Bilanz einer Lüge

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„Na ja, ich habe schon bessere komödiantische Ergüsse erlebt. Aber nicht von dir. Ziemlich laienhaft, aber dafür war es schon ganz gut. Einfach üben.”

Ich nahm das Protokoll vom Tisch, erhob mich und ging zur Tür. Dort drehte ich mich noch einmal um und wedelte mit dem Papier.

„Damit das von vornherein klar ist: Ich entscheide, wie ich vorgehe! Die Kompetenzen liegen bei mir”, bestimmte ich.

„Genauso, wie du die Verantwortung trägst. Bis hin zu etwaigen haftungsrechtlichen Konsequenzen. Du bist schließlich weiterhin Berufsständler und weißt, in welchem gesetzlichen Rahmen du dich zu bewegen hast.”

„Soweit es meine Verschwiegenheitsverpflichtung betrifft”, schränkte ich ein.

„Klar doch. Bei allem anderen bist du ja sowieso nicht zu bremsen. Ich sage nur Hausfriedensbruch, Fälschung von Dokumenten, Zurückhaltung von Informationen bei der Staatsanwaltschaft und so weiter.”

„Wenn du auf die Mittel anspielst, derer ich mich ab und zu bei der Aufklärung bedienen musste, dann solltest du dabei aber nicht vergessen, wie erfolgreich diese den Zweck heiligten. Immerhin habe ich in den letzten sieben Jahren mehrere unnatürliche Todesfälle und eine Entführung aufgeklärt, Familien zusammengeführt und nicht zu vergessen … ach, was rede ich denn. Ich muss mich doch vor dir nicht rechtfertigen.”

„Deine Erfolge ändern nichts daran, dass du dich abseits der Legalität zu bewegen pflegst. Und ich habe den Eindruck, dass dir das sogar Spaß macht.”

„Alles Definitionssache”, frotzelte ich.

„Wie belieben?”

„Nimm nur mal das, was du in deinem konservativen Sprachgebrauch als Hausfriedenbruch bezeichnest. Was für ein böses Wort! Für mich handelt es sich dabei nur um eine banale Besitzstörung. Und das, was du Dokumentenfälschung nennst, ist in Wirklichkeit eine legale Eigeninterpretation.”

„Ach ja. Und Informationszurückhaltung nennst du dann wohl selektive Kommunikation.”

„Siehst du, du hast es kapiert. Das klingt nicht nur schöner, sondern es handelt sich auch nicht um strafbare Tatbestände.”

„Nach deiner Auslegung, Darius. Wenn es nicht deinen Freund Heribert Koman, seines Zeichens Kriminalhauptkommissar bei der Polizeiinspektion Alzey gäbe, hätte man dich schon zig Mal am Kanthaken gekriegt.”

Carlos abwertende Handbewegung brachte mich wieder in die Realität zurück und ich verließ ohne weitere und zwecklose Erwiderung sein Büro.

Im ehemaligen Prüferzimmer war eine Art Notarbeitsplatz für mich eingerichtet. Ein Schreibtisch voller Prospekte und Fachzeitschriften, dahinter ein Sessel für mich und davor einen für eventuelle Besucher, eine Schreibtischlampe, ein Bildschirm, den ich an meinen Laptop anschließen kann, ein alter Drucker, ein antiquiertes Regal mit ebensolchen Fachbüchern und anderen Druckwerken. Dieses Ensemble kennzeichnete auf eindrückliche Art meine berufliche Endstation. Ich ließ mich in den Sessel fallen. Das Schriftstück mit der Problem-Chronologie der BEWAG GmbH ließ ich auf die Tischplatte flattern. An der Wand gegenüber hing, kostbar eingerahmt, meine Bestallungsurkunde.

„1976, mein Gott”, murmelte ich. „Seit 33 Jahren bin ich jetzt Steuerberater.”

