Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl

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An diesem Punkt haben wir die Chance, vom Kopf zum Herzen zu gelangen. Selbstmitgefühl entfaltet sich auf einer Ebene jenseits des Intellekts und des Bemühens. Wenn wir uns inmitten des Leidens wiederfinden und uns die Heftigkeit unseres Kampfes eingestehen, beginnt sich das Herz ganz von selbst zu öffnen. Wir mühen uns nicht länger damit ab, uns besser zu fühlen, sondern entwickeln Zuneigung zu uns selbst. Wir fangen an, uns liebevoll zu umsorgen, weil wir leiden.

Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen „umsorgen“ und „kurieren“. Wir wollen etwas „kurieren“, wenn wir eine Möglichkeit haben, ein Problem zu beheben. Aber wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft und alle Bemühungen um Heilung fehlgeschlagen sind, können wir immer noch fürsorglich sein. Es ist wie beim Umsorgen eines sterbenden Menschen: Wir geben den Kampf auf und nehmen empfindsam Anteil an der Erfahrung des Sterbens. Auf der emotionalen Ebene wird es uns umso besser gehen, je eher wir aufhören, darum zu kämpfen, dass es uns besser geht. Paradoxerweise führt dann die Fürsorglichkeit zur Heilung.

Das englische Wort für Mitgefühl – compassion – stammt vom Lateinischen ab: com (mit) und pati (leiden) oder „Mitleiden“. Wenn wir echtes Mitgefühl empfinden, nehmen wir am Leiden eines Menschen Anteil. Mitfühlend zu sein bedeutet, dass wir den Schmerz eines anderen Menschen anerkennen, dass wir unsere Angst vor oder unseren Widerstand gegen sein Leiden aufgeben und dass ein natürliches Gefühl der Liebe und Zuneigung zu dem leidenden Individuum strömt. Mitgefühl ist das völlige Loslassen des Widerstandes gegen emotionales Leid. Es ist totales Annehmen: der betroffenen Person, des Schmerzes sowie unserer eigenen Reaktionen auf den Schmerz.

Selbstmitgefühl bedeutet einfach, dass wir uns selbst dieselbe Freundlichkeit entgegenbringen, mit der wir uns um andere kümmern würden. Wie ich schon in der Einleitung erklärt habe, kann bereits ein kleiner Wechsel der Blickrichtung unser Leben völlig verändern – sowohl in leidvollen Zeiten als auch im Umgang mit unseren Alltagsproblemen. Mitgefühl mit sich selbst zu haben ist eigentlich ein natürlicher menschlicher Instinkt – manchmal verschüttet oder unterdrückt –, der noch stärker ist als der instinktive Widerstand gegen den Schmerz. Glücklicherweise kann jeder dieses Selbstmitgefühl wiederentdecken.

Unbefangen herangehen

Sollten Sie diese Aussagen zunächst befremdlich oder verwirrend finden, lassen Sie sich bitte nicht abschrecken. Wenn Sie anfangen, sie in die Praxis umzusetzen, werden Sie den Sinn dahinter erkennen. Die folgenden Kapitel führen Sie Schritt für Schritt, bis Sie sich selbst Liebe geben können, wann immer Sie es nötig haben.

In den Kapiteln 2 und 3 geht es um Achtsamkeit: Wie können wir in jedem Augenblick liebevoll und wach wahrnehmen, was in uns vorgeht? Die meisten von uns sind so tief in den alltäglichen Dingen verstrickt, dass sie es noch nicht einmal merken, wenn sie leiden. Aber wir müssen das Problem lokalisieren – den Stachel im Herzen –, bevor eine Lösung überhaupt möglich wird. In Kapitel 2 erfahren Sie, wie Sie Ihren Körper sicher und mitfühlend achtsamer wahrnehmen können, und Kapitel 3 dehnt dieses Gewahrsein auf die emotionale Ebene aus. Ab Kapitel 4 lernen Sie dann, Selbstmitgefühl zu entwickeln.

Denken Sie nun bitte nicht, es käme eine Menge Arbeit auf Sie zu. Einer meiner Patienten sagte einmal über die Liebe zu sich selbst: „Es hat nichts mit kämpfen zu tun und deshalb ist es gar nicht so schwer, wie ich dachte.“

Vielleicht ertappen Sie sich dennoch gelegentlich dabei, wie Sie eine Übung mit grimmiger Entschlossenheit praktizieren. Damit muss man rechnen – alte Gewohnheiten sind hartnäckig. Versuchen Sie wahrzunehmen, wenn Sie sich anstrengen, und schauen Sie, ob Sie einen Weg finden können, dasselbe mit mehr Leichtigkeit und Freude zu tun. Wir wollen unserem Leben ja nichts hinzufügen, sondern etwas wegnehmen: Die Spannung, die wir uns unbewusst aufzwingen, um unsere Erfahrungen zu kontrollieren oder zu manipulieren.

