Bilanz einer Lüge

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Samstag, 9. Juli 2011, Bernheim

„Eine Lüge ist eine Lüge ist eine Lüge! Und das ist eine faustdicke Lüge. Das weißt du ganz genau!”

Vornüber gebeugt und die Hände auf dem Tisch abgestützt, schrie ich sie an. Plötzlich herrschte Totenstille, wo eben noch ein fröhliches Stimmendurcheinander geherrscht hatte.

Zugegeben, auch ich hatte vielleicht ein oder zwei Gläser Wein zu viel getrunken. Aber das war nicht die Ursache meines Ausbruchs, nur der Auslöser. Nein, ich war wütend. Einfach wütend. Und ich fand, dass ich das Recht dazu hatte. Daran änderten auch die verständnislosen und leicht verstörten Blicke der bisher so unbeschwerten Gesellschaft nichts. Und schon gar nicht der Tritt gegen mein rechtes Schienbein, dessen Verursacherin nur Sonja sein konnte. Wer auch sonst. Als Beweis dafür hätte es gar nicht ihres scheinheiligen Blickes gen Himmel bedurft.

Vor einigen Jahren hatten meine drei Cousinen und ich das Familienritual wieder aufleben lassen, uns reihum einmal im Jahr zu einem ausgedehnten Brunch zu treffen. Seit fast vier Stunden saßen wir nun zusammen und hatten uns vom Sektfrühstück zum warm/kalten Mittagsbuffet vorgearbeitet. Dem, was damals von uns als jugendlichen Zwangsteilnehmern mit abschätzigen Kommentaren begleitet worden war, maßen wir nun eine ganz andere Bedeutung bei: Wohl dem vorgerückten Alter geschuldet, schwelgten wir bei diesen Treffen in den „Weißt-du-noch”-Erinnerungen unserer Kindheit. Erinnerungen, die sich von Jahr zu Jahr vom Kern ihrer ursprünglichen Wahrheit entfernten, bis nur noch Fragmente übrig blieben. Mit Fantasie und der Verstrickung weiterer Erlebnisse ausgeschmückt, standen sie in keinem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mehr. Selbstverständlich spielte dabei die mehr und mehr reduzierte Tauglichkeit, die dem „Prost, du altes Haus” – oder wie Helgas Mann zu jeder Gelegenheit aufforderte: „Darauf trinken wir noch einen!” – geschuldet war, eine große Rolle.

In diesem Stadium pflegte meine bornierte „Lieblingscousine” Helga die immer gleiche Geschichte aus dem Müll einer ihrer Gedächtnisschubladen zu ziehen. Die anderen registrierten ihre unsortierten Absonderungen schon lange nicht mehr. Aber mich brachte sie von Jahr zu Jahr mehr auf die Palme. Mit rührseliger Stimme und tränenfeuchten Augen erinnerte sie an ihre Mutter, meine Tante Erika.

„Eine so sozial eingestellte Frau. So etwas gibt es heute ja gar nicht mehr. Du darfst nie vergessen, Darius, dass Mutti” – wie sie schon Muuhtti betonte – „deinen Vater nach dem Krieg in ihrer Firma aufgenommen hat, weil er als ehemaliger SS-Offizier ja sonst nirgendwo Arbeit bekommen hätte.”

Es war einfach ungeheuerlich, wie sie die Tatsachen verdrehte. Mein Vater hatte, wie viele seiner Generation, nur wenig über den Krieg und die Zeit danach erzählt. So schilderte er, dass er zu den ersten gehört hatte, die 1935 zum Helfer in Steuersachen bestellt worden waren. 28 Jahre alt war er damals. Dann hatte man ihn zur Wehrmacht eingezogen. Nach dem Krieg hatte er anfänglich keine Anstellung in seinem Beruf gefunden. Ein Mangel an Mut und Geld hatten ihn davon abgehalten, sich aus dem Nichts heraus selbständig zu machen. Eine Beamtenstelle im Finanzamt war für ihn nicht infrage gekommen. Erika, seine Schwester, hatte die Spedition ihres Mannes wieder aktiviert, der in Russland vermisst wurde. Sie hatte dringend einen vertrauenswürdigen Fahrer benötigt – ihren Bruder. Sie hatte Aufträge angenommen, bei denen Transportgut, welches nach den Gesetzen der Besatzungsmächte als illegal deklariert war, zwischen den besetzten Zonen hin und her transportiert werden musste. Gefährlich, aber äußerst lukrativ. Mehr als einmal hatte sich mein Vater nur über Wald- und Feldwege einer Durchsuchung und seiner Festnahme entziehen können. Für ihn war es in Ordnung, dass er letztlich nur mit einem Hungerlohn abgespeist worden war. „Damit bewahrte ich mir einen Anschein von Moral. Ich wurde als Fahrer bezahlt und nicht als Rechtbrecher”, hatte er einmal eingeräumt.

