Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie

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Das Berliner Weisheitsprojekt hat zwar sehr viele empirische Forschungsergebnisse über Weisheit hervorgebracht, aber es gibt auch Kritik. Die am häufigsten zitierten Bedenken sind, dass (1) untersucht und gemessen wird, wie Menschen denken und nicht wie sie handeln und (2) dass Emotionen vernachlässigt werden. Im Jahr 1997 begann die Soziologin Monika Ardelt ältere Bürger auszuwählen, um mit ihrer Hilfe einen „dreidimensionalen“ Weisheitstest zu entwickeln, mit dem der kognitive, der affektive und der emotionale Aspekt von Weisheit gemessen werden sollten. In ihrem Rahmen gehört zu dem emotionalen Aspekt das Empfinden von Mitgefühl gegenüber anderen und die Fähigkeit, konstruktiv mit Unglück und Widrigkeiten umzugehen. Ardelt argumentiert, dass Mitgefühl erkennbar werden lässt, was einen weisen Menschen eigentlich ausmacht – eben nicht nur jemanden, der bestimmte intellektuelle Fähigkeiten vorweisen kann. Sie zitiert den Philosophen Jon Kekes und bemerkt, dass „ein Narr lernen kann, die Dinge zu sagen, die ein weiser Mann sagt, und sie bei denselben Gelegenheiten zu sagen“ (Ardelt, 2004, S. 262), aber dies sei nicht wirklich Weisheit. Um ihren Ansatz zu stützen, weist sie darauf hin, dass Jesus, der Buddha, Mohammed, Gandhi, christliche Heilige und Zenmeister alle eine tiefere Wahrheit wahrnehmen, die anderen entgeht. Sie seien in der Lage, ihre Subjektivität und ihre Projektionen zu transzendieren und Ereignisse objektiv aus mehreren Perspektiven zu betrachten und Mitgefühl mit anderen zu empfinden (Ardelt, 2004, S. 279).

Auch Robert Sternberg hat sehr viel zum empirischen Studium von Weisheit beitragen (siehe Kapitel 11). Nach seinem Model arbeitet ein weiser Mensch auf ein gemeinsames Gutes hin, und zwar „durch Ausgewogenheit von a) intrapersonellen, b) interpersonellen und c) extrapersonellen Interessen, um ein Gleichgewicht von a) Anpassung an die existierende Umwelt, b) Gestalten der existierenden Umwelt und c) einer Auswahl neuer Umwelten herzustellen, und zwar auf lange Sicht wie auf kurze Sicht“ (Sternberg & Lubart, 2001, S. 507; Kapitel 11). Narrheit ist das, was sich ausbreitet, wenn wir aus dem Gleichgewicht sind – wenn wir uns nur auf ein paar unserer Fähigkeiten verlassen, wenn wir nur einige Interessen berücksichtigen oder unseren Blick ausschließlich auf entweder kurzfristige oder auf langfristige Folgen richten (Sternberg, 2005a; Kapitel 11).

Streben nach Konsens

Wie können wir diese Perspektiven sichten, um zu einem für Psychotherapeuten Verständnis von Weisheit zu gelangen? Eine Reihe von Autoren hat versucht, in historischen Berichten und modernen Modellen gemeinsame Themen zu erkennen. Die Neurobiologen Thomas Meeks und Dilip Jeste (2009; Kapitel 14) haben sechs Hauptkomponenten von Weisheit identifiziert: (1) prosoziale innere Haltung und prosoziales Verhalten, (2) soziale Entscheidungsfindung und pragmatisches Wissen vom Leben, (3) emotionale Homöostase, (4) Reflexion und Selbstverständnis, (5) Wertrelativismus und Toleranz und (6) Anerkennen von Unsicherheit und Mehrdeutigkeit und effektives Umgehen damit. Judith Glück vom Berliner Weisheitsprojekt (2008) und Susan Bluck haben vorliegende Definitionen ausgewertet und vier Bestandteile von Weisheit identifiziert: Meisterschaft, Offenheit für Erfahrung, eine innere Haltung des Interesses an Reflexion und Fähigkeit zu geschickter emotionaler Regulierung. Obwohl es immer noch keinen Konsens über eine Definition gibt, bekam diese Definition auf der Grundlage dieser Begriffe bei einem Treffen von Philosophen und Psychologen im Jahr 2010, die dieses Thema erforschen, eine gewisse Beachtung und Anerkennung als eine Möglichkeit, verschiedene Sichtweisen zu umfassen (Tiberius, 2010).