Die der Achtsamkeit und dem Selbstmitgefühl zugrunde liegenden Prinzipien sind mindestens ebenso wichtig wie die Techniken, die Sie nun lernen werden. Der Sinn hinter den Techniken muss klar sein. Wenn Sie beispielsweise feststellen, dass eine Übung nicht funktioniert, könnte es sein, dass Sie „Selbstverbesserung“ praktizieren anstatt „Selbstakzeptanz“. Sie müssen den Unterschied kennen. Haben Sie erst einmal ganz und gar verstanden, was Achtsamkeit und Selbstmitgefühl bedeuten, können Sie die in diesem Buch beschriebenen Übungen abändern und an jede Situation anpassen.

Sollten irgendwann einmal gewisse Zweifel auftauchen, ob Sie je fähig sein werden, mitfühlender und liebevoller mit sich selbst umzugehen, dann halten Sie inne und schenken Sie sich gerade in diesem Moment ein wenig Freundlichkeit. Damit tun Sie genau das, worum es in diesem Buch geht.

Sich fürsorglich um sich selbst kümmern

Meistens kümmern wir uns um andere – was sie fühlen, sagen oder tun. Selten schenken wir uns dieselbe Fürsorge und Aufmerksamkeit. Das wollen wir jetzt versuchen. (Sie können dabei nichts falsch machen.)

• Suchen Sie sich einen Ort, an dem Sie ungestört sind, setzen Sie sich bequem hin, schließen Sie die Augen und spüren Sie, wie es sich anfühlt, in Ihrem Körper zu sein. Nehmen Sie einfach wahr, wie die körperlichen Empfindungen kommen und gehen, ohne sich besonders auf eine zu konzentrieren. Ist es eine angenehme Empfindung, registrieren Sie sie einfach und lassen Sie sie wieder los. Ist es eine unangenehme, tun Sie dasselbe. Vielleicht spüren Sie Wärme in Ihren Händen, das Gewicht Ihres Körpers auf dem Stuhl oder Sessel, ein Kribbeln in der Stirn? Nehmen Sie diese Empfindungen aufmerksam wahr, so wie eine Mutter ein neugeborenes Baby betrachten und sich fragen würde, was es wohlfühlt. Registrieren Sie einfach alles, was auftaucht – eine Empfindung nach der anderen. Nehmen Sie sich Zeit.

• Öffnen Sie nach etwa fünf Minuten langsam die Augen.

2 Auf den Körper hören

Es ist einfach nur Aufmerksamkeit, durch die wir das Singen eines Vogels wirklich hören, die großartige Schönheit eines Herbstblattes wirklich sehen, das Herz eines anderen Menschen berühren und berührt werden.

CHRISTINA FELDMAN UND JACK KORNFIELD

Es ist nicht leicht, in einem menschlichen Körper zu leben, aber zum Glück sind wir mit allem Notwendigen ausgestattet. Wir verfügen über die menschlichen Eigenschaften „Bewusstsein“ und „Mitgefühl“. Der erste Schritt zu körperlichem Wohlbefinden besteht darin, den eigenen Körper aufmerksam wahrzunehmen. Wir müssen wissen, was uns plagt. Dann können wir mitfühlend darauf reagieren.

Wenn wir leiden, ist nicht immer sofort offensichtlich, worin das eigentliche Problem besteht. Werde ich zum Beispiel von meiner Firma entlassen, empfinde ich das möglicherweise als ungerecht und denke, dass mein Chef irgendetwas gegen mich persönlich hatte. In schlaflosen Nächten verzweifle ich vielleicht bei dem Gedanken, dass ich nicht in der Lage bin, meine Familie anständig zu ernähren und stelle mir vor, wie ich mich an meinem Chef räche. Aber wo bin ich – die verletzte Seele – bei all dem geblieben? Verschwunden! Ich habe mich in meinen Kopf geflüchtet, habe den Aufzug zum obersten Stockwerk genommen und meine Angst und Traurigkeit ausgeblendet. Ich streite mit der Welt über meinen persönlichen Wert und schmiede Rachepläne. So ist es doch oft, wenn wir leiden. Im Chaos unserer Gedanken und Gefühle finden wir uns selbst nicht wieder.