Was hatte sich alles seitdem geändert. Nicht nur im Beruf, nein auch privat hatte ich dramatische Umwälzungen zu verkraften gehabt. Die Kanzlei, damals noch in Wiesbaden, hatte ich von meinem Vater übernehmen müssen. Quasi in Erbfolge. Widerspruch war zwecklos gewesen! Schließlich hatte er mir das Studium bezahlt. Wie nicht anders zu erwarten, hatte es ab dem ersten Tag Meinungsverschiedenheiten über die Kanzleiführung gegeben. Damals war ich schon drei Jahre mit Beatrice verheiratet gewesen und Mark, unser erster Sohn, war gerade zur Welt gekommen. Drei Jahre später war Marius dazugekommen. Kurz danach war mein Vater gestorben und meiner Mutter nachgefolgt. Ich hätte nie gedacht, dass er mir einmal so fehlen würde. Ich hatte mich in die Arbeit gestürzt, die Kanzlei war rasant gewachsen und die 80-Stunden-Wochen hatte Einzug gehalten. Mit ihnen waren die ersten Konflikte mit Beatrice gekommen, die sich rasch verschärft hatten. Genauso oft wie ich Besserung und Reduzierung meiner Arbeitszeit gelobt hatte, hatte ich meine Versprechen gebrochen. Acht Jahre lang hatten wir versucht, unsere Ehe zu retten – dazu waren wir umgezogen nach Bernheim, Beatrice Heimat. Ich hatte die Kanzlei verkleinert. Wir hatten unser kleines Weingut gekauft, da man dann etwas anderes zu tun hat, als nur im Büro zu sitzen.Die Arbeit war jedoch an Beatrice hängen geblieben. Wir hatten uns zwei Hunde angeschafft, da man dann gezwungen ist, mit ihnen an der frischen Luft spazieren zu gehen. Aber lediglich Beatrice und die Jungs hatten sich um sie gekümmert. 1997 war es zur Scheidung gekommen. Gedankenlos hatte ich meinen Anspruch an berufliche Verfügbarkeit übertrieben und dafür mein weiteres Zusammenleben mit Beatrice und meinen Söhne geopfert.

Die drastische Änderung meiner Lebenseinstellung, ausgelöst durch die aufrüttelnden Erlebnisse bei der Aufklärung des Mordes an Horst, meinem besten Freund, sie kam zu spät. Der Verkauf der Kanzlei an Carlo war nur noch eine logische Konsequenz gewesen. Ein Notverkauf. Nicht in finanzieller Hinsicht, sondern als lebenserhaltende Maßnahme.

Carlo, ich musste schmunzeln. Hier in diesem Zimmer hatte er früher gesessen. Beauftragt mit Betriebsprüfungen. Ein wenig übergewichtig war er damals gewesen. 85 Kilo bei einer Körpergröße von 1,72 Metern. Seine einleuchtende Erklärung dafür: „Ich bin net zu schwer, Herr Schäfer, ich bin zu klaa für mei Gewicht.” Idiomatisch Geübte konnten die sprachliche Vermengung heute noch heraushören: Ein Hesse in Rheinland-Pfalz. Carlo war zudem ein lebendes Chronometer. Mit absoluter Zuverlässigkeit konnte man die Uhr nach ihm stellen. Auch sein Tagesablauf war systematisch geregelt. Von acht bis zwölf Uhr und von ein bis sechs Uhr. Montags bis freitags. Abweichungen davon würde ihm Irene, seine Frau, auch verübeln. Und ich wusste, wie sie sein konnte. Ich hatte ihre diesbezüglichen Dispositionen lange genug genießen dürfen, als sie noch Dengler hieß und meine Sekretärin war. Integer, zuverlässig, schlagfertig, kompetent. Aber auch launenhaft. Nun war sie Carlos Sekretärin und Ehefrau in Personalunion.

Dennoch ließ sie es sich heute nicht nehmen, mich aus alter Gewohnheit mit ihrem einmaligen Cappuccino zu verwöhnen. Sanft stellte sie die Tasse auf dem Schreibtisch ab. Zuvor hatte sie noch störenden Papierkram (ihre Bezeichnung) zur Seite geschoben. Statt anschließend wie üblich wieder an ihren Arbeitsplatz zugehen, bleib sie dieses Mal stehen.

„Danke für den Cappuccino.” Beinahe hätte ich gedankenversunken vergessen, mich zu bedanken. Doch das schien es nicht gewesen zu sein, sie schien etwas loswerden zu wollen. „Ist noch etwas?”

Sie setzte sich und strich sich eine Strähne ihrer blonden Haare aus dem Gesicht.

„Es geht um Arnold. Ich möchte dir nur einen Tipp geben. Mit Carlo konnte ich darüber nicht sprechen. Er wollte nichts davon hören. Er meinte, wir sollten uns nicht am Dorfklatsch der Siefersheimer beteiligen.”

Ich sah Irene aufmunternd an. „Ich höre?”

„Da ist seit einiger Zeit eine Kampagne gegen Gero Arnold im Gange. Das ging kurz nach dem Tod seiner Mutter los.”

„Kampagne? Was meinst du damit?”