Neurobiologie

Vor dem Hintergrund der Schwierigkeit, Weisheit auch nur zu definieren, ist nicht überraschend, dass unser Verständnis ihrer Neurobiologie immer noch begrenzt ist. Meeks und Jeste (2009) haben zu beschreiben versucht, was möglicherweise in verschiedenen Hirnregionen geschieht, wenn Bestandteile von Weisheit aktiv sind. Aber sie machen auch darauf aufmerksam, dass die Landkarte spekulativ ist, weil es keinen Konsens über eine Definition von Weisheit gibt und die Forschung mit bildgebenden Verfahren sich bisher nicht eingehend mit den neurobiologischen Grundlagen von Weisheit beschäftigt hat. Trotz dieser und anderer Einschränkungen kann man eine klare Vorstellung von der Dynamik von Weisheit bekommen, wenn man untersucht, welche Aktivitäten des Gehirns mit jeder ihrer Bestandteile verbunden sind (siehe Kapitel 14).

Therapeutische untersuchungen

Das psychologische Konstrukt Weisheit wurde auf therapeutischem Gebiet weitgehend ignoriert. Viele Bücher und Artikel thematisieren „therapeutische Weisheit“, „die Weisheit des Körpers“ und die „Weisheit des Unbewussten“, aber relativ wenige haben sich damit befasst, was Weisheit sein und welche Rolle sie in der Psychotherapie spielen könnte.*

Die meisten eingehenden Untersuchungen von Weisheit im Zusammenhang mit Psychotherapie finden sich auf dem Gebiet der Transpersonalen Psychologie. Diese Disziplin, die in den 1960er Jahren aus der Forschung mit psychedelischen Drogen und dem darauf folgenden gegenkulturellen Interesse an östlicher Meditation und Yogapraktiken entstand, befasst sich „mit dem Studium des höchsten Potentials der Menschheit und mit der Anerkennung, dem Verständnis und der Realisierung intuitiver, spiritueller und transzendierender Bewusstseinszustände“ (Lajoie & Shapiro, 1992, S. 91). Ihr Ziel ist es, „zeitlose Weisheit mit moderner westlicher Psychologie zu integrieren und spirituelle Prinzipien in eine wissenschaftlich begründete zeitgenössische Sprache zu übersetzen“ (Caplan, 2010, S. 231). Zusätzlich zu Maslows Arbeit über „selbst-aktualisierende“ Individuen halfen Stanislav Grofs Untersuchungen der bewusstseinserweiternden Wirkungen von LSD (1993, 1998) das Gebiet der Transpersonalen Psychologie zu etablieren. Wahrscheinlich weil dieses Gebiet aus einem gegenkulturellen Milieu heraus entstand, sich großzügig bei esoterischen spirituellen Traditionen bedient und besonders an mystischer Erfahrung interessiert ist, hat es bei Therapeuten des Mainstream nicht viel Beachtung gefunden.