Achtsamkeit ist eine besondere Art des Gewahrseins, die uns helfen kann, sicher im Körper verankert zu bleiben, wenn die Zeiten härter werden. Mit ihr können wir zu einer Lebensweise finden, die uns vor unnötigem Leiden bewahrt. Wenn wir achtsam sind, müssen wir nicht mehr unbedingt vor unangenehmen Erfahrungen davonlaufen – sie sind nun von einer Art Pufferzone umgeben, in der wir Atem holen können. In diesem Kapitel wird erklärt, was Achtsamkeit ist (und was nicht), und wie befreiend es sein kann, wenn wir dem inneren Drang widerstehen, vor unserem Schmerz zu flüchten. Dazu stelle ich ein paar einfache Achtsamkeitsübungen vor.

Der Weg der Achtsamkeit

Wir müssen Achtsamkeit erfahren, um zu wissen, was sie bedeutet. Ein Moment der Achtsamkeit ist eine Art des Gewahrseins, das vor den Worten da ist, wie das Blinken der Sterne, bevor wir sie „Großer Wagen“ nennen oder wie ein Aufblitzen von etwas Rotem an der Haustür, bevor wir erkennen, dass es eine Freundin in einem neuen roten Kleid ist. Unser Gehirn durchläuft dieses prä-verbale Stadium des Gewahrseins ständig, aber normalerweise sind wir viel zu sehr mit unseren Alltagsdramen beschäftigt, um es zu bemerken.

Die folgenden poetischen Worte geben die einfache Erfahrung der Achtsamkeit wieder:

Jeden Tag

sehe oder höre ich

etwas,

das mich mehr oder weniger

in Entzücken versetzt,

mich wie eine Nadel

im Heuhaufen des Lichts

zurücklässt.

Dafür wurde ich geboren:

zu schauen, zu lauschen,

mich in dieser zarten,

feinen Welt zu verlieren –

mich selbst immer wieder

Freude und Lobpreis zu lehren.

Auch spreche ich nicht

vom Außergewöhnlichen,

vom Furchtbaren, Schrecklichen

oder ganz Besonderen –

sondern vom Gewöhnlichen,

Alltäglichen, Langweiligen,

dem ganz alltäglichen Theater.

Oh, gute Schülerin,

sage ich zu mir,

wie könntest du anders

als weise werden,

mit solchen Lehren –

dem unauslöschlichen Licht der Welt,

 

dem Leuchten des Ozeans,

den Gebeten,

aus Gras gemacht?

Mit ihrem Gedicht Mindful („Achtsam“) erinnert uns Mary Oliver daran, wie uns ganz einfache Wahrnehmungen, beispielsweise das Glitzern des Sonnenlichts auf einem nassen Grashalm, in Entzücken versetzen können.

Eine Definition von „Achtsamkeit“, die ich besonders hilfreich finde, ist die des Meditationslehrers Guy Armstrong: „Zu wissen, was du erlebst, während du es erlebst.“ Achtsamkeit ist Gewahrsein im Hier und Jetzt. Achtsamkeit befreit, denn indem wir dem Strom unserer Wahrnehmungen Aufmerksamkeit schenken, anstatt unseren Interpretationen davon, wird jeder Augenblick frisch und lebendig. Das Leben wird zu einem Fest für die Sinne, wenn wir achtsam sind. Betrachten Sie diese Momentaufnahme des ganz gewöhnlichen Alltags im Gedicht von Linda Bamber:

Plötzlich erscheint mir die Stadt,

in der ich lebe, interessant,

so als empfände ich auf einmal Nachsicht

mit der Menschheit, ihrer Art

und Weise, in Städten zu leben

und Straßen aufzureißen, so dass der Verkehr

um einen in sich zusammenfallenden weißen Drahtzaun

geleitet werden muss,

wie auf dieser Kreuzung.

Die Bewohner dieser Stadt,

die auf den Bürgersteigen hin und her eilen,

von denen jeder heute Morgen aufgestanden ist

und sich angekleidet hat,

sehen fast aus wie – wie

in einem Film, in dem Leute

die Straße überqueren.

Fragen wie:

Ist diese Szenerie auch nur eines einzigen Blickes wert?

Beispielsweise im Hinblick auf die Architektur,

urbane Räume und menschliche Interessen?

Und gibt es genügend Vielfalt hier?

Und sind diese Leute im Allgemeinen jünger oder älter als ich?

sind jetzt einfach nicht mehr wichtig.