Wenn also jemand von dieser Zusammenarbeit profitiert hatte, dann Helgas Mutter. Am meisten ärgerte ich mich darüber, dass Helga meinen Vater in die Nähe eines Kriegsverbrechers stellte. Er war Offizier einer normalen Flakeinheit bei der Wehrmacht gewesen. Fotos bezeugten, dass er keine SS-Uniform getragen hatte und eine Tätowierung seiner Blutgruppe auf der Innenseite seines linken Oberarms wäre mir mit Sicherheit aufgefallen.

„Ich weiß auch nicht, weshalb du immer wieder damit anfangen musst”, versuchte ich etwas runterzufahren.

Sie hörte nicht zu und wandte sich stattdessen an ihren Mann Hubert, genannt Hubsi. Ein 15 Jahre jüngerer, inzwischen verblühter Schönling, mit dem Helga eine Symbiose eingegangen war: Hubsis frühkindliche Abhängigkeit von seiner Mutter war offenbar nicht in einem förderlichen Entwicklungsprozess aufgelöst worden, sondern wurde auf eine andere wichtige Bezugsperson übertragen: Helga. Man könnte es auch platter ausdrücken: Ihr Geld aus dem Verkauf der geerbten Spedition für Hubsis Jugend.

„Hast du das gehört? Hubsi, Huuubsi! Darius hat gesagt, ich würde lügen. Da fehlen mir die Worte.”

Er zuckte leicht mit den Schultern und sah mich flehentlich an, als wollte er mich um Hilfe bitten. Dann sagte er zögerlich: „Das hast du doch bestimmt nicht so gemeint, Darius.”

„Aber ganz sicher!”

Ich blickte zu Sonja. Sie verdrehte erneut die Augen.

„Darius”, Hubert erhob die Stimme und straffte die Schultern. Gespannt starrten ihn nun auch die bisher Unbeteiligten an. Und ich ohnehin. „Weißt du überhaupt, was eine Lüge ist?”

„Sag du es mir!”

„Eine Lüge ist eine Aussage, von der derjenige, der sie ausspricht, auch weiß, dass sie unwahr ist. Da steckt also Absicht hinter. Was du bestimmt meintest, ist Unwahrheit. Da mag die Aussage zwar nicht korrekt sein, aber der Äußernde weiß das nicht. Und Helga weiß das ja auch nur von ihrer Mutter und du von deinem Vater.”

Er atmete erleichtert auf und schaute seine Frau mit einem Blick an, der sagen sollte: „Na, war das in Ordnung so?”

Hubsi tat ein Übriges zur Besänftigung, indem er den Wein lobte, den ich zur freien Wahl auf den Tisch gestellt hatte. „Kannst du mir davon einige Flaschen besorgen? Ich zahle sie natürlich.”

Ich übersah Helgas giftigen Blick, der nichts weniger andeuten sollte als „Hallo! Wer bezahlt hier? Du? Das wäre mir neu. Das ist immer noch meine Kohle, du Schlappschwanz!”

„Klar. Welchen willst du? Rot? Weiß? Rosé? Trocken, halbtrocken?”

Hubsi zuckte resigniert mit den Schultern. Petra, meine älteste Cousine, erlöste ihn und trug eines ihrer selbstgebastelten Gedichte vor:

Was hatten es doch ehedem

die Ossis damals so bequem:

Die mussten nicht, wie wir, sich quälen,

aus einer Vielfalt mühsam wählen.

Das Angebot war herrlich klein,

man sagte: „Eine Flasche Wein”!

Da sparte man sich viele Worte,

falls überhaupt, gab’s eine Sorte.

Und meistens war die auch noch sauer –

was soll’s, schön war sie doch, die Zeit der Mauer!

„So etwas nennt man Punktlandung”, befand ich in das allgemeine Gelächter hinein. Das Thema SS war jedenfalls vom Tisch und für mich erledigt. Bis wahrscheinlich zum nächsten Treffen.

Als Sonja und ich – nach traditionell rührseliger Verabschiedung – am frühen Abend wieder alleine waren, atmeten wir auf. So schön es immer war, in alten Zeiten zu schwelgen, so anstrengend war es auch. Wir räumten auf und freuten uns auf einen spannenden Fußballabend: Die deutschen Fußball-Mädels standen im WM-Viertelfinale gegen Japan.