„Anfangs und alleine für sich gesehen, waren es scheinbar nur Belanglosigkeiten. Oder besser: Dinge, die halt im Geschäftsleben vorkommen. Aber im zeitlichen Verlauf und unter Beachtung der Häufigkeiten ergibt sich ein ganz anderes Bild. Es wird schlecht über ihn geredet. Er sei unzuverlässig. Kunden springen ab und auch bei den Mitarbeitern gibt es eine hohe Fluktuation. Seit er alleine lebt, soll er angefangen haben zu trinken. Er ließe sich häufig nachts Frauen von zweifelhaftem Ruf – du weißt schon – ins Haus kommen.”

„Und, ist da etwas dran?”

„Das ist es ja. Ich glaube das stimmt hinten und vorne nicht. Er ist einfach nicht der Typ dazu. Ich kenne ihn recht gut durch unsere Theatergruppe. Er ist für die Kulissen, die Plakate und unser Programmheft zuständig. Ich habe ihn jedenfalls noch nie alkoholisiert gesehen. Und uns Frauen und den Mädchen gegenüber verhält er sich zwar kameradschaftlich, aber stets korrekt. Da versucht jemand, ihn gezielt mit Gerüchten zu diskreditieren.”

„Hast du eine Idee, wer das sein könnte und weshalb?”

Sie schüttelte zögernd den Kopf und erhob sich.

„Ich habe eine Vermutung. Ich habe das Gefühl, da steckt noch mehr dahinter. Eine Riesenschweinerei. Aber ich will nicht, dass du eventuell in eine falsche Richtung recherchierst. Falls du eine Spur hast, kannst du gerne mit mir darüber sprechen. Vielleicht kommst du auf dasselbe Ergebnis wie ich.”

Nachdem Irene die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte ich mich dem Protokoll zu. Es war ordentlich strukturiert und dank Carlos gestochener Handschrift sehr gut lesbar. Neben seinem penibel geordneten Schreibtisch ein weiteres Indiz für seine fast schon pathologische Ordnungsliebe, für die ich ihn jedoch insgeheim bewunderte. Meine Hieroglyphen konnte ich nämlich manchmal selbst nicht mehr entziffern. Gedankenverloren rührte ich in meinem Cappuccino, während ich mich mit dem Inhalt des Protokolls befasste. Ich versuchte es in Einklang zu bringen mit dem, was sich aus dem Gespräch mit Carlo und aus Irenes Hinweisen ergeben hatte.

Zahlen:


Seit 2009 überproportionaler Umsatzrückgang. Prognose 2011 2,1 Mio EUR/Ist 2009 3,3 Mio EUR = Rückgang um fast 30 %


gleichzeitig Anstieg der Materialkosten von 29 % 2009 auf prognostiziert 38 % 2011


2011 wird erstmals in der Geschichte des Unternehmens ein Verlust erwirtschaftet, geschätzt 150.000 EUR

Ereignisse:

 

Auftragseingang geht zurück


Altkunden gehen zur Konkurrenz (meist zu Knober, Hunoldsheim)


sie springen sogar von vertraglichen Vereinbarungen ab, sodass sich auch die Auftragsvorlage verschlechtert


ähnliches Bild bei Neukunden


bei der Suche nach Gründen über direkte Nachfragen geben sie an, dass Knober preiswerter sei oder


sie flüchten sich in Ausreden oder erzählen von Informationen über das Unternehmen, aufgrund derer sie kein Vertrauen mehr in Qualität der Produkte und Zuverlässigkeit haben


wichtige Mitarbeiter kündigen


die Gewerbeaufsicht kommt aufgrund anonymer anzeigen und findet Unregelmäßigkeiten


beim Finanzamt gehen anonyme Anzeigen wegen Steuerhinterziehung und Zollvergehen ein


die Presse veröffentlicht Leserbriefe, in denen Unwahrheiten über Unternehmen und Unternehmer stehen

Vermutung:


Bereits vor vielen Jahren hatte es Querelen zwischen Gisela Arnold und dem Vater ihres Konkurrenten, Sigurd Knober, gegeben


Dieter Knober versucht, Gero Arnold zum Verkauf seines Unternehmens an ihn zu bewegen und unterbreitet ihm immer drängender Angebote, die im Laufe der Zeit nötigende Ausmaße annehmen – nur im Vier-Augen-Gespräch, ohne Zeugen.


Eine Einschaltung der Kriminalpolizei Alzey scheitert daran, dass kein strafbarer Tatbestand zu erkennen ist. Man empfahl, sich mit einem Rechtsanwalt oder einem Privatdetektiv zu beraten.