In ihrer Abwesenheit habe ich dieses

schöne Gefühl, dass es viele Städte auf der Welt gibt,

und dass dies eine davon ist.

Vor Kurzem hat es geregnet.

Ich denke, ich werde zu den Mönchen gehen,

und ihnen beim Malen eines Sand-Mandalas

auf der Promenade zuschauen; und

wer weiß, vielleicht hole ich mir später

noch ein Sandwich.

Achtsamkeit hat eine Qualität des Seins im Hier und Jetzt, eine Qualität der Freiheit, der Weitsicht, der Verbundenheit, des Nicht-Urteilens, des Fließens im Alltag. Wenn wir achtsam sind, ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass wir das Leben anders haben wollen, als es ist – zumindest für den Moment.

Manche Menschen scheinen achtsamer zu sein als andere, aber wo wir auch beginnen, wir können unsere Achtsamkeit immer durch Üben steigern. Und Sie müssen weder Mönch noch Künstler sein, um von einem solchen Achtsamkeitstraining zu profitieren. Sie müssen noch nicht einmal innerlich ruhig sein, um achtsam sein zu können. Sie müssen einfach nur die persönliche Entscheidung treffen, wach und bewusst zu sein. Sie können in Ihrem Alltag zu jeder Zeit und an jedem Ort „aufwachen“, indem Sie bewusst wahrnehmen und erkennen, was in Ihnen und um Sie herum vor sich geht. Fragen Sie sich: Bin ich durcheinander, gelangweilt, gestresst oder ruhig? Spüre ich eine Spannung im Bauch oder Hitze auf den Wangen? Mache ich mir Sorgen über die Zukunft oder über den Besuch bei meinem Vater, der heute noch ansteht? Ist dies das Geräusch des Windes, der durch die Blätter einer Pappel streicht? Jede bewusste Wahrnehmung in der Gegenwart kann ein Moment der Achtsamkeit sein und eine Befreiung von unserem üblichen, spannungserzeugenden Denken. Das Gegenteil von Achtsamkeit ist Unachtsamkeit, die sich beispielsweise darin zeigt, dass Sie

• den Namen eines Menschen vergessen, kaum dass er Ihnen vorgestellt wurde

• sich nicht daran erinnern können, warum Sie gerade in die Küche gegangen sind

• essen, wenn Sie keinen Hunger haben

• sich, wenn Sie im Stau stecken, darüber aufregen, dass Sie spät kommen

• sich wie ein Kind verhalten, wenn Sie Ihre Eltern besuchen

• eine Stunde auf der Autobahn fahren und sich kaum erinnern können

Das sind die Zeiten, in denen wir geistesabwesend sind, nicht wahrnehmen, was wir denken, fühlen oder tun und wie ferngesteuert reagieren. Vielleicht ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie unachtsam wir meistens sind!

Unachtsamkeit ist kein Problem, wenn der Film, der in unserem Kopf abläuft, süß und angenehm ist, aber manchmal ist er furchterregend, und wir würden am liebsten aufstehen und das Kino verlassen. Unsere Aufmerksamkeit wird von unserem Leiden „entführt“. So war es auch bei George, einem meiner Patienten.

Dem äußeren Anschein nach hatte George sein Leben im Griff. Seine Arbeit machte ihm Spaß, er hatte kürzlich ein Haus gekauft, lebte mit einer Partnerin zusammen, die ihn liebte, und er konnte seine Freunde mit seinem ausgezeichneten Gitarrenspiel in Entzücken versetzen. Aber je schöner sein Leben wurde, desto stärker quälten ihn Erinnerungen an seine schwierige Kindheit. Er war in einer armen Familie aufgewachsen, in der Vernachlässigung und Misshandlungen an der Tagesordnung gewesen waren, und seine geliebte Schwester hatte sich mit 16 Jahren das Leben genommen. Jedes Mal, wenn ihm etwas Gutes widerfuhr – eine Gehaltserhöhung, der Kauf eines neuen Autos oder eine Urlaubsreise – konnte er ein Schluchzen nicht unterdrücken. Er dachte an seine traurige Kindheit und an seine Schwester, die nie die Chance gehabt hatte, ihr Leben zu genießen. Dieses Bedauern hinderte ihn daran, sich zu freuen. Wenn er in der Zeitung von misshandelten Kindern las, wurde er manchmal ganz plötzlich von solchen Erinnerungen überwältigt. Seine Frau fürchtete, die Verbindung zu George zu verlieren, der zunehmend in seiner Vergangenheit zu versinken schien, während sich ihr gemeinsames Leben positiv entwickelte.