Dienstag, 12. Juli 2011, Bernheim

Ein sprichwörtlicher Sommertag kündigte sich über der Rheinhessischen Schweiz an. Sonja und ich lebten hier auf dem Anwesen eines ehemaligen Weingutes am Ortsrand von Bernheim, einem kleinen Winzerdorf. Es bestand aus Haupthaus, Gewölbekellern und mehreren Nebengebäuden. Vor 152 Jahren war es erbaut worden, wie die in den Sandstein gehauene Jahreszahl an einer der Lüftungsöffnungen der Scheune bekundete. Das ehemalige Kelterhaus hatte ich 1989 bei unserem Umzug von Wiesbaden hierher zur Kanzlei umgebaut. Damals war ich mit meiner Exfrau Beatrice und unseren beiden Söhnen eingezogen. Es hatte ein Neustart werden sollen und war zum stotternden Fehlstart verkommen.

Sonja hatte zwar schon seit 14 Tagen Ferien, aber sie hatte noch einiges an „bürokratischem Papierkram”, wie sie es nannte, aufzuarbeiten. Dazu hatte sie sich gestern wieder einmal bis in die späten Abendstunden an ihren steuerlich beschränkt absetzbaren Heimarbeitsplatz zurückgezogen. Wieder einmal ein Abend, an dem ich mich misslaunig den depressiven Gedanken hingab, die mich seit einiger Zeit überfallartig heimsuchten und die auch unser Zusammenleben zu vergiften drohten. Ja, so änderten sich die Zeiten und Bedingungen. Früher hatte mir meine Exfrau Vorhaltungen wegen der vielen Stunden, die ich in der Kanzlei verbrachte, gemacht und heute musste ich mich zurücknehmen, um nicht Sonja aus gleichen Gründen zu kritisieren.

Um ihr meinen guten Willen zu dokumentieren und gleichzeitig meinem Müßiggang wenigstens etwas entgegenzusetzen, hatte ich schon alles für unser gemeinsames Frühstück unter der Linde im Hof vorbereitet: Der Tisch war liebevoll gedeckt. Sogar an Blumen aus dem Garten hatte ich gedacht. Dampfender Kaffee vermischte sein Aroma mit dem Duft von Rühreiern mit Schinken und frisch gebackenem Baguette. Ein Bild, das einen Monet oder Renoir zu einem stimmungsvollen Stillleben hätte animieren können.

Weshalb hatte ich das früher nicht auch für Beatrice gemacht? Ich musste in letzter Zeit immer wieder an sie denken. Schon seit längerer Zeit hatten wir keinen Kontakt mehr. Ob ich sie wieder einmal anrufen sollte?

 

Sonja erschien in der Haustüre und riss mich aus meinen Vergangenheitsgedanken. Frisch und fröhlich wie der junge Morgen kam sie auf mich zu. Ihre langen, roten Haare strahlten mit der Sonne um die Wette – Sonja gewann. Sie trug ein maisgelbes, ärmelloses Kleid, welches ihre verführerisch-frauliche Figur in einem Maß betonte, dass mir der Atem kurzfristig stillstand.

Mein bewundernder Blick entging dieser hellwachen und intelligenten Frau selbstverständlich nicht. Sie nahm es mit augenscheinlicher Zufriedenheit auf.

„Gefällt es dir?”

Dabei wirbelte sie um ihre eigene Achse, um dann mit gestelzten Schritten, wie die Karikatur eines Möchtegernmodels, über das Kopfsteinpflaster in meine Richtung zu stolzieren.

„Die armen Schüler”, stöhnte ich. „Ich befürchte, dass die sich nur schwer auf trigonometrische Formeln konzentrieren können.”

„Du Dummschwätzer”, grinste sie. „Du meinst doch nicht im Ernst, dass die an einer Mittfünfzigerin interessiert sind.”

„Sag das nicht. Ich war in deren Alter bis über beide Ohren in meine Lateinlehrerein verknallt. Nur ihr zuliebe habe ich Vokabeln und Grammatik gepaukt wie ein Besessener.”

„Und, hat es geholfen?”

„Klar doch. Feuchte Träume und eine 1 in Latein. Und wenn ich dich so betrachte …”

„Spar dir deine schwülstigen Fantasien für später auf. Ich bin zwar den Tag über unterwegs, du weißt, dass ich mich mit Dagmar in Mainz verabredet habe. Sie hat heute dienstfrei, aber heute Abend habe ich nur noch Zeit und Augen für Dich. Versprochen!”