Donnerstag, 14. Juli 2011, Siefersheim

Gero Arnold war sofort bereit, sich mit mir zu treffen. „Sie glauben gar nicht, wie viel mir das bedeutet und wie sehr mich das erleichtert! Ich setze voll auf Sie und Ihr kriminalistisches Gespür. Sie haben es ja schon mehrmals erfolgreich unter Beweis gestellt. Herr Schäfer, Sie sind meine letzte Rettung!”, hatte er unsere telefonische Terminabsprache beendet.

Erst wollte ich ihn in seiner pathetisch gefärbten Erwartungshaltung bremsen. Schließlich hatten wir auch schon seit einigen Jahren keinen Kontakt mehr miteinander gehabt. Ich hatte jedoch den Eindruck, dass ihn seine Euphorie öffnen würde. Ich brauchte alles an ungefilterten Informationen, was nur irgendwie mit seinen Problemen zu tun hatte. Er sollte nicht lange überlegen, sondern alles heraussprudeln, was ihm so einfiel. Das Filtern durfte er getrost mir überlassen.

Von Bernheim bis Siefersheim hatte ich mit dem Pkw etwa fünf Kilometer zurückzulegen. Die idyllische Weinbaugemeinde gehört mit ihren knapp 1.300 Einwohnern zur Verbandsgemeinde Wöllstein. Der Ortsname leitete sich aus der fränkischen Zeit, Mitte des 5. Jahrhunderts, ab. Die Franken bevorzugten, im Gegensatz zu den abgezogenen Römern, ländliche Siedlungen. Sie gründeten und besiedelten jene Dörfer, deren Ortsnamen auf „-heim” enden. Die Baustruktur der bäuerlichen Anwesen ließ im Ursprung die fränkischen Hofanlagen heute noch deutlich erkennen. Hofreiten, Bruchsteingebäude aus regionalen Sandstein-Steinbrüchen, Kuhtempel und Gewölbekeller charakterisierten die archaische Architektur. Und nicht nur die bestimmten den Charme von Siefersheim. Hof- und Dorffeste, kulturelle Veranstaltungen, thematisch besetzte Weinbergwanderungen, Bauernmärkte, aber auch attraktive Angebote zur sportlichen Betätigung waren das bestätigende Pendant zur aufgeschlossenen Lebensart des Rheinhessen – falls es ihn überhaupt in Reinform gab.

Bekannt ist Siefersheim jedoch weit über seine Grenzen hinaus durch die hervorragenden Weine, die von annähernd zehn Weingütern angebaut und produziert werden.

Ich erreichte den Betrieb der BEWAG GmbH pünktlich um 18 Uhr, wie wir es vereinbart hatten. Gero Arnold wartete bereits auf der breiten Treppe, die zu der zweiflügeligen Eingangstüre aus Glas führte. Ich war schockiert, als ich ihn sah. Was war aus dem stets adretten Mann geworden, dessen positiver Ausstrahlung man sich nicht entziehen konnte? Seiner Kleidung nach zu urteilen, war er bereits auf Feierabend eingestellt: Er trug eine ausgebeulte Cordhose in einem undefinierbaren bräunlichen Ton, dazu ein Holzfällerhemd und darüber eine abgewetzte Wollweste. Dieses Ensemble hatte auch schon bessere Tage gesehen. Unfraglich waren Kleidung und sein allgemeines Aussehen absolut authentisch. Der 64-Jährige ewige Junggeselle sah in seiner gebeugten Haltung und mit der fahlen, fast gelblichen Haut gut und gerne zehn Jahre älter aus. Da half es auch nicht, dass er sein noch volles Haar rabenschwarz färbte.

Das Wohnhaus lag oberhalb der beiden Betriebsgebäude, getrennt durch die Firmenparkplätze und einen etwa 20 Meter breiten, ungepflegten Rasenstreifen. Er wurde aufgelockert durch ein paar vor sich hin kümmernde Rosenstöcke.

Dem Zeitstil der frühen 60er Jahre entsprechend war das Haus als Bungalow konzipiert worden. Alleine schon die geschwungenen, schmiedeeisernen Gitter vor den Fenstern, die blauen, glänzend gebrannten Hohlpfannendachziegel und die edlen Außenleuchten offenbarten, dass Gisela Arnold damals bei der Ausstattung nicht gespart hatte. Ein Renovierungsstau war allerdings auch nicht zu übersehen. Die kupfernen Dachrinnen und Fallrohre wiesen undichte Stellen auf und schrien geradezu nach Reparatur und teilweise auch Erneuerung. Ebenso die Fensterrahmen, von denen die Farbe abblätterte und bereits verrottete Stellen sichtbarwaren. Auch an der breiten Marmortreppe hätte es an einigen Stellen einer Restaurierung bedurft.