Soweit wir sehen, hat es nur einen einzigen systematischen Versuch gegeben, die Ergebnisse wissenschaftlicher Erforschung von Weisheit im therapeutischen Bereich anzuwenden. Michael Linden, ein deutscher Psychiater, der in Berlin praktiziert, hat einen Ansatz entwickelt, den er „Weisheitstherapie“ nennt. Er verwendet eine Modifikation des Forschungsprotokolls des Berliner Weisheitsprojekts, um bei Klienten Weisheit zu kultivieren. Die Klienten werden aufgefordert, schwierige Lebenssituationen aus mehreren Perspektiven zu betrachten, und zwar mit dem Ziel, verschiedene Komponenten von Weisheit zu entwickeln, darunter Flexibilität der Sichtweise, Empathie, Akzeptanz von Emotionen, Wertrelativismus, Akzeptanz von Unsicherheit und eine langfristige Perspektive (Linden, 2008).

Als wir dieses Buch planten, haben wir unter Weisheit einfach ein tiefes Verständnis davon verstanden, wie man lebt. Diese Definition erfasst zwar immer noch ihre Essenz, aber wir haben seitdem gelernt, dass Weisheit eine menschliche Fähigkeit auf hohem Niveau und mit vielen Dimensionen ist, die sich unter verschiedenen Bedingungen unterschiedlich manifestiert. Zu ihr gehören Ausgewogenheit und Integration vieler Fähigkeiten und sie hat quer durch kulturelle und historische Kontexte verschiedene Formen angenommen. Es wird daher eine schwierige Aufgabe sein, gezielte Interventionen oder therapeutische Trainingskonzepte zu entwickeln, um so eine vieldimensionale Tugend zu kultivieren.


Weisheit für den Therapeuten

Wir haben eine informelle Umfrage unter erfahrenen Therapeuten durchgeführt und sie gefragt, was einen „weisen” Therapeuten ausmache (siehe Kapitel 10). Auf der Grundlage ihrer Antworten und kombiniert mit den historischen und modernen Modellen, die wir eben besprochen haben, haben wir die folgenden Attribute von Weisheit identifiziert – um als Therapeuten mit mehr Weisheit arbeiten wie auch Weisheit bei Patienten kultivieren zu können:

• Sachwissen, das für das Problem, um das es geht, relevant ist

• Fähigkeit, zu argumentieren und Probleme zu lösen

• gesunder Menschenverstand sowie fachlich fundiertes Urteilsvermögen

• Fähigkeit, mehrere Sichtweisen und miteinander konkurrierende Werte gleichzeitig zu berücksichtigen

• Bewusstsein von den Grenzen unseres Wissens

• Fähigkeit, bei Mehrdeutigkeit und Unsicherheit tröstende oder beruhigende Entscheidungen zu treffen

• Bewusstsein, dass alle Gedanken konstruiert sind

• intuitives Erfassen, dass alle Phänomene ihrem Wesen nach wechselseitig voneinander abhängig und ewig veränderlich sind und wie das Denken eine konventionelle „Realität” voneinander getrennter stabiler Objekte konstruiert

• die Fähigkeit, absolute (transzendente, transpersonale, wechselseitig voneinander abhängige) Realität neben konventioneller Realität anzuerkennen und zu würdigen

• die Fähigkeit, unsere eigene kulturelle, familiäre und persönliche Konditionierung und Psychodynamik zu beobachten, zu reflektieren und zu verstehen

• Interesse an persönlichem Wachstum und Lernen aus Erfahrung

• Offenheit für Erfahrung

• Achtsamkeit für die Wirkung von Handlungen auf die nähere Umgebung und die weitere Welt auf lange und auf kurze Sicht

• die Fähigkeit, Affekte und Impulse zu tolerieren und über sie zu reflektieren, ohne sie notwendigerweise auszuagieren

 

• ein Verständnis der menschlichen Natur, wie sie sich durch körperliche, seelische und spirituelle Entwicklungsstufen hindurch verändert

• Verstehen der Ursachen menschlichen Leidens und wie es gelindert werden kann

• Soziale oder emotionale Intelligenz: die Fähigkeit, andere zu verstehen und mit anderen zu kommunizieren

• Mitgefühl mit sich selbst und mit anderen

• Das ist eine lange Liste, die sehr anspruchsvoll erscheinen mag. Aber diese Qualitäten hängen tendenziell miteinander zusammen, das heißt, wenn man eine Qualität entwickelt, stärkt man oft auch andere.