Seit sechs Jahren lebten wir nun zusammen und immer noch flatterten gefühlte Millionen von Schmetterlingen in meinem Bauch, wenn ich sie sah oder auch nur am Telefon mit ihr sprach.Und dennoch ging mir Beatrice seit einiger Zeit nicht mehr aus dem Kopf. So, als ob ich zwar Sonja sehe, aber statt ihrer Beatrice wahrnehmen würde. Als ob sie nur ein Ersatz wäre, für die Frau, die mich verlassen hatte. Was für ein absurder und irrer Gedanke das doch war.

Am gleichen Tag, eine Stunde später

Wie ein Pennäler, der etwas ausgefressen hatte und sich in Erwartung der unausweichlichen Standpauke befand, stand ich vor meinem ehemaligen Chefschreibtisch. Es fehlte nur noch die demütige Haltung. Das Schlüsselerlebnis einer längst vergessenen Episode befreite sich aus dem Bereich meines Unbewussten und steuerte meine Gefühlswelt:

1961, Oranienschule in Wiesbaden. Ich war ein unangepasster und hyperaktiver Quintaner gewesen. Damals hatte ich mich heimlich in den Musiksaal im Obergeschoss der Schule geschlichen und die Bewegungsfreiheit zweier weißer Mäuse erweitert. Unter diesem kühnen Aspekt hatte ich es zumindest gesehen. Im Gegensatz zu der jungen Musiklehrerin, die absolut kein Verständnis dafür gezeigt hatte, als sie nach dem Aufklappen des Hinterdeckels des Musikflügels die possierlichen Tierchen über die Saiten huschen sah. Das drollige Bild war überhaupt nicht nach ihrem Geschmack gewesen. Das hatte ich aber erst erkannt, nachdem ich ihre Frage, wer das gewesen sei, wahrheitsgemäß und nicht ohne Stolz beantwortet hatte. Fünf Minuten später hatte ich vor dem monströsen Schreibtisch unseres humorlosen Direktors gestanden. Zu gut erinnerte ich mich an die Aktenberge darauf. An Stöße von mehr oder weniger zerfledderten Schulheften. Und heute noch meinte ich den Gestank in der Nase zu haben, der dem überquellenden Aschenbecher entströmt war, in welchem der Direktor seine abgelutschten Villiger Stumpen entsorgte. In dieser abstoßenden Umgebung hatte ich seine Strafpredigt über mich ergehen lassen. Welche disziplinarische Maßnahme er schlussendlich aus seinem schier unerschöpflichen Repertoire ausgesucht hatte, wusste ich nicht mehr. Ich wusste nur noch, dass sie meinem Gerechtigkeitsempfinden einen herben Schlag versetzt hatte. Hatte sie doch in keiner Relation zu meinem Akt grenzenloser Tierliebe gestanden. Ich hatte mich verkannt, gedemütigt und irgendwie erniedrigt gefühlt.

Jetzt beschlich mich dasselbe Gefühl in Carlos Büro. Er hatte mich zu sich gebeten, als ich, wie so oft, vorhin kurz in der Kanzlei gewesen war, um die Eingangspost zu durchstöbern.

Es hätte ja etwas für mich dabei sein können. Das kam zwar immer seltener vor, aber man konnte ja nie wissen. Das Kanzleigebäude war nur zehn Schritte über den Hof in dem umgebauten Kelterhaus untergebracht. Vom Wohnhaus aus konnte ich sehen, wenn der Postbote kam und dann schnell rüber springen ins Büro. „Nur mal kurz nach dem Rechten sehen”, wie ich es nannte. Ein paar Worte mit meinen früheren Mitarbeiterinnen wechseln. Ich wusste doch, wie gut es ihnen tat, wenn ihr alter Chef ein paar motivierende Worte an sie richtete. Und ab und zu konnte ich ihnen sogar fachlich helfen. Sie fragten zwar nicht direkt danach, aber ich erkannte schließlich, womit sie sich gerade beschäftigen, wenn ich ihnen über die Schulter sah. Es war allerdings nicht so, dass ich diesen täglichen Kontakt unbedingt brauchte. Geschweige denn, dass ich es bereute, Carlo Dornhagen, einem ehemaligen Betriebsprüfer beim Finanzamt Alzey die Kanzlei übergeben zu haben. Seitdem sind fast sieben Jahre vergangen. Am Anfang hatte ich noch mitgearbeitet, mich dann aber mehr und mehr zurückgezogen. Ich stolperte ja auch immer wieder in irgendwelche kriminellen Geschichten hinein. Das ließ sich ohnehin nicht mit der gnadenlosen Fristen- und Termindisposition in einer Steuerberatungskanzlei vereinbaren.