Auch George wollte seiner Frau nahe bleiben, die inzwischen manchmal die Geduld mit ihm verlor. Als er eines Tages, wie üblich mit den Gedanken in der Vergangenheit, am Strand spazieren ging, fiel sein Blick auf einen wunderschönen runden Stein. Er hob ihn auf, ließ ihn in der Hand hin und her gleiten, rieb damit über sein Gesicht und genoss die Berührung dieser kühlen, glatten Oberfläche auf seinen Wangen. Da er ein Sammler war, steckte er den Stein geistesabwesend in die Jackentasche. Als er später zu Hause seine Taschen leerte, fiel ihm der Stein in die Hand und wieder genoss er es, diese kühle, glatte, runde Oberfläche zu berühren. George stellte fest, dass es ihn irgendwie beruhigte, wenn er mit den Fingern über den Stein strich. Er nannte ihn scherzhaft seinen „Hier-und-Jetzt-Stein“ und trug ihn immer bei sich. Von nun an nahm er immer, wenn er einen „Flashback“ hatte und sich nicht in den Erinnerungen an seine Kindheit verlieren wollte, den Stein aus der Tasche und strich mit den Fingern darüber.

Ohne irgendeine Anleitung von außen war George über eine Möglichkeit gestolpert, seinen inneren Zustand durch Achtsamkeit zu steuern: Er brachte seinen Geist mit Hilfe der sinnlichen Wahrnehmung ins Hier und Jetzt. Anfangs benutzte George seinen Hier-und-Jetzt-Stein vor allem, um seine Aufmerksamkeit von dem, was ihn quälte, abzuziehen und in den gegenwärtigen Moment zu kommen. Später, als sein Stein und der gegenwärtige Augenblick in emotionalen Stresssituationen zu einem verlässlichen Zufluchtsort geworden waren, fasste George Mut und wandte sich seinen traumatischen Erinnerungen zu, um sie sich genauer anzuschauen. Achtsamkeit bedeutet, zu wissen, wo wir uns innerlich in jedem Augenblick gerade befinden und unsere Aufmerksamkeit bewusst und intelligent lenken zu können. Achtsamkeit erfordert eine gewisse Offenheit, um heilsam wirken zu können. So wie die Augen einer Mutter auf ihrem Neugeborenen ruhen, können wir etwas sehr lange anschauen, wenn wir es mögen oder wenn wir uns beim Schauen geliebt und unterstützt fühlen. Aber wir können unsere Aufmerksamkeit nicht lange aufrechterhalten, wenn uns das, was wir sehen, abstößt. Wir können die einzigartige Schönheit einer Rose oder eines Musikstückes oder uns selbst nur wahrnehmen, wenn wir emotional offen sind. Mit dieser inneren Haltung üben wir uns in Achtsamkeit.

Achtsamkeit üben: Der Anfang

Falls Sie die am Ende des letzten Kapitels beschriebene Übung gemacht haben, haben Sie bereits einen kleinen Vorgeschmack auf Achtsamkeit bekommen. Sie waren in einem relativ empfänglichen Zustand und haben eine Reihe von Eindrücken und Empfindungen bewusst wahrgenommen, ohne sie vergleichen, beurteilen, benennen oder werten zu müssen. Man kommt mit dem eigenen Geist relativ gut zurecht, wenn man einfach nur registriert, was kommt und geht. Probleme treten erst auf, wenn wir unbewusst vor unangenehmen Dingen zurückschrecken, nach Vergnügen streben und uns in Fantasien darüber verlieren, wie wir die Dinge gerne hätten. Ausnahmslos jede(r) von uns stellt schon bald fest, dass eine so einfache Übung wie „ein paar Minuten still sitzen und die Gedanken kommen und gehen lassen“ alles andere als einfach ist.

Geräusche achtsam wahrnehmen

Diese Übung dauert nur fünf Minuten. Suchen Sie sich einen ruhigen Ort, an dem Sie weder durch den Fernseher, Musik oder die Unterhaltungen anderer Menschen abgelenkt werden.

• Setzen Sie sich in entspannter, bequemer Haltung hin und achten Sie darauf, dass Ihre Wirbelsäule gerade ist. Schließen Sie die Augen ganz oder halb.