Weisheit kultivieren

Obwohl zahlreiche Untersuchungen zu der Schlussfolgerung gelangt sind, dass Weisheit eine seltene Entwicklung ist und sich nicht von selbst mit dem Alter einstellt, kommt das doch gelegentlich vor (Baltes & Staudinger, 2000; Jordan, 2005; Staudinger, 1999; Vaillant, 2003). Aber kann man sie bewusst und mit Absicht kultivieren? Eine Studie der Berliner Schule weist darauf hin, dass Psychotherapeuten mehr Weisheit als die Bevölkerung im Ganzen besitzen, wenigstens wenn sie Lösungen für komplexe menschliche Probleme beschreiben (Smith, Staudinger & Baltes, 1994; Staudinger, Smith & Baltes, 1992). Dieses Ergebnis lässt den Schluss zu, dass Training nützlich sein kann, obwohl Therapeuten möglicherweise Probanden sind, bei deren Auswahl Befangenheit im Spiel sein kann. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass die Orientierung an der Absicht, andere zu verstehen und andere Aspekte von Weisheit im Laufe eines Lebens zu entwickeln, ein Faktor ist, der Entwicklung von Weisheit begünstigt (Jordan, 2005). Traditionelle Auffassungen von Weisheit stimmen mit dieser Sicht überein. Plato meinte, dass Entwicklung von Weisheit eine „tägliche Disziplin“ verlangt, und in frühen buddhistischen Traditionen, wurde Weisheit dadurch entwickelt, dass der Achtfache Pfad beschritten wurde, der unter anderem dauerndes „Rechte Anstrengung“ verlangt.

Die Rolle von Achtsamkeit

Die meisten Weisheitstraditionen gehen davon aus, dass man weise werden kann, wenn man bewusst meditative und kontemplative Praktiken auf sich nimmt. In der buddhistischen Tradition wurden Übungen zu achtsamer Bewusstheit ausdrücklich als Mittel entwickelt, Weisheit zu kultivieren – „Dinge sehen, wie sie sind, statt wie wir sie gerne hätten“ (Surya Das, 2011, S. 1). Wie könnte das gehen? Betrachten wir einige Elemente von Achtsamkeitsübungen, und wie diese Aspekte verschiedene Bestandteile von Weisheit entwickeln könnten.

Heraustreten aus dem Strom der Gedanken

Wenn wir unsere Aufmerksamkeit immer wieder zurück auf die sinnliche Erfahrung von Moment zu Moment richten (zum Beispiel auf die Empfindungen bei der Atmung), statt in Gedanken verwickelt zu bleiben, können wir mit der Zeit unsere Denkprozesse in den Blick bekommen. Diese Übung ermöglicht uns zu sehen, wie Gedanken durch Familie und Kultur konditioniert wurden und wie sie sich mit Stimmungen und Umständen verändern (R. Siegel, 2011). Wir bekommen auch die Möglichkeit, unsere intellektuellen Abwehrmechanismen in Funktion zu sehen – den Widerstand, der als Reaktion auf beunruhigende Gedanken entsteht, und unseren Drang, an tröstenden oder beruhigenden Vorstellungen oder Interpretationen festzuhalten. Wenn wir diese mentalen Prozesse in Aktion beobachten, kann uns das helfen, eine zentrale Eigenschaft von Weisheit zu entwickeln, die in vielen Definitionen enthalten ist: die Fähigkeit, mehrere Perspektiven zu halten. In der buddhistischen Tradition geht dieses bewusste „Einnehmen von Perspektiven“ noch weiter, um Einsicht aus erster Hand zu gewinnen, wie der Geist aus dem ewig veränderlichen Strom der Erfahrung eine scheinbar stabile Realität konstruiert (siehe Kapitel 9).