„Darius, nimm bitte Platz”, Carlo deutete auf den Besucherstuhl.

Ich schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. Instinktiv spürte ich etwas Unangenehmes auf mich zukommen. War es seine neutrale Mimik, während man ansonsten recht gut aus ihr seine jeweilige Gemütsverfassung ablesen konnte? Hatte ich etwas falsch gemacht?

Gerade eben, als ich die Kanzlei betreten hatte, war mir Klaus Köhler, ein Mandant, entgegengekommen. Er hatte nur kurz meinen Gruß erwidert, den Kopf geschüttelt und war ohne ein weiteres Wort verschwunden. Ich wunderte mich. Letzte Woche nochwaren wir uns zufällig in Alzey begegnet, hatten eine Tasse Kaffee miteinander getrunken und ein bisschen gequatscht, weil man sich schon jahrelang kennt: Familie, Gesundheit, Geschäft – er war gerade dabei, seinen Maschinenpark zu modernisieren.

Mein mulmiges Gefühl verstärkte sich. Verdammt noch mal. Ich war 63 Jahre alt und kein kleiner Junge mehr. Mein Gegenüber hätte mit seinen 45 Jahren mein Sohn sein können.

Mit einem schnoddrigen „Keine Zeit, du weißt ja”, quittierte ich Carlos Aufforderung, Platz zu nehmen.

Ich versuchte mein inneres Gleichgewicht zu festigen. Blöde Floskel, „du weißt ja!” Was sollte er „ja” wissen?

„Dann will ich es kurz machen und gleich zur Sache kommen. Darius, darf ich direkt werden? Ohne Umschweife sagen, was mich ärgert?”

„Klar doch. Ich kann einiges verkraften. Das weißt du doch.” Ich hoffte inständig, dass mein Lächeln nicht zu verkrampft wirkte.

„Um es auf den Punkt zu bringen: Darius, du nervst!”

„Das ist nichts Neues für mich. Das wirft mir Sonja seit einiger Zeit auch vor. Aber es ist halt …”

Er unterband meinen Ansatz eines Einwandes mit einer abwehrenden Geste: „Nein, warte! Lass mich einfach ausreden! Du hast Langeweile. Und statt dich nach einer sinnvollen Beschäftigung umzusehen oder deinen Ausstieg endlich einmal zu genießen, gehst du uns hier auf den Wecker. Du verbreitest Unruhe und schaffst Chaos, sowohl bei Mitarbeitern, als auch bei Mandanten. Du hältst die Mitarbeiterinnen von ihrer Arbeit ab. Natürlich sagen sie dir das nicht. Schließlich warst du mal ihr Chef. Und du mischst dich ungefragt in Mandantengespräche oder deren Probleme ein. Dabei greifst du nicht nur in meine Kompetenzen ein. Nein, du bist auch fachlich nicht mehr auf der Höhe. Das kann ja auch niemand mehr von dir verlangen. Aber etwas Zurückhaltung wäre sinnvoll und angebracht, wenn du nicht ausdrücklich um deine Meinung und deinen Rat gebeten wirst.”

Ich schüttelte den Kopf. Ich und Einmischen, wann sollte denn das gewesen sein?

„Doch, es ist so. Ganz konkret: Du gibst Hinweise, die nicht mehr im Einklang mit der neuesten Rechtsprechung stehen. Es mag ja sein, dass du dir dessen nicht bewusst bist – aber das macht es nicht besser. Du hast dich letzte Woche in Alzey mit Klaus Köhler unterhalten. Dabei hast du ihm etwas von Ansparrücklage erzählt und ihn ganz kirre gemacht. Er war eben bei mir, um sich zu beschweren, dass wir ihn nicht darauf aufmerksam gemacht hätten. Darius, die Ansparrücklage, wie du sie kennst, gibt’s seit 2007 beziehungsweise 2008 nicht mehr.”

Ich konnte mich nicht mehr an alle Einzelheiten des Gespräches erinnern. Gut möglich, dass ich etwas in dieser Hinsicht erwähnt hatte. Aber das war doch nur eine Nebenbemerkung. Aus einem Gespräch heraus ohne Beratungshintergrund. Klaus Köhler hatte auch nicht den Eindruck vermittelt, dass diese Sache bei ihm auf größeres Interesse gestoßen war.