• Stellen Sie sich nun vor, Ihre Ohren seien Satellitenschüsseln, die alle Geräusche der Umgebung auffangen. Sie sitzen einfach da und empfangen Klangschwingungen. Sie müssen die Geräusche nicht benennen, Sie müssen sie auch nicht mögen, und Sie müssen sich nicht auf ein besonderes Geräusch konzentrieren – hören Sie einfach alles, was an Ihre Ohren dringt. Lassen Sie die Töne einen nach dem anderen kommen und gehen. Versuchen Sie nicht, Geräusche in Ihrer Umgebung zu entdecken. Lassen Sie sie auf sich zukommen.

• Wenn Sie merken, dass Sie sich in Gedanken verlieren, was unweigerlich geschehen wird, kehren Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit einfach zum Lauschen zurück.

• Öffnen Sie nach fünf Minuten langsam die Augen.

Haben Sie bemerkt, wie entspannend es sein kann, Geräusche einfach aufmerksam wahrzunehmen? Es könnte sein, dass Sie es noch angenehmer empfinden als andere Methoden, mit denen Sie vielleicht bereits Erfahrungen gemacht haben, wie Entspannungstraining oder Selbsthypnose. Das hängt damit zusammen, dass Sie innerlich alles loslassen, einschließlich der Aufgabe, sich zu „entspannen“, die Sie paradoxerweise in einem Spannungszustand halten kann. Bei dieser Übung geht es nur darum, mit der Symphonie der Umgebungsgeräusche zu „sein“.

Möglicherweise haben Sie sich dabei ertappt, dass Sie dem simplen Akt des Lauschens ein paar Extraaufgaben hinzugefügt haben. So haben Sie die Geräusche vielleicht mit den Etiketten „Auto“, „Kind lacht“, „Tür schließt sich“ versehen. Das ist zusätzliche Arbeit. Oder Sie haben sich gewünscht, an einem schöneren Ort zu sein, beispielsweise auf dem Land, wo man angenehmere Geräusche erwarten kann. Das erzeugt ein wenig Stress. Und wahrscheinlich sind Ihre Gedanken sehr schnell abgeschweift. Sie haben sich vielleicht gefragt, ob Sie die Übung richtig machen oder ob Sie sich eine leisere Klimaanlage anschaffen sollten. Jeder dieser automatisch ablaufenden mentalen Prozesse – Benennen, Urteilen, sich in Gedanken verlieren – macht das Lauschen ein bisschen schwieriger als nötig.

Machen Sie die Übung möglichst noch einmal. Sie können dann innerlich registrieren, wenn diese mentalen Prozesse einsetzen und sich wieder aufs Lauschen konzentrieren. Sagen Sie zu sich „Benennen“, wenn Sie merken, dass Sie etwas benennen, oder „Urteilen“, wenn Sie urteilen, und „Denken“, wenn Sie sich dabei ertappen, wie Ihre Gedanken abschweifen.

Einen geistigen „Anker“ finden

Unser Geist braucht einen „Anker“, das heißt einen Fixpunkt, auf den er sich beziehen kann. Unsere mentalen Probleme werden zum größten Teil dadurch verursacht, dass unsere Gedanken von einer Sache zur anderen springen, was ziemlich anstrengend ist, oder durch die ständige Beschäftigung mit deprimierenden oder negativen Gedanken oder Gefühlen. Wenn wir das feststellen, müssen wir unserem Geist einen Ankerplatz anbieten – einen neutralen und ruhigen Fixpunkt. Genau das tat George, wenn er über seinen „Hier-und-Jetzt-Stein“ strich, und Sie taten es ebenfalls, als Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit immer wieder zu den Geräuschen in Ihrer Umgebung zurückkehrten. Dieses Verankern hilft uns, innerlich ruhig zu werden.

 

Am häufigsten wird der Atem als geistiger Anker genutzt, und dafür gibt es ein paar gute Gründe:

• Wir atmen 24 Stunden am Tag.

• Es ist relativ einfach, sich auf den Atem zu konzentrieren, weil er eine spürbare Bewegung im Körper verursacht.

• Der Atem ist etwas Vertrautes und kann somit ein sicherer Hafen vor den Stürmen des täglichen Lebens sein.

• Er funktioniert automatisch, ohne persönliche Anstrengung.

• Er ist unser treuester Freund, der uns von der Geburt bis zum Tod begleitet.

Den eigenen Atem achtsam wahrzunehmen ist eine ausgezeichnete Möglichkeit, die Aufmerksamkeit zu schulen und sich in den gegenwärtigen Moment zu bringen.

