Fahlmann

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Achims Unentschlossenheit zeigte sich auch in seinem Aussehen. Mal ließ er sich Koteletten wachsen, mal ein modisches Kinnbärtchen, mal versuchte er, seine vorstehende Oberlippe mit einem fadenscheinigen Schnurrbart zu kaschieren. Er sah sich unentwegt um wie ein schlechter Schauspieler, der in einem B-Picture einen Spion spielt, schien sich nie ganz wohl in seiner Haut zu fühlen, und der spöttische Ausdruck in den Mundwinkeln war weniger ein Indiz für Arroganz, wie viele meinten, sondern die Folge einer schmerzhaften Unsicherheit in alltäglichen Dingen. Je länger ich über ihn nachdenke, desto deutlicher sehe ich ihn vor mir: Zu kleine Nasenlöcher, Brille, das leicht fliehende Kinn mündet in einen kräftigen Hals mit ausgeprägtem Adamsapfel, Aknenarben. Zog er den Parka aus (ein Kleidungsstück, das er das ganze Jahr über trug), sah man, dass etwas mit seinem Hinterteil nicht stimmte. Es saß zu hoch, wirkte knöchern, war auffällig flach und ziemlich breit; ich verstehe nicht, was Susanne damals in Paris so anziehend an Achim gefunden hatte. Ob er ihr noch gefiel, nachdem er mit ihrer dauerkichernden Freundin das Weite gesucht und uns alleine und verlegen im Hotelzimmer zurückgelassen hatte? «Was machst du denn so», fragte Susanne nach einer Weile. – «Ich schreibe», sagte ich. – «Was schreibst du?» – «Abenteuergeschichten und so Zeugs.» – «Das find ich ja toll. Ehrlich? Kein Witz?» – «Ehrlich …» Und ganz und gar kein Witz!

Seit der Spritztour nach Paris hatte die Zeit ihre Spuren in Achims Gesicht hinterlassen: Falten, Krähenfüße, das Übliche. Außerdem waren seine Wangen ständig gerötet, und früher hatten sie sich nur in aufregenden Situationen verfärbt, an der Tafel im Physikunterricht zum Beispiel, oder als wir auf der Treppe vor der Sacré-Cœur endlich mit den beiden deutschen Mädchen ins Gespräch gekommen waren. Es ist beunruhigend, schreibe ich aus dem hilfreichen Notizbuch ab, mitansehen zu müssen, wie ein Freund altert, wie er fett wird, wie seine Gesichtszüge erschlaffen. Das ist fast so, als trüge man einen riesigen Spiegel mit sich herum, der einem unentwegt zeigt, wie schnell das eigene Leben dem Tod entgegentickt. (…) Allein die Angst, meiner eigenen Vergänglichkeit gewahr zu werden, ist der Grund, warum ich nie zu einem Klassentreffen gegangen bin.

«Geh doch mal mit ihr nackt Squashspielen», hatte ich Achim damals übrigens vorgeschlagen. Konzentriert zog er einem aufgeweichten Bierfilz die Haut ab und zupfte sie Fetzen um Fetzen in den Aschenbecher. «Danke für den Tipp.» Unsere Abende begannen üblicherweise maulfaul. Wir tranken, rauchten, beobachteten die Frauen vom JLB. Doch an jenem Abend, an den ich mich erinnerte, als ich an einem regnerischen Vormittag, genauer gesagt, an dem Vormittag nach der VHS-Lesung, am Küchenfenster stand (hier im Empire-Hôtel gebe ich vor, mich an diesem Vormittag an diesen Abend erinnert zu haben), an jenem Abend in Mollingers Eck also, ich mache es nicht absichtlich so kompliziert, das müssen Sie mir glauben, die Sache ist kompliziert, also an jenem Abend in Mollingers Eck dachte ich an nichts anderes als an Marsitzkys Brief, zwei Gedichte, schnell, schnell, der Brief schlug in meinem Kopf mit den Flügeln wie ein aufgescheuchtes Huhn, schnell, umflatterte es gackernd mein Denken, schnell, schnell, Marsitzky brauchte zwei neue Gedichte «im Stil Ihres schWEINe-essIG-Bandes für eine Anthologie neuer deutscher Literatur», schnell, schnell, gackerte das Huhn in der Weltmaschine, und geheim, geheim. Mit Achim konnte ich nicht über die Sache reden; er war fast ausgerastet, als ich meine bevorstehende Lesung in der Volkshochschule erwähnt hatte. «Trink aus!», sagte ich. «Ich freu mich auf nen Gimlet!» Rascher Überschlag: Drei Bier, jetzt nen Gimlet, dann noch drei, vier Bier, das ist okay. Trinke ich mehr, muss ich auf der Couch schlafen. «Du schnarchst, wenn du besoffen bist», hatte sich Susanne bereits im ersten Jahr unseres Zusammenlebens beschwert. «Und ich hab, weiß Gott, keinen Bock, von einem biergefüllten Aschenbecher angegrunzt zu werden.» Also grunzte der Aschenbecher, wenn er biergefüllt war, diskret auf der Couch, um gegen fünf oder sechs Uhr in der Frühe zu seiner Frau ins angewärmte Bett zu kriechen, wo er die Beine endlich wieder ausstrecken konnte.