Carlo fuhr fort: „Und nicht nur bei den Mandanten fällt das auf, auch die Mitarbeiter sind irritiert. Ich muss dann die Kohlen aus dem Feuer holen und deine Fehler korrigieren, ohne dich in die Pfanne zu hauen. Auf Dauer geht das aber nicht. Mir fallen nämlich langsam keine glaubwürdigen Ausreden mehr ein. Die Konsequenz ist, dass du drauf und dran bist, den Respekt, den du dir in jahrelanger Arbeit zu Recht erworben hast, zu verspielen. Und das hast du nun wirklich nicht verdient.”

Sein Tonfall war keinesfalls anklagend oder vorwurfsvoll. Er war väterlich, verständnisvoll. Es wäre mir anders lieber gewesen, denn so verpuffte meine kurz aufkeimende Empörung und löste sich in Luft auf. Dennoch – ich war beunruhigt und wollte seinen Vorwurf nicht stoisch und ohne Diskussion akzeptieren.

„Bist du nun fertig?” erwiderte ich. „Wenn ich ein derartiger Störfaktor bin, weshalb hast du dann nicht schon früher etwas gesagt?”

Carlo ging nicht auf mein Ablenkungsmanöver ein. Ich hatte auch nicht wirklich damit gerechnet, dass er auf diesen uralten Argumentationstrick, den Ankläger zum Mitbeklagten zu machen, reinfallen würde.

Stattdessen blieb er sachlich: „Ich mache dir einen Vorschlag.”

„Soll ich das Archiv aufräumen?”

Er ging nicht direkt auf meine zynische Bemerkung ein.

„Hör doch einfach zu. Du wirst sehen, dass uns beiden damit geholfen ist. Es handelt sich um eine merkwürdige Geschichte. Dafür bist du genau der Richtige.”

„Also, um was geht es?”

„Es geht um Gero Arnold. Da tun sich merkwürdige Dinge. Da stimmt etwas nicht. Die ganze Sache stinkt und er ist nicht in der Lage, sich zu helfen.”

Gero Arnold wohnte in Siefersheim. Direkt neben der Druckerei BEWAG GmbH, die er seit seinem 30. Geburtstag führte und die er von seiner Mutter übernommen hatte. In den 50er Jahren hatte sie einen kleinen Betrieb, in dem sie das Druckerhandwerk gelernt hatte, übernommen und zu einem florierenden Unternehmen entwickelt. Die Bedeutung der Firmierung hatte sie stets geheim gehalten. Zeitweise hatte sie mehr als 100 Mitarbeiter beschäftigt. Im laufenden Jahr waren durchschnittlich nur noch 30 Personen beschäftigt, was vor allem auf den hohen Automatisierungsgrad zurückzuführen war. Die Angebotspalette der BEWAG GmbH erstreckte sich von Visitenkarten über Briefpapier bis hin zu Prospekten. Aber auch Bücher produzierten sie, für Book on Demand- und Selbstverlage.

Im Jahr 2005, Geros Mutter Gisela arbeitete noch jeden Tag vier Stunden im Betrieb mit, hatte sie festgestellt, dass sich ihr Gedächtnis dramatisch verschlechterte. Vor allem das Kurzzeitgedächtnis. Dadurch war es zunehmend zu Fehlern in der Disposition, die man der Seniorin allerdings nicht nachtrug, gekommen.

Die Diagnose eines Neurologen hatte ihre Vermutung bestätigt: Demenz im Anfangsstadium. Mit der ihr eigenen Mischung aus intuitivem Realitätssinn und unerbittlicher Konsequenz, mit der sie das Unternehmen geführt und auch ihren Sohn erzogen hatte, hatte sie auch ihre eigene Zukunft geregelt. Solange sie noch „alle Murmeln beisammen” hatte, wie sie selbstironisch bemerkt hatte, wollte sie autonom über ihr Leben entscheiden. Dreizehn Kilometer entfernt von ihrer langjährigen Wirkungsstätte war sie in ein Seniorendomizil in Bad Münster am Stein gezogen. Vor drei Jahren war sie gestorben.

Doch einige Monate nach ihrem Umzug in das Seniorendomizil, so erfuhr ich nun von Carlo, war es zu Entwicklungen gekommen, die inzwischen ein Stadium erreicht hatten, welches auf kriminelle Machenschaften deutete. Ob eventuell außer dem zeitlichen auch ein sachlicher Zusammenhang mit dem Umzug von Gisela Arnold bestehen könnte, fragte ich mich spontan. Aber wie sollte das zusammenhängen?

 

Ich hatte mich inzwischen gesetzt. Meine Neugierde war nun doch geweckt. Auch Carlo hatte wieder hinter seinem Schreibtisch Platz genommen. Wie so oft staunte ich über seine perfekte Ordnung. Wie schaffte es ein normaler Mensch nur, eine derart akribische Architektur seiner Unterlagen aufzubauen? Wohl ein Relikt aus seiner Zeit beim Finanzamt, beruhigte ich mein aufkeimendes schlechtes Gewissen.