Bei unangenehmen Empfindungen bleiben

Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf unangenehme Gefühle und körperliche Empfindungen richten und uns für sie öffnen, hilft uns Achtsamkeitspraxis, das, was physisch und emotional unangenehm ist, zu tolerieren und anzunehmen (Germer et al., 2005; R. Siegel, 2011). Viele Definitionen von Weisheit weisen auf die Fähigkeit hin, zurückzutreten, dem Drang nach unmittelbarer persönlicher Bequemlichkeit zu widerstehen und im Interesse des größeren Guten zu handeln. Dies ist nur dann möglich, wenn wir über unsere instinktive Gewohnheit hinauskommen, nach allem zu streben, was persönlich angenehm ist, und Schmerz zu vermeiden. Genauso wie wir unsere Muskeln kräftigen, wenn wir im Fitnessstudio Gewichte heben, können wir mit der Zeit immer besser Schmerz und andere unangenehme Empfindungen ertragen, wenn wir Achtsamkeit üben. Diese Ausdauer wird sowohl dadurch gestärkt, dass man sieht, wie sich der Schmerz, so wie alle Dinge, von selbst verändert, wie auch dadurch, dass man sich nicht mit dem identifiziert, was unangenehm ist, d. h., dass man sich nicht persönlich für seine Ursache hält. Darüber im Folgenden mehr.

Automatisches Reagieren beobachten und kontrollieren

Wenn wir nicht achtsam sind, sind viele unserer Reaktionen impulsiv. Sie sind entweder instinktgeleitet, durch Belohnung und Strafe konditioniert oder man hat sich abgeschaut, wie man reagiert, das heißt, man folgt einem Modell. Achtsamkeitspraxis lehrt uns, Reiz-Reaktions-Prozesse aus mikroskopischer Nähe zu beobachten, sodass wir das Entstehen einer Sinnesempfindung, eines Gedankens oder eines Gefühls miterleben können, und wie darauf der Drang oder der Impuls zu reagieren folgt, und darauf schließlich das entsprechende sichtbare Verhalten. Statt automatisch diesen Ablauf auszuagieren, kann man mit Übung die Fähigkeit entwickeln, innezuhalten, Atem zu holen und einzuschätzen, ob die Handlung wirklich zu erwünschten Ergebnissen führen würde oder nicht. So kann Achtsamkeitspraxis helfen, die Fähigkeit für emotionale Regulierung zu entwickeln – Zurückhaltung, automatisch auf Affekte oder Impulse hin zu handeln –, was bei den meisten Definitionen von Weisheit eine herausragende Rolle spielt.

Transpersonale Einsicht

Eine Hauptfunktion von Achtsamkeit in der Tradition des alten buddhistischen Geistestrainings besteht darin, direkte Einsicht in anattā (siehe Kapitel 9 und 13) zu bekommen – die Nichtexistenz eines getrennten, stabilen Selbst oder einer getrennten stabilen Identität. Diese Einsicht ist mit der Einsicht in das verwandt, was spätere buddhistische Traditionen als shūnyatā oder Leere bezeichnen: die Beobachtung, dass alle wahrgenommenen Phänomene in wechselseitiger Abhängigkeit von allen anderen Phänomenen entstehen und dass ihre scheinbar getrennte Natur eine Konstruktion unseres konzeptuellen Denkens ist. Achtsamkeitsübungen helfen uns, diese wechselseitige Abhängigkeit zu sehen, indem sie sichtbar werden lassen, dass alle Erfahrung in beständigem Fluss ist, wobei unser Geist unablässig Begriffe erzeugt, um diesen Fluss zu dem zu organisieren, was wir für die konventionelle Realität halten. Wir nehmen wahr, dass wir, wie der Neurowissenschaftler Wolf Singer (2005) es formuliert, „ein Orchester ohne einen Dirigenten“ sind. Dieses Bewusstsein hilft uns nicht nur, Weisheit im buddhistischen Sinn zu entwickeln – Einsicht in die Art und Weise, wie die Dinge wirklich sind –, sondern es löst auch die Barriere zwischen „mir“ und „mein“ und „dir“ und „dein“ auf, was zu Mitgefühl, einem anderen Eckstein von Weisheit, führt.