Gero Arnold forderte mich mit einer einladenden Geste dazu auf, ihm zu folgen. Durch die überdimensionierte Eingangshalle führte er mich ein riesiges, langgezogenes Wohnzimmer. Eine schwere, lederne Sitzgarnitur bestehend aus Couch, drei Sesseln und dazwischen einem niedrigen Tisch verlor sich trotz ihrer Masse im Raum. Über die eine Wand erstreckte sich ein überdimensionales Bücherregal, das wie der Couchtisch aus Eiche rustikal P43 gefertigt war. Ein futuristisch anmutender LED-Fernseher zog meinen Blick auf sich. Darunter entdeckte ich den gleichen Satellitenempfänger mit integrierter Festplatte als Speichermedium, wie ich ihn auch hatte.

Die gegenüberliegende Seite des Raums hätte ein märchenhaftes Motiv für eine Bildtapete ergeben: Durch die Glasfront, die die gesamte Länge des Raumes einnahm, hatte man einen grandiosen Blick über die Terrasse auf die Siefersheimer Weinlagen, das Goldene Horn und den Höllberg.

Jetzt erst bemerkte ich den Geruch eines schweren Parfums. Ich empfand ihn als störend. Nicht etwa, weil er unangenehm war. Er passte nur nicht zu einem Mann und schon gar nicht zu Gero Arnold, wie er sich hier präsentierte.

Wir nahmen jeder auf einem der Sessel Platz. Auf dem Couchtisch hatte Gero Arnold bereits einige Unterlagen, Zeitungsausschnitte, Briefe und Fotos ausgebreitet. Doch bevor wir zum eigentlichen Grund meines Besuches kamen, wurde einem unerlässlichen, rheinhessischen Ritual Tribut gezollt.

„Rot oder weiß? Ich habe hier einen Riesling, eine trockene Spätlese. Aus der Lage, Siefersheimer Heerkretz. Vom Weingut Gebert.” Gero Arnold deutete auf die Kühlbox, aus der ein grüner Flaschenhals herausragte. „Auf Porphyr angebaut”, betonte er.

Porphyr? Ich grinste ihn wissend an, als sei mir die Bedeutung bekannt. Ich nahm mir vor, mich im Internet schlau zu machen.

„Oder lieber den hier?”, unterbrach er meinen Gedanken. „Ein Blauer Frühburgunder? Im Holzfass gereift. Vom Weingut Sommer. Ich kaufe gerne die Weine von hier. Man kennt die Winzer, die Lagen. Ich sehe beim Spaziergang durch die Weinberge, wie sehr auf ökologische Verträglichkeit geachtet wird. Und wenn ich will, kann ich beim Keltern zusehen und im Weinkeller den ersten Jungwein verkosten. Und dann erst den Federweißer.” Er verdrehte genießerisch die Augen nach oben, bevor er mir die bereits geöffnete Flasche mit dem Frühburgunder hinhielt.

„Welchen nehmen Sie?”, wollte ich wissen.

„Den Roten. Sie wissen ja: Rotwein ist für alte Knaben …”

Ich schloss mich seiner Wahl an. Ein Zuprosten, ein nachschmeckendes Verkosten und wir konnten uns endlich dem eigentlichen Thema zuwenden.

„Herr Schäfer, ich weiß inzwischen nicht mehr, was ich tun soll. Die Polizei kann oder will nicht helfen. Der Rechtsanwalt, für den ich alles aufbereitet habe”, er wies auf die auf dem Tisch ausgebreiteten Unterlagen, „hat die Segel gestrichen. Der beste Rat, den er mir anscheinend geben konnte oder wollte, war, einen Privatdetektiv zu beauftragen. Aber was weiß ich, an wen ich da gerate. Sie aber … wissen Sie, meine Mutter hielt große Stücke auf Sie. Und auch ich habe grenzenloses Vertrauen in ihre Integrität und Verschwiegenheit.”

Es war mir peinlich und ich winkte ab.

„Nein, nein”, er lächelte mich an, „was Recht ist, muss Recht bleiben. Sie haben uns niemals enttäuscht und waren immer für uns da.”

Seine erneute Beweihräucherung war mir inzwischen unangenehm. Ich zog es vor, zur Sache zu kommen. „Was haben Sie denn selbst unternommen, um den Ursachen auf den Grund zu gehen?”