Zielsicher zog er eine blaue Mappe aus einem der Aktenstapel und öffnete sie. Er entnahm das oben aufliegende Schriftstück. Dabei schilderte er, dass er schon seit einiger Zeit einen ungewöhnlichen Umsatzrückgang in der Druckerei von Gero Arnold registriert hätte. Aber Arnold habe stets plausible Gründe dafür genannt. Mal war es in langjähriger Großkunde, der seinen Betrieb aufgegeben hatte. Mal war ein potenzieller Neuauftrag geplatzt, weil die Konkurrenz ihn, trotz engster Kalkulation, unterboten hatte. Dann wieder hatte ihm ein wichtiger Mitarbeiter gekündigt, der nur schwer zu ersetzen war. Zudem war es wegen unterschied­licher Dinge zu anonymen Anzeigen gekommen, deren Abwehr Zeit und Kosten verursacht hatte.

Vorige Woche endlich hatte Gero Arnold Carlo um ein vertrauliches Gespräch gebeten. Auch ich sollte nicht über den Inhalt informiert werden. Gestern hatte er jedoch auf Drängen von Carlo meiner Einschaltung zugestimmt.

„Du sprichst von den anonymen Anzeigen wegen Steuerhinterziehung, Zollvergehen und Schwarzarbeit? Ich dachte, das hättest du geklärt.”

„Nein, die rechtliche Seite ist geklärt. Da war nichts dran. Aber was noch im Raum steht ist, dass hinter den anonymen Beschuldigungen irgendjemand stecken muss. Und diese Person oder Personengruppe wird ja wohl etwas damit bezwecken wollen. Ich vermute Wirtschaftskriminalität oder etwas Ähnliches. Vielleicht aber auch Erpressung.”

„Das heißt, wir haben es mit einem kriminellen Motiv zu tun. Entweder ist die BEWAG GmbH im Fokus oder aber Gero Arnold persönlich. Im Klartext: Da will jemand das Unternehmen in Misskredit bringen. Vielleicht, um es zu ruinieren, damit es dann billig übernommen werden kann?”, spekulierte ich.

„Oder es geht ausschließlich um Gero Arnold? Man will ihn verunsichern, um ihn für irgendetwas weich zu klopfen?”, spielte Carlo den Ball weiter.

„Wobei das eine das andere nicht ausschließt. Klingt nach einer verzwickten Angelegenheit.”

„Also hatte ich recht: Genau das Richtige für dich. Etwas Abwechslung wird dir gut tun!”

„Hat Arnold denn eine Vermutung geäußert, wen er als diesen dubiosen Jemand vermutet?”

„Mmhm”, Carlo machte es spannend, „du kennst ihn auch.”

„Das Sandmännchen? Peter Pan?” Seine Verzögerung empfand ich als unangemessen. Außerdem sind solche Albernheiten in der Regel mein Part. „Sag schon!”

„Dieter Knober. Sein ärgster Konkurrent.”

„Mit seinem Vater Sigurd hatte Frau Arnold doch über viele Jahre Streit. Weißt du eigentlich, worum es dabei ging? Mir hat sie nie etwas gesagt, obwohl ich sie mehrmals darauf angesprochen habe.”

„Nein. Noch nicht einmal ihr Sohn kennt die Hintergründe. Er vermutet etwas Persönliches. Vielleicht gab es da mal eine unglückliche Beziehung?”

„Vom Alter her durchaus möglich. Wer ist eigentlich Gero Arnolds Vater?”, wollte ich wissen.

„Im Krieg geblieben oder unbekannt. Ich weiß es nicht genau. Sie war auch nie verheiratet. Arnold ist ihr Mädchenname und …”, er stutzte, „du meinst es könnte sein … das hieße ja …”

„Genau, dass Gero Arnold und Dieter Knober Halbbrüder sind”, beendete ich seinen Satz.

„Und keiner weiß etwas vom anderen. Diejenigen, die das Rätsel auflösen könnten, sind tot. Sigurd Knober, seine Frau und auch Gisela Arnold. Falls das stimmen sollte, haben die drei das Geheimnis mit ins Grab genommen.”

„Was hältst du von einem Gentest?”, platzte ich heraus, ohne zu überlegen.

„Du spinnst. Was ist denn das für eine abstruse Idee? Erstens, wie sollten wir das den beiden verkaufen und zweitens glaube ich kaum, dass uns das im vorliegenden Fall weiterhelfen würde.”