Beobachtung der Eigenheiten des Denkens von Moment zu Moment

Während Achtsamkeitspraxis zu einer radikalen Neubewertung dessen führen kann, wer wir zu sein meinen, erhellt sie daneben gewöhnlich auch das, was von einem psychodynamischen Ansatz aus Abwehrmechanismen genannt wird. Wenn wir wahrnehmen, was wir in jedem einzelnen Moment denken, sehen wir, wie oft wir auf andere projizieren und wie schwer es ist, sie so zu sehen, wie sie sind. Wir nehmen wahr, wie wir in unserem Denken Klischees benutzen, bewerten, eifersüchtig konkurrieren, idealisieren, schlecht machen und alle möglichen anderen nicht so schönen Dinge tun, die zur menschlichen Natur gehören. Wenn wir diese innere Aktivität betrachten, ermöglicht uns das, über unsere Reaktionen auf die Dinge zu reflektieren, und wir können allmählich die introspektive innere Haltung und das Selbstverständnis entwickeln, die weitere Bestandteile von Weisheit sind.

Sehen, wie das Denken Leiden erzeugt

Achtsamkeitsübungen wurden auch entwickelt, um erkennen zu können, wie das Denken Leiden erzeugt und wie dieses Leiden erleichtert und überwunden werden kann (R. Siegel, 2011). Unser Denken ist permanent mit Vergleichen beschäftigt und wertet und strengt sich an, die Dinge „genau richtig“ zu machen und dann zu versuchen, sie daran zu hindern, sich zu verändern. Unsere Versuche, angenehme Augenblicke festzuhalten und unangenehme zu vermeiden oder zu verdrängen, scheitern unvermeidlich und führen zu endlosem Leid. Im einen Moment gewinnen wir, aber im nächsten Moment verlieren wir. Einsicht in diese Prozesse, die spontan bei der Achtsamkeitspraxis entstehen, vermittelt uns ein reiches Verständnis von der menschlichen Natur – eine Dimension von Weisheit, die für die therapeutische Praxis besonders wichtig ist.

Gegensätze annehmen

Wenn wir aus dem Gedankenstrom heraustreten und die Aktivität des Denkens von Moment zu Moment beobachten, sehen wir, dass unsere lieb gewonnenen Ansichten der Realität – „Ich bin schlau“, „Ich bin dumm“, „Ich bin freundlich“ – rein mentale Konstruktionen sind. Dieses Verständnis kann uns helfen, die Sichtweisen anderer eher zu tolerieren und kooperative Lösungen für Konflikte zu finden – beides sind häufig erwähnte Dimensionen von Weisheit.

Achtsamkeit kann uns auch helfen, verschiedene Ebenen der Realität zugleich anzunehmen. Wir können ein Bewusstsein davon haben, was die buddhistische Psychologie als absolute Realität beschreibt: Leere und anattā (die wechselseitige Verbundenheit aller Phänomene und das Fehlen eines getrennten stabilen „Selbst“), anicca oder Vergänglichkeit (die Tatsache, dass alle Phänomene in ständigem Fluss sind) und dukkha oder Leiden (wie das Denken Leiden erzeugt, indem es an angenehmen Erfahrungen hängt und unangenehme vermeidet oder verdrängt). Zugleich können wir uns der konventionellen oder relativen Realität bewusst sein: der Tatsache, dass wir natürlich uns und unsere Nächsten schützen wollen; wir wollen gesund, sicher und geliebt sein; wir haben Angst vor dem Unbekannten; wir haben natürliche sexuelle und aggressive Triebe sowie alle anderen Tendenzen, die uns menschlich machen. Wir werden in diesem Buch immer wieder sehen, dass es besonders wichtig ist, diese beiden Ebenen anzunehmen, wenn man als Therapeut weise handeln möchte. Manchmal ist es für unsere Patienten wichtig, dass wir ihre gewöhnliche emotionale Erfahrung verstehen, und zu anderen Zeiten ist es für sie wichtig, dass wir das Gesamtbild sehen und verstehen, wie Denken Leiden erzeugt, indem es absolute Realität nicht wahrnimmt.