«Luftballon», sagte Achim. – «Was?» – «Luftballon dabeihaben», sagte er. – «Versteh ich nicht.» – «Wenn man Saufen geht. Wie in den Bilderwitzen. Da kommen sie auch immer mit einem dicken Luftballon nach Hause.» Achim hatte den Bierdeckel zerrupft und schickte sich nun an, Streichhölzer einzeln aus der Packung zu nehmen, um sie in kleine Stückchen zu brechen, die er ordentlich nebeneinander auf dem Tisch aufreihte. Der Zuckerrand des Gimlets knirschte an meinen Zähnen, ich nahm einen großen Schluck und zeigte Molli, als er in unsere Richtung schaute, einen aufgerichteten Daumen, schnell, schnell, flatternder Brief auf dem Hühnerhof, zwei Gedichte, schnell, schnell. Später mehr davon. Ich muss aufhören. Brauche eine Pause. Hier bin ich wieder! Ich habe nachgedacht. So haut das nicht hin. Ich sitze mit Achim im Leeren. Zwar heißt diese Leere Mollingers Eck, hat also einen Namen, aber das bringt uns nicht weiter. Um die Leere zu füllen, muss ich das Innere der Kneipe beschreiben. Damit ich Sie und vor allem mich dabei nicht langweile, lege ich einfach eine Weltkarte über Mollingers Eck. Passen Sie auf! Das wird klasse!

Man betritt die Kneipe durch eine Tür am Nordpol, rechter Hand räkelt sich der Tresen (Nord- und Südamerika), dahinter geben offene Butzenglastüren den Blick auf Gläser und Humpen frei, langsam, langsam, wir haben Mollingers Eck eben erst betreten, noch bohren sich unsere Blicke in eine Wand aus Zigarettenqualm, dahinter brodeln Gespräche, Gelächter, und hinten ist der Übungsplatz, jemand mit einer vor Aufregung vibrierenden Fistelstimme sagt ein unanständiges Gedicht auf, da ballern die Kanonen, allmählich gewöhnen sich die Augen an den Qualm, die Ohren an den Lärm, alte Sau, du, der Körper an das Gedränge, Prost, Männer, klirrend vereinigen sich Gläser im Zenit des Stammtischs, links des polaren Eingangs verbirgt die Garderobe zwei Tische, Europa, Asien, Achim und ich sitzen immer am europäischen Tisch, der vorsichtige Achim mit dem Rücken zur Garderobe, im optischen Windschatten, ich mit freier Sicht zum Tresen, zum Stammtisch (Australien), du altes Ferkel, und zum Stehtisch, der sich mitten im Raum erhebt wie ein langstieliger Pilz oder, um im schiefen Bild zu bleiben, das ich unbarmherzig zu Tode reite, wie ein winziges, quadratisches Afrika auf einer Stelze; hier trinken die hübschen Frauen vom JLB nach dem Training Diätcola und Orangensaft; und um Ihnen auch wirklich alles zu zeigen, drehe ich den Kopf nach Norden, blicke aus dem Fenster. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite bemüht sich eine trostlose Laterne, die Auslagen der Eisenwarenhandlung Drach zu erleuchten, hin und wieder streichen die Lichtfinger eines Autos über die Fassade, dringen durch die Scheiben von Mollingers Eck, entziffern in unbeholfener Hast den Rauputz, begutachten die gerahmten Fotos der historischen Vorstadt, etwa das bräunliche Bild über dem Stammtisch, das unser Nachbarhaus inmitten einer Wiese zeigt, ein Foto aus den unvorstellbaren Zeiten vor den Fahlmanns. Philip K. Dick, der ungekrönte König in Sachen schleichender Paranoia, hätte darin eine Collage vermutet und mit dem Aufschrei: «Ich habs ja schon immer gewusst!» durch die Wand gefasst: Alles ist Täuschung, alles ist Trug.

