiel, weil mir wegen unserer Freundschaft Befangenheit unterstellt wird, lass uns in Ruhe alles auf die Reihe bringen. Wir müssen alles dokumentieren, was auch nur irgendwie auf eine Verbindung zwischen dir und dem Mordopfer hinweisen könnte.”

„Dann fang an.” Ich nickte und war gespannt, wie sich die Sache entwickeln würde.

„Erstens: Conrad Hauprich kommt ursprünglich hier aus der Gegend. Zweitens …”, er zählte mit den Fingern mit, „Bingen liegt etwa 30 Kilometer von deinem Wohnort entfernt. Drittens: Ihr seid Berufskollegen und zudem im gleichen Kammerbezirk. Zu der Zeit, als Hauprich noch inBingen seine Kanzlei führte, warst auch du schon Steuerberater. Viertens: Dein Name ist im Wochenspiegel unterstrichen – dick unterstrichen. Fünftens: Deine Telefonnummer ist neben deinem Namen aufgeschrieben. Sechstens und am wichtigsten: Ihr habt tatsächlich miteinander telefoniert, das ist bereits bewiesen. Deshalb hat mich der Kollege Muñoz auf dich angesetzt. Ob als möglicher Tatzeuge oder als Verdächtiger, das ist zuerst einmal nebensächlich.”

 

„Was soll denn da noch bewiesen werden, wenn ich es dir doch bereits gesagt habe. Ich habe dir ja aus freien Stücken von dem Anruf am Freitag erzählt. Das müsste doch genügen, mehr weiß ich nicht.”

„Die Sache ist nur die: Conrad Hauprich besaß einen ISDN-Telefonanschluss und der bewusste Anruf ist mit deiner Nummer, dem Datum, der Uhrzeit und sogar der Dauer gespeichert.”

„Ja also, dann ist doch alles paletti.”

Ungerührt fuhr Heribert fort. „Um wie viel Uhr sagtest du war das Telefonat?”

„So gegen 22 Uhr 30.”

„Siehst du, da beißt sich die Katze in den Schwanz. Zu diesem Zeitpunkt war Conrad Hauprich nämlich bereits eine Stunde lang tot. Der Todeszeitpunkt, ich sagte es bereits, konnte recht exakt bestimmt werden, und zwar auf 21 Uhr 30. Und der Anruf mit dir war, laut Telefonspeicher, genau um 21 Uhr 27 und 16 Sekunden. Außerdem dauerte das Gespräch bedeutend länger, als es aufgrund deiner Schilderung hätte dauern dürfen.”

„Würdest du mir das bitte etwas ausführlicher erklären?” Langsam kam mir jetzt doch die Galle hoch.

Herr Schäfer …” zitierte Heribert das Telefonat aus dem Gedächtnis, „was kann ich für Sie tun? … Sie kennenmich nicht … ich muss unbedingt mit Ihnen sprechen … es ist wichtig … wir sind Kollegen … Ihren Namen habe ich aus einem Artikel im Wochenspiegel … ich bin … lass das … was soll denn das … lass uns doch darüber reden … das ist doch verrückt … meine Tochter. Das dauerte”, er sah auf die Notiz, die er sich bei meiner Schilderung gemacht hatte, „… maximal 25 Sekunden. Ich habe auf die Uhr gesehen. Das Telefonat mit dir dauerte aber, laut der gespeicherten Zeit, tatsächlich vier Minuten und 33 Sekunden.”

Er hatte sich zu mir gebeugt und sah mir direkt in die Augen. „Denk genau nach: Wann hast du den Anruf bekommen? Vielleicht verwechselst du etwas.”

Ich schüttelte halsstarrig den Kopf.

„Bist du vielleicht zwei Mal angerufen worden?”

„Daran könnte ich mich erinnern.”

„Vielleicht ist Sonja beim ersten Mal drangegangen”, schlug Heribert vor.

„Quatsch, das habe ich doch schon gesagt, dass Sonja bei der Chorprobe war. Deshalb kann ich mich ja auch so genau an die Uhrzeit erinnern”, erklärte ich genervt.

Heribert seufzte resigniert: „Wir brauchen eine schlüssige Antwort, oder aber …!”

Ich überlegte kurz, tippte mir mit dem Zeigefinger an die Stirn, als ich den logischen Fehler erkannt hatte, und lachte dann zu Heriberts sichtlichem Erstaunen lauthals auf. Bevor er sich von seinem Staunen wieder erholte, wurde ich schlagartig ernst.

„Zu welchen Schlussfolgerungen aus all dem, was nun schwarz auf weiß bekannt ist, könnte denn einer deiner Kollegen kommen? Einer, dem ich so unsympathisch bin, dass er seine Animosität bewusst zügeln muss, und der zudem von seiner Kombinationsgabe überzeugt ist.”

„Du meinst so einen übereifrigen, karrieregeilen Typen mit überbordender Fantasie? So einer, wie er als Realität getarnte Persiflage in schlechten Fernsehkrimis vorkommt?”

„Jetzt sag bloß, in deinen Reihen gibt es nur unfehlbare Computer, statt Menschen, normale Menschen, mit normalen Schwächen, die sie zu ihrer eigenen Karikatur machen können.”