„Natürlich habe ich versucht, den offenkundigsten Ereignissen nachzugehen. Teilweise waren sie erklärlich, da musste ich gar nicht erst nachfragen. Verpfuschte Aufträge, Liefertermine nicht eingehalten. Dass da selbst langjährige Kunden abspringen, mussich einfach akzeptieren. Aber auch Neukunden zogen ihre Aufträge mit fadenscheinigen Argumenten zurück. Irgendjemand schien Unsinn über mich und die Druckerei zu erzählen. Soweit ich es mitbekommen habe, sind die Kunden dann zu Knober gegangen. So wie einige meiner langjährigen Mitarbeiter. Zu Knober – das ist doch bezeichnend und gibt zu denken. Oder?”

„Mit welcher Begründung?”

„Nur ausweichende Antworten, Ausflüchte. Dem einen war die Anfahrtstrecke plötzlich zu lang, ein anderer beklagte die verschlechterten Arbeitsbedingungen.”

 

„Und ist das so?”

„Herrgott nochmal. Wir sind hier nicht auf einem Ponyhof. Es gab immer Probleme. Früher gehörte das zum Tagesgeschäft. Allerdings haben ja, wie Sie wissen, mehrere bewährte Mitarbeiter gekündigt. Die kannten das Geschäft noch von Anfang an und haben alle Entwicklungen mitgemacht. Die neuen Kräfte sind entweder Angelernte oder kennen sich nur noch mit den heutigen Betriebsmitteln aus. Die denken nicht mehr. Denen wird das Denken von den Maschinen weitgehend abgenommen.”

In seiner Rage war er aufgestanden und ging nun auf und ab.

„Aber wehe, wenn diese Maschinen nicht reibungslos funktionieren.”

„Na ja, das haben sie ja auch nicht, oder?”

„Ich war ja selbst überrascht davon. Ungewöhnliche Maschinenausfälle. Mal spielte die Software verrückt, mal hatten wir es mit mechanischen Ausfällen zu tun. Von der EDV habe ich ja nicht viel Ahnung, der traue ich auch nicht so. Aber die mechanischen Probleme …”, er schüttelte verzweifelt den Kopf und sah mich durchdringend an. „Wissen Sie, ich achte peinlich genau auf die Einhaltung der vorbeugenden Wartung. Das ist so etwas wie ein persönliches Anliegen von mir. Aber was hilft’s, wenn eine Welle steckt. Oder wenn sich plötzlich ein Sicherungsstift löst, obwohl er eigentlich arretiert ist.”

„Ich würde gerne etwas besser verstehen, was in einer Druckerei abläuft. Was macht ein Drucker eigentlich heutzutage?”

Seinem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass ihn meine Frage etwas verwunderte.

„Also, in Kürze: Wir stellen die unterschiedlichsten Druckerzeugnisse her. Der Drucker bedient dazu ganze Systeme von Druckmaschinen. Zu seinem Arbeitsbereich gehören das Vorbereiten von Druckformen, Bedruckstoffen, Druckfarben und Druckmaschinen zur Produktion. Dazu kommen noch die Optimierung der Fertigungsprozesse und der Druckqualität. Das sind die wesentlichen Aufgaben beim Fortdruck. Dabei setzen wir ….”

„Wissen Sie, was ein BilMoG ist?”, unterbrach ich ihn.

Er schüttelte irritiert den Kopf.

„Sehen Sie, und ich weiß nicht, was ein Fortdruck ist.”

Gero Arnold versuchte gar nicht erst, seinen Unmut zu verbergen: „Wenn´s denn hilft, erkläre ich Ihnen das halt.” Dann schob er aber doch noch ein „gerne” hinterher. „Zuerst kommt der sogenannte Andruck. Das ist ein Probedruck, mit dem die Qualität der Druckvorlagen überprüft wird, besonders bei mehrfarbigen Arbeiten an einer Druckmaschine. Wenn der Andruck dann vom Auftraggeber genehmigt ist, dient er dem Drucker an der Fortdruckmaschine als Vorlage für ein möglichst ähnliches Druckergebnis.”

„Wenn ich es richtig verstehe, ist ein Fortdruck der Druck der vereinbarten Auflage, nachdem alle vorbereitenden Arbeiten abgeschlossen sind und die Genehmigung zum Fortdruck durch den Besteller vorliegt.”

„Exakt!”

„Na, da war meine Nachfrage doch gar nicht so dumm.” Diese Spitze musste ich loswerden. „Die verpfuschten Aufträge, die Sie erwähnten, um was ging es dabei?”

Mit einem Seufzer ließ er sich wieder in seinen Sessel fallen. „Wir mussten komplette Produktionschargen vernichten. Mal stimmte die Schrifttype oder Schriftgröße nicht. Mal gab es Abweichungen in der Farbgestaltung. Bilder wurden an den falschenStellen platziert oder gar verwechselt. Fotos von Auftrag X landeten plötzlich im Auftrag Y. Sehen Sie selbst.”