«Man müsste wahre Namen für alle Berufe entwickeln.» – «Wahre Namen?», fragte ich. – «Der Imker. Er klaut den Bienen den Honig und stellt ihnen Zuckerwasser hin. Müsste eigentlich Bienentäuscher heißen.» – «Oder Kregel», warf ich ein. – «Was bitteschön ist ein Kregel?» – «Eine Berufsbezeichnung. Beruf: Kregel.» Den Kregel musste ich mir merken. «And never forget the good old», das nächste Wort bettelte danach, laut gerülpst zu werden: «BLUMENWURST!» So und nicht anders waren die Erstversionen meiner schWEINe-essIG-Gedichte entstanden. Ich spreche hier bewusst von meinen Gedichten; Achim hätte unser Herumgealber nie in halbwegs brauchbaren Text verwandeln können. Und außerdem hatte er ja darauf bestanden, nicht als Co-Autor genannt zu werden. Dass ihm das jetzt Kummer macht, ist nicht mein Problem. Die Hälfte des Honorars! Lies doch selbst in der VHS, du Faulbacke! Geld will er haben! Diese Schnapsidee ist bestimmt nicht auf deinem Mist gewachsen! Nicht aufregen, schnell, schnell, zwei Gedichte. «Kregel ist doch nicht schlecht», hoffte ich. – «Geht so. Warum fragst du?» – «Ich möchte, dass mein Sohn eines Tages ein Kregel wird.» Achim sah mich nachdenklich an, aber ich verschwieg ihm auch weiterhin, dass ich es gerade bewusst darauf anlegte, brauchbare Ideen, wenn möglich sogar Notizen, zu erbeuten; und tatsächlich entwickelte sich kurz darauf aus einem harmlosen Geplänkel ein großartiger Entwurf. Alles fing damit an, dass Achim stöhnte: «Ich brauch unbedingt nen Job. Aber einen, bei dem ich wenig arbeiten muss!» – «Werd doch Außenminister des Universums», sagte ich. – «Aber das Universum krümmt sich doch in sich selbst hinein.» – «Dann werd Drontenminister!», sagte ich und taumelte einige Stunden später heimwärts, einen vollgekritzelten Bierdeckel in der Hand: Wenn sich das Universum / In sich selbst zurückkrümmt, / Bin ich eigentlich Innenminister, / Dachte der Außenminister des Universums, / Der viel lieber Drontenminister wäre, / Denn dann hätte er / Überhaupt nichts zu tun. //

Bevor ich zu Bett ging, motzte ich diese auf der Kneipentoilette heimlich notierten Zeilen mit den sattsam bekannten Zaubertricks der Lyrischen Moderne auf, legte den Bierdeckel auf die Speichertreppe, die seither bestimmt an Alpträumen leidet, und tippte am folgenden Tag:

das universum es krümmt sich in

krümmt sich in sich selbst zurück in

krümmt es sich zurück also bin ich ja ich

 

innenminister wenn es sich zurück es sich

krümmt das universum meine ich in sich

in krümmt es sich so dachte der außen

minister des universums ach dronten

minister ach drontenminister ach wäre

viel lieber drontenminister bitte dronten

minister universum bitte bitte dronten

minister ach drontenminister dort unten bitte

Zusammen mit meinem zweiten Meisterwerk, ich sage nur: kregel, ich sage nur: BLUMENWURST, kam das Gedicht in einen Umschlag, z. Hd. von Herrn Rolf Marsitzky, Briefmarke drauf, Jens, könntest du mir bitte einen Gefallen, klar, Papa, und schon hüpfte er mit dem drontenminister die Treppe hinab. Ich freue mich sehr, dass Sie beim Zusammenstellen Ihrer Anthologie an mich gedacht haben … Oh, wie ich Marsitzky hasste! Diesen größenwahnsinnigen Scheißkerl mit seinem großspurigen Gehabe! Er hatte mich seinerzeit durch den Verlag geführt, als gehörte