Für manche Menschen mag die Konzentration auf den Atem allerdings problematisch sein, beispielsweise für diejenigen, die physische Traumata erlitten haben. Sie wollen ihren Körper vielleicht gar nicht spüren, weil dadurch schlimme Erinnerungen ins Bewusstsein dringen könnten. Menschen, die ständig um ihre Gesundheit besorgt sind, stellen vielleicht fest, dass die Konzentration auf einen bestimmten Körperteil neue Ängste auslöst. Wer immer alles ganz korrekt machen will oder unter Zwangsstörungen leidet, könnte bei der Konzentration auf den Atem rigide werden und dadurch vielleicht Atemprobleme bekommen. Andere, die unzufrieden mit ihrem Aussehen sind oder sich in ihrem Körper nicht wohlfühlen, empfinden es möglicherweise allgemein als unangenehm, durch den Atem intensiv in Kontakt mit dem Körper zu kommen.

Haben Sie das Gefühl, dass eines der oben genannten Probleme auf Sie zutreffen könnte, sollten Sie sich einen anderen „Ankerplatz“ für ihren Geist suchen. Er muss nur leicht und unmittelbar zugänglich sein. Manche Menschen bevorzugen ein bestimmtes Wort, das für sie eine besondere Bedeutung hat (siehe auch „Centering Meditation, Anhang B). Man kann sich auch auf den Boden unter den Fußsohlen, die im Schoß gefalteten Hände, eine bestimmte Körperregion wie beispielsweise den Herzbereich oder einen Punkt zwischen den Augen konzentrieren. Sollte es Ihnen schwerfallen, die Aufmerksamkeit in den Körper zu lenken, können Sie sich auch auf ein äußeres Objekt konzentrieren. Was Sie auch als geistigen Anker wählen, es wird im Laufe der Zeit wie ein guter Freund.

Die folgende Übung zeigt Ihnen, wie man den Atem als Anker benutzt, aber Sie können ihn jederzeit durch ein anderes Konzentrationsobjekt ersetzen.

Achtsam atmen

Diese Übung dauert 15 Minuten. Suchen Sie sich einen ruhigen, angenehmen Platz. Ihre Sitzhaltung sollte so sein, dass Ihre Muskulatur vom Knochengerüst gestützt wird, damit Sie während der gesamten Übung mühelos in derselben Position bleiben können. Dazu setzen Sie sich mit geradem Rücken hin, lassen die Schultern etwas nach hinten fallen und senken das Kinn zum Brustkorb. Sie können den Rücken anlehnen und mit einem Kissen unterstützen.

• Atmen Sie drei Mal langsam ohne Anstrengung ein und aus, um sich zu entspannen und alle Belastungen, die Sie mit sich herumtragen, loszulassen. Schließen Sie die Augen halb oder ganz, je nachdem, was sich angenehmer anfühlt.

• Lassen Sie nun ein inneres Bild von sich entstehen. Visualisieren Sie sich in Ihrer Sitzhaltung auf dem Stuhl oder Sessel, so als würden Sie sich von außen sehen. Lassen Sie Körper und Geist einfach so sein, wie sie jetzt sind.

• Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit dann auf Ihren Atem. Achten Sie darauf, wo Sie den Atem am stärksten spüren. Manche Leute fühlen ihn besonders an den Nasenöffnungen, vielleicht als kühle Brise über der -Oberlippe. Andere nehmen stärker das Heben und Senken des Brustkorbs wahr und wieder andere spüren ihren Atem am deutlichsten im Bauchraum, wenn sich der Bauch beim Einatmen ausdehnt und beim Ausatmen zusammenzieht. Finden Sie heraus, wo Sie Ihren Atem am besten wahrnehmen können.

• Achten Sie nun darauf, wann Sie den Atem am stärksten spüren: beim Ausatmen oder beim Einatmen. Ist die Wahrnehmung in etwa gleich, konzentrieren Sie sich auf eines von beiden. (Der Einfachheit halber gehe ich ab jetzt davon aus, dass Sie sich auf das Ausatmen und die Nase konzentrieren.)

• Achten Sie nun auf Ihr Gefühl bei Ausatmen. Spüren Sie, wie die Luft jedes Mal durch die Nasenlöcher ausströmt. Machen Sie dann beim Einatmen ein bisschen „Urlaub“ und lassen Sie in dieser Pause einfach alles so sein. Spüren Sie Ihren Atem jetzt wieder beim Einatmen.

• Der Körper atmet Sie. Das tut er sowieso automatisch. Nehmen Sie einfach bei jedem Ausatmen bewusst den Luftstrom in der Nase wahr.

• Ihre Gedanken werden immer wieder von der bewussten Wahrnehmung des Atems abschweifen. Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Wenn Sie merken, dass Sie mit den Gedanken woanders sind, kehren Sie einfach wieder zur Empfindung des Ausatmens durch die Nase zurück.