Er wies auf zwei aufwändig gestaltete Flyer. „Das ist zu Mamas Zeiten nie vorgekommen.”

Ich begutachtete die Flyer: Eine Eröffnungsanzeige eines griechischen Restaurants – mit einem Bild von einem chinesischen Koch vor seinem Wok. Der andere Flyer warb für ein Toyota-Autohaus – mit einem Logo von Mercedes.

„Makulatur – beide Chargen. Mal eben Material und Arbeitszeit für 5.000 Euro durch den Kamin gejagt. Puff. Und das sind nur wenige Beispiele.”

„Aber Sie gehen doch den Mängelursachen nach, oder?”

„Klar doch. Wir haben ein Qualitätsmanagement-System und sind sogar ISO-zertifiziert. Wir halten uns an die Vorgaben.”

„Also betreiben Sie eine systematische Suche nach den Fehlerursachen”, stellte ich fest.

„Na ja”, er wog bedenklich den Kopf, „das ist so ein Schwachpunkt. Wir sammeln zwar erst einmal die Fehler, aber die Reparaturen und Neuauflagen der verpfuschten Aufträge haben natürlich Vorrang. Wenn wir die verärgerten Kunden überhaupt bei der Stange halten können. Der Flyer für das Autohaus ist in diesem Zustand”, er hielt ihn mir nochmals hin, „sogar ausgeliefert worden. Und zwar nicht an den Kunden, sondern an die Vertriebsgesellschaft, die für die Verteilung sorgt. Da”, er legte mir einen Zeitungsausschnitt vor, „das war natürlich ein gefundenes Fressen für eine Glosse. Und hier sogar verhöhnende Leserbriefe. Klasse Werbung, kann ich da nur sagen.”

„Sie müssen aber doch wenigstens eine Ahnung haben, wo die Ursachen liegen!”

„Ich sagte ja schon: Fehler bei den Mitarbeitern und bei der Software. Wir haben ein komplexes EDV-System. Von der Anfrage über Kalkulation, Angebot, Kundenauftrag, Produktionssteuerung bis hin zur Rechnungsschreibung läuft alles über die EDV.”

„Und?”

„Manche Aufträge verschwanden komplett nach ihrer Fertigstellung. Es kam auch vor, dass nur Teile davon, zum Beispiel Nachträge oder Änderungen, nicht mehr vorhanden waren. Sie waren einfach nicht mehr im System.”

„Mal abgesehen von der Chose mit dem Autohaus – wann stellen Sie so etwas fest? Oder besser, wer stellt das fest?”

„Meist erst dann, wenn der Kunde einen Liefertermin oder einen Mangel reklamiert. Und wenn dann noch Mitarbeiter ausfallen oder gar nicht mehr da sind, die den Kunden kennen oder den Auftrag ausgeführt haben, wird es ganz kritisch. Es ist hochnotpeinlich, beim Auftraggeber mit fadenscheinigen Erklärungen um eine Kopie der Auftragsbestätigung zu bitten.”

„Lässt sich das eingrenzen, zum Beispiel auf bestimmte Kunden, Auftragstypen oder Mitarbeiter?”

„Es handelte sich immer um größere Aufträge. Und um solche mit einem hohen Materialeinsatz. Bei Spezialpapier, Sonderformaten, aufwendiger Bindetechnik oder Ähnlichem.”

„Also dort, wo ein maximaler Schaden entsteht. Nicht nur für Ihre Reputation, sondern auch materiell. Um es betriebswirtschaftlich auszudrücken: Laufender Umsatz, potenzieller Umsatz und Materialeinsatz belasten den Ertrag.”

„Nicht zu vergessen die anonymen Anzeigen.” Er knallte mehrere Schriftsätze vor mir auf den Tisch. „Hier: Beschäftigung von illegalen Arbeitskräften. Und: Steuerhinterziehung wegen nicht deklarierter Bargeschäfte. Und hier: Verstoß gegen die Hygienevorschriften im Aufenthaltsbereich. Und da habe ich etwas besonders Feines: Strafvereitelung gemäß § 258 StGB, weil ich einem polizeilich gesuchten Straftäter Zuflucht gewährt und ihn bei mir beschäftigt haben soll. Aber damit nicht genug, hier habe ich noch eine Anzeige wegen des Verstoßes gegen die Arbeitssicherheit. Zoll, Gewerbeaufsicht, Finanzamt und sogar die Polizei gingen bei mir ein und aus. Und natürlich war auch immer die Presse sofort zur Stelle. Weiß der Teufel, wer die informiert hatte. Ein anonymer Anrufer, erklärte man mir.”