Mitgefühl entwickeln

Einige Definitionen von Weisheit schließen auch Mitgefühl mit anderen ein (Ardelt, 2004; Clayton, 1982; Meeks & Jeste, 2009). Umgekehrt gehört zu wirklich mitfühlendem Handeln auch Weisheit, damit man diejenigen, denen man zu helfen versucht, nicht unabsichtlich schädigt. Wie früher besprochen kann Achtsamkeitspraxis eine große Unterstützung sein, wenn man Mitgefühl kultivieren will, und zwar zum Teil, weil wahrnehmbar wird, wie verbunden wir miteinander sind. Wenn wir die Fähigkeit besitzen, inmitten allen Leidens Frieden zu empfinden, dann sehen wir, dass andere Menschen ebenfalls leiden, und wir empfinden spontan den Impuls, anderen zu helfen, so wie die rechte Hand der linken Hand hilft, wenn sie verletzt ist. Die Erfahrung wechselseitiger Verbundenheit und Empfinden von Mitgefühl sind fundamental untrennbar. Der indische Weise Atisha hat es im zehnten Jahrhundert so formuliert: „Das höchste Ziel der Lehren ist die Leere, deren Wesen Mitgefühl ist“ (Harderwijk, 2011).

Andere wege zur weisheit

Ein Aspekt von Weisheit entsteht nicht auf natürliche Weise aus Achtsamkeitspraxis: Das Wissen und die Erfahrung, die man braucht, um konkrete weltliche Probleme zu lösen. Es ist unwahrscheinlich, dass man lernt, ein Auto zu reparieren, eine Fremdsprache zu sprechen oder einen chirurgischen Eingriff klug durchzuführen, indem man einfach auf einem Meditationskissen sitzt. Diese Aspekte von Weisheit erwirbt man natürlich durch konventionelle Methoden wie Selbststudium, Berufsausbildung und Lehrzeit.

Viele Praktiken, die bestimmt sind, Weisheit zu kultivieren, sind mit einem theologischen Rahmen verbunden, der den Glauben an ein göttliches Wesen und/oder einen anderen Glauben verlangt. Im Gegensatz dazu wurden Achtsamkeitsübungen in buddhistischen Traditionen mit einer inneren Haltung verfeinert, die mit dem Pāli-Wort ehipassiko bezeichnet wird: Komm und sieh selbst. Diese Haltung passt gut zu modernen psychologischen Einstellungen, die die beobachtete Erfahrung einer Lehrmeinung vorziehen. Dies soll aber nicht heißen, dass andere Mittel der Kultivierung von Weisheit, auch solche, die aus westlichen und anderen östlichen religiösen Traditionen stammen, nicht ebenfalls für die Psychotherapie von Bedeutung sein können (siehe Kapitel 22). Man kann sich leicht vorstellen, dass viele verschiedene Formen kontemplativer Praxis sowie viele verschiedene Arten von Therapie die Entwicklung der inneren Haltungen und Fähigkeiten, die wir hier besprechen, unterstützen können.

 

Weisheit ist auch ansteckend. Im Laufe der Geschichte haben Menschen aus genau diesem Grund Kontakt mit großen Lehrern und Weisen gesucht. Und viele, die zu Weisheit gelangt sind, weisen darauf hin, wie sehr die Begleitung durch Mentoren ihre Entwicklung beeinflusst hat. Dass Weisheit im therapeutischen Prozess vermittelt werden kann, ist einer der Gründe, weshalb es wichtig ist, einen weisen Therapeuten zu haben. Untersuchungen zeigen zudem, dass sich die Werte von Klienten mit der Zeit zunehmend an die ihrer Therapeuten angleichen (Williams & Levitt, 2007).