„Das mag ich jetzt nicht diskutieren”, wehrte Heribert ab. „Aber auch ohne die Kombinationsgabe eines Sherlock Holms liegen mögliche Schlussfolgerungen offen auf der Hand: Ganz einfach – du lügst!”

„Und warum, bitte sehr, sollte ich lügen?” forderte ich Heribert heraus, dem der logische Fehler immer noch nicht aufgefallen war.

Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht um jemanden zu decken. Jemanden der um halb zehn noch kein Alibi hat, wohl aber um halb elf, wenn ihn ein Duzend Zeugen in einer Taverne bei einem guten Wein gesehen haben. Oder aber du hast gar nicht mit Hauprich gesprochen, sondern mit dem Täter, der dich um Hilfe bittet oder – schlimmer noch – der dir mitteilt, dass der Auftrag erledigt ist.”

„Und das Motiv?” bohrte ich nach.

Heribert blies die Backen auf.

„Siehst du, das Schweigen im Walde, du hast nichts, was beweisbar wäre”, trumpfte ich auf. „Das Ganze steht und fällt doch damit, dass es als Tatsache gilt, dass nicht Conrad Hauprich mit mir telefoniert hat, sondern eine unbekannte Person. Und zwar von Hauprichs Anschluss aus”, resümierte ich.

„Ja, und zwar, da du ja auf Beweiskraft pochst, nachweislich 4 Minuten 33 Sekunden lang.”

Ich sah Heribert durchdringend an, bevor ich ihn mit der Feststellung „du warst doch erst dieses Jahr in deinem Urlaub auf den Kanaren”, sichtlich überraschte.

„Ja, auf Fuerteventura, das weißt du doch. Was hat das mit dieser Sache zu tun?”

„Sehr viel. Kurz vor der Landung in Puerto del Rosario, was hat der Flugkapitän da über die Ortszeit und das Stellen der Uhren gesagt?”

Heribert runzelte die Stirn, blickte irritiert erst auf seine Uhr und dann wieder auf mich, bevor er mit der flachen Hand laut klatschend gegen seine Stirn schlug.

„Wie kann mir so etwas nur passieren?!”, Heribert schüttelte ärgerlich der Kopf. „Seit wann war dir klar, dass es nach der kanarischen Ortzeit eine Stunde früher als bei uns ist?”

„Seit dem Moment, als du so händeringend eine schlüssige Antwort gesucht hast. Da wollte ich den Gedankenfehler noch aufklären, aber du warst so im Rausch deiner potenziellen Beweisführung, dass ich dir deinen Spaß gönnen wollte.”

„Das ist kein Spaß, Darius!” Heriberts Stimme klang fast verzweifelt. „Mir geht es vor allem auch darum, dass du nicht in irgendeine Schweinerei hineingezogen wirst und ich nichts mehr daran ändern kann, wenn du von anderen Kollegen in die Mangel genommen wirst. Was meinst du, wie unsere Freundschaft und deine Aktivitäten bei der Aufklärung der Mordfälle deines Freundes Horst Scheurer und deines Kollegen Peter Simonis im Kollegenkreis kolportiert werden. Da ist Neid im Spiel, der mit dem Mäntelchen der massiven Verstöße gegen unsere internen Regeln zugedeckt wird. Was meinst du, was ich mir deswegen schon alles habe anhören müssen. Und dir ans Zeug zu flicken wäre für einige ein wahres Festival.”

Ich sah ihn ungläubig an. Fast beschwörend redete er daher auf mich ein. „Vermutlich ist es ja wirklich einer dieser verhängnisvollen Zufälle, aber als Kriminalist muss ich in verschiedene Richtungen denken. Vielleicht”, mutmaßte er, „bist du jemanden auf die Füße getreten und diese Person, oder auch ein Personenkreis, will dich diskreditieren. Man will dich persönlich und beruflich fertig machen!”

Ich sah ihn fragend an. „Auch wenn es der größte Schwachsinn ist? Kein Mensch bringt am anderen Ende der Welt einen Menschen um, nur um einem dritten an diesem Ende der Welt ans Zeug zu flicken!”

„Und wenn einer nun zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen will?”, hielt Heribert dagegen.

„Aber dann würde das Ganze doch nur Sinn machen, wenn es eine Verbindung zwischen Hauprich und mir gäbe. Aber ich kenne den Mann gar nicht! Bin ihm nie begegnet, ich weiß nicht einmal, ob ich einen Mandanten habe oder hatte, der vor Urzeiten zu seinem Mandantenstamm gehörte.”

„Das könntest du aber herausfinden.”

„Das kann ich versuchen. Trotzdem, deine Schlussfolgerungen, lieber Heribert, kommen mir nun wirklich etwas paranoid vor. Verzeih bitte diesen Ausdruck, aber mir fällt momentan nichts Besseres ein.”

„Was du als Verfolgungswahn abtust, nenne ich Wachsamkeit, meinetwegen auch Argwohn.”

Ich merkte, dass Heribert von meiner Reaktion über seine Sorge um mich gekränkt war, und nahm daher ihm zuliebe den Gedanken an eine Rache gegen mich auf.

„Da fällt mir spontan nur eine Person ein, der ich einerseits die nötige kriminelle Energie, die Skrupellosigkeit und andererseits den Verstand zutraue, etwas derartigesauszuhecken und auch durchzuführen. Ein Mensch, der mich tatsächlich abgrundtief hassen muss …”