• Werfen Sie einen kurzen Blick auf Ihre Armbanduhr. Falls Sie noch ein paar Minuten Zeit haben, konzentrieren Sie sich jetzt bei jedem Atemzug auf die Bewegung Ihres gesamten Oberkörpers. Denken Sie nicht zu viel darüber nach. Spüren Sie einfach die Lebendigkeit und Bewegung Ihres Körpers beim Atmen.

• Öffnen Sie nach 15 Minuten langsam die Augen. Richten Sie den Blick nach unten und genießen Sie die Stille des Augenblicks, bevor Sie sich wieder anderen Dingen zuwenden.

Wahrscheinlich haben Sie bei dieser Übung bemerkt, dass ständig mentale und emotionale Prozesse ablaufen. Es ist sehr schwierig, inmitten all dieser konkurrierenden Gedanken und Gefühle beim Atem zu bleiben. Kaum haben wir uns voll auf das Ausatmen konzentriert, sind wir auch schon wieder geistesabwesend und folgen einem neuen Gedankengang. Vielleicht haben Sie gerade gedacht: „Oh, das ist ein schöner Atemzug“ und waren beim Einatmen bereits mit einer anderen Körperempfindung oder Ihren Plänen für den Tag beschäftigt. Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf ein gleichbleibendes, neutrales Objekt (anstatt auf etwas Neues oder Herausforderndes), wendet sich unser Gehirn sehr schnell anderen Dingen zu.

Durch das achtsame Wahrnehmen des Atems können wir uns darin üben, auf ein einziges Objekt konzentriert zu bleiben, aber Sie sollten nicht erwarten, dass Ihre Aufmerksamkeit unerschütterlich auf den Atem gerichtet bleibt. So funktioniert unser Gehirn nicht. Kehren Sie mit der Aufmerksamkeit einfach immer und immer wieder zum Atem zurück, wenn Sie feststellen, dass Ihre Gedanken abschweifen. Das ist alles. Denken Sie an den Zen-Spruch: „Wenn du sechs Mal hinfällst, stehe ein siebtes Mal auf.“ Leute, die behaupten: „Ich kann nicht meditieren“, gehen wahrscheinlich von der falschen Annahme aus, dass sie sich intensiver konzentrieren müssten.

Ablenkungen sind Teil der Meditation. Wir sollten jeden Augenblick, in welchem wir eine Ablenkung als solche erkennen, willkommen heißen und nicht als Gelegenheit zur Selbstkritik betrachten, denn er zeigt uns, dass wir gerade aus unseren Tagträumen „aufgewacht sind“.

Manchmal kann Tagträumerei auch eine gute Sache sein, beispielsweise eine Quelle kreativer Inspiration, ähnlich wie Sigmund Freud unsere nächtlichen Träume als den „Königsweg zum Unbewussten“ beschrieb. Wesentlich ist, dass wir wissen, wann wir Tagträumen und gelegentlich aufwachen. Leider geht unsere Aufmerksamkeit in den Tagträumereien meistens verloren und wir leiden unter belastenden Gedanken wie „Sehe ich fett aus?“ oder „Das war doof!“ Wenn wir dann zum Atem zurückkehren, bekommen wir eine Verschnaufpause. In diesem Moment gibt es kein Problem. Schauen Sie einmal, was passiert, wenn Sie, aufgeregt oder verärgert, einen Spaziergang machen und sich nur darauf konzentrieren, wie sich Ihre Fußsohlen beim Auftreten auf den Bürgersteig anfühlen. Keine Vergangenheit, keine Zukunft … kein Problem.

Das „Default–Netzwerk“

Im Jahre 2001 identifizierten die Hirnforscher Debra Gusnard und Marcus Raichle ein ganzes Netzwerk von Hirnarealen – das sogenannte Default Network –, die in Ruhe aktiver oder stärker vernetzt sind und die inaktiv werden, wenn Aufmerksamkeit gefordert ist, beispielsweise eine Aufgabe gelöst werden soll. Wenn die Gedanken während der Meditation „auf Wanderschaft gehen“ wechselt das ganze Gehirn in einen speziellen Modus, den Default Mode. Das Default Network arbeitet im Hintergrund, es verbindet unsere Vergangenheit mit der Zukunft und gibt uns ein „Ich-Gefühl“. Normalerweise werden wir nur dann auf es aufmerksam, wenn es versagt, wie beispielsweise bei Alzheimer-Patienten, die „mental leer“ erscheinen.