„Und sind das alles erfundene Anschuldigungen? Bei der Richtigstellung wegen der angeblichen Steuerhinterziehung konnten wir ja helfen.”

„Nichts, aber auch gar nichts von alledem stimmte. Aber Sie kennen ja den blöden Spruch: Wo Rauch ist, ist auch Feuer. Wer will denn mit so einem noch Geschäfte machen?”

Er entschuldigte sich: „Der Wein will raus” und verschwand mit hängenden Schultern durch einen Rundbogen in der Bücherwand.

Ich blickte resigniert auf die Unterlagen vor mir. Was sollte ich tun? Wie vorgehen? Ich wollte ihm ja helfen und herausfinden, was hinter den Vorkommnissen steckte. Aber dieses Gewirr von Ereignissen … Das konnte doch nicht nur eine Person angerichtet haben!

Natürlich blieb ihm mein Anflug von Mutlosigkeit nicht verborgen, als er wieder Platz nahm.

„Und ich habe keine Ahnung, wie das alles geschehen kann”, jammerte er, „außer …”

„Ja, das stinkt nach Sabotage. Aber da auch Mitarbeiter demotiviert sind und sich umorientieren, dürfen wir Abwerbung oder auch Mobbing nicht ausschließen. Herr Arnold, kann es …”, ich überlegte, wie ich es diplomatisch ausdrücken könnte und entschied mich dann doch für den direkten Weg, „… könnte es sich nicht eventuell auch um ein Führungsproblem handeln?”

„Herr Schäfer”, sein bis dahin eher larmoyanter Tonfall nahm plötzlich eine Schärfe an, die mir bedeutete, dass ich wohl in den Busch geschossen hatte, „ich benötige wasserdichte Fakten. Sabotage, Mobbing, wie soll ich denn das beweisen? Und von wegen Führungsproblem!” Aus seiner pointierten Wiederholung ließ sich selbst für den Unsensibelsten heraushören, dass er meine neutral gemeinte Frage als Vorwurf aufgenommen hatte.

„Ich kann doch nicht überall gleichzeitig sein. Konnten Sie das früher? Man muss sich doch auch auf seine Leute verlassen können. Und sie dürfen nicht außer Acht lassen, wie viel Zeit ich alleine dadurch verloren habe, dass ich mich mit der Polizei, dem Zoll,der Gewerbeaufsicht und dem Finanzamt rumschlagen musste. Das waren ja nicht nur die Befragungen und die Telefonate. Alle paar Tage kam ein Brief von irgendeiner Stelle, die etwas wissen wollte. Diese Briefe mussten gelesen und beantwortet werden, um keine Frist zu versäumen. Dazu kamen die schriftlichen Stellungnahmen, Einsprüche, und was sonst noch alles. Aber hinter alle dem kann doch nur einer stecken: der Knober!”

Zum zweiten Mal schon erwähnte er seinen schärfsten Konkurrenten. Doch als hätte er mit dem Namen ein heißes Eisen angefasst, zuckte er erschrocken zusammen.

Unvermittelt änderte er anschließend Thema und Tonfall. „Darf ich nachschenken?” Er ergriff die Rotweinflasche, erhob sich und wollte mein inzwischen fast leeres Glas auffüllen.

„Nein, danke”, ich deckte es mit meiner Hand ab. „Mehr als ein Glas trinke ich nicht, wenn ich mit dem Auto unterwegs bin.”

„Aber ich genehmige mir noch eines.” Es war schon sein viertes. Seine Hand zitterte leicht, als er sein Glas füllte. Er erhob es in meine Richtung, nickte mir zu, nahm einen tiefen Schluck und stellte es bedächtig ab. Dann lehnte er sich zurück. Ein oberflächlicher Betrachter dieser Szene hätte Gero Arnold als entspannt bezeichnet. Sein tiefes Einatmen und die kurzfristig geschlossenen Augen ließen jedoch seine innere Belastung erkennen.

Ich war froh über die weitere kurze Pause. Ich gab vor, mich mit den Aufzeichnungen, die ich während seiner Ausführungen gemacht hatte, zu beschäftigen. Tatsächlich irritierte mich jedoch die Sprunghaftigkeit, mit der er mir seine Situation geschilderte hatte – unsortiert und unstrukturiert. Und vor allem, weshalb wurde er mit seinem Verdacht gegenüber Dieter Knober nicht konkreter?

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