„Weiß man`s? Da können doch ganz andere Dinge eine Rolle spielen.”

„An was denkst du?”

„Sigurd Knober war ein unverbesserlicher Alt-Nazi. Und sein Sohn ist der beste Beweis dafür, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt.”

„Da weißt du mehr als ich”, wunderte sich Carlo.

„Ich bringe dir nachher ein Buch rüber. Der Autor nennt darin Fakten und Namen aus der Zeit des Nationalsozialismus in Rheinhessen. Einige der Hundertprozentigen haben ihre Nachbarn denunziert, jüdische Mitbürger verraten und sich deren Eigentumangeeignet. Nach dem Krieg lebten sie unbescholten und hoch angesehen weiter. In dem Buch sind in diesem Zusammenhang auch Sigurd und Erna Knober genannt. Sie gehörten zu den Nazis der ersten Stunde, das kann man an der niedrigen Nummer ihrer NSDAP-Mitgliedschaft erkennen. Deren Druckerei in Alzey gehörte übrigens bis Anfang 1939 einem Natan Selig. Sigurd Knober war zu dieser Zeit Soldat und konnte sich gar nicht um den übernommenen Betrieb kümmern, das machten französische Kriegsgefangene. Die Aufträge bekamen sie von der Gauleitung Hessen-Nassau.”

„Weshalb hast du dich so intensiv mit Knober befasst, dass du seine braune Vergangenheit aus dem Ärmel schüttelst?”

„Anfang 1990, kurz nachdem ich die Kanzlei hier nach Bernheim umgezogen hatte, wollte eben dieser Sigurd Knober seinen Berater wechseln. Er wollte mir das Mandat übertragen. Aber er war mir irgendwie suspekt. Er machte ein paar fremdenfeindliche Bemerkungen, die mit meinem Weltbild kollidierten. Und du weißt, dass ich erst an zweiter Stelle an das Honorar denke. Die Chemie muss von Anfang an stimmen. Damit bin ich bisher gut gefahren. Außerdem hatte ich kurz zuvor das Mandat von Gisela Arnold übernommen. Ich wollte während der vertrauensbildenden Phase keine unnötige Störung riskieren. Aber das ist noch nicht alles.”

„Das wird ja eine abendfüllende Story”, spottete Carlo.

„Sagt dir der Name Peter Simonis noch etwas?”

„Klar doch, ich hatte ja damals als Betriebsprüfer oft genug mit diesem schwarzen Schaf aus unserer Zunft zu tun. Gott habe ihn selig, obwohl er ein Ganove war!”

(Simonis war 2003 unter paradoxen Umständen tot aufgefunden worden. Es war mein zweiter Fall, den ich als Hobbyermittler lösen konnte.)

„Siehst du. Simonis war Knobers Berater und ich wollte keinen Mandanten übernehmen, der mit einem solchen Berater garantiert einige Leichen im Keller verbuddelt hat.”

„Jetzt verstehe ich. Als du dann das Buch gelesen hast, ist dir natürlich der Name Sigurd Knober aufgefallen. Und Dieter Knober?”

„Ja, der steht ziemlich weit oben auf der Landesliste der NPD. Er sponsert unter anderem Plakate. Hast du noch nie die NPD-Plakate mit seinem Konterfei gesehen?”

„Ach, das ist er?”

Ich nickte bestätigend und Carlo atmete tief durch.

„Das ist ja …”, statt sein Einschätzung abzuschließen, schob er mir das Schriftstück, das er vorher seiner Mappe entnommen hatte, über den Tisch.

„Arnold und ich haben hier stichwortartig protokolliert, was während der letzten Jahre vorgefallen ist. Über Details unterhältst du dich am besten mit ihm selbst. Er ist übrigens sehr froh darüber, dass du die Angelegenheit in die Hand nimmst.”

„Wie, das hast du schon mit ihm vereinbart? Ohne vorherige Absprache mit mir?”

„Wie du siehst”, grinste er. „Betrachte es als Notwehr. Oder auch als therapeutische Maßnahme.” Er sah mich mit schief gehaltenem Kopf an. Dann verzog sich sein anfängliches Grinsen und ging in schallendes Gelächter über. Dabei zog sich seine Glatze in ein Faltengebirge. Es verlieh ihm die frappierende Ähnlichkeit mit einem Shar-Pei, diesem chinesischen Knautschhund. „Therapiemaßnahme finde ich gut”, freute er sich über sein Bonmot, blickte mich aber dann sofort wieder ernst an. „Du offenbar nicht?”