In gewissem Maß kann Weisheit auch durch Bücher erworben werden. Aber es scheint so zu sein, dass die meisten Aspekte von Weisheit – Sehen, wie der Geist Realität konstruiert, Lernen zu ertragen, was persönlich unangenehm ist, Entwickeln der Fähigkeit zu emotionaler Regulierung, Erleben von Anteilnahme und Mitgefühl, Sehen der wechselseitigen Bezogenheit aller Erscheinungen, Entwickeln von Selbst-Verständnis und tiefer Wertschätzung der menschlichen Natur –persönliche introspektive Disziplin verlangen.

Zwei Flügel eines Vogels

Im tibetischen Buddhismus werden Weisheit und Mitgefühl als die „zwei Flügel eines Vogels“ bezeichnet (Dalai Lama, 2006; siehe auch Kapitel 4). Der Vogel kann mit nur einem Flügel nicht fliegen, auch nicht, wenn ein Flügel deutlich schwächer als der andere ist. Wenn wir mit einem Patienten mitfühlen, aber keine Weisheit besitzen, dann ist es möglich, dass wir unser Mitgefühl verlieren, von Emotionen überwältigt werden, den Weg durch das Leiden verlieren und das Gefühl haben, die Behandlung sei hoffnungslos. Umgekehrt werden weise therapeutische Vorschläge auf taube Ohren stoßen, wenn man den Kern des Problems eines Patienten, das von vielen Faktoren bestimmt ist, zwar genau erfasst, aber mit der Verzweiflung des Patienten nicht in Kontakt ist. Die Patienten brauchen beides; sie müssen sich „gefühlt fühlen“ (Siegel, 2009), und sie brauchen einen realistischen Weg durch ihr Leiden.

Auf einer absoluten Ebene sind Weisheit und Mitgefühl untrennbar. Kurz vor seinem Tod sagte Thomas Merton (2008): „Die Vorstellung von Mitgefühl … beruht ganz auf einem scharfen Bewusstsein der wechselseitigen Abhängigkeit oder Interdependenz aller dieser Lebewesen, die alle Teile voneinander sind und alle miteinander zu tun haben“ (S. 30). Bei einem buddhistischen Freund klingt eine ähnliche Vision an: „Bei Weisheit geht es um Eindringen in die letzte Wahrheit und Bleiben in dieser Wahrheit, während Mitgefühl die Bewegung des Herzens von diesem tiefen Verständnis aus ist, um mit den Höhen und Tiefen und Kämpfen des Lebens in Berührung zu sein, während es sich entfaltet“ (Chodon, persönliche Mitteilung).

Wir hoffen, dass diese Einführung in Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie Ihr Interesse geweckt hat und sie anregt, weiterzulesen. Es ist oft am leichtesten, etwas zu lernen, wenn man ein gewisses Verständnis von den Bestandteilen und den Methoden hat, die andere verwendet haben, die den Weg vor uns gegangen sind. Auf den folgenden Seiten werden Sie verschiedene Sichtweisen von Mitgefühl und Weisheit, verschiedene Formen und Möglichkeiten, wie man sie kultivieren kann, und konkrete Hinweise auf Formen der Anwendung finden, die wir als Therapeuten nutzen und Patienten anbieten können. Wenn wir zusammen die vielen Facetten dieser höchsten menschlichen Potentiale betrachten, entdecken wir vielleicht Wege, wie wir mit mehr Weisheit und Mitgefühl leben können, sodass wir, unsere Patienten und alle anderen ein glücklicheres, gesünderes und sinnvolleres Leben führen können.

* Auf der Grundlage einer Suche nach dem Stichwort Weisheit in Freuds Schriften im Internet.

* Das Ergebnis der Suche nach dem Stichwort Weisheit in PsycINFO im Februar 2011 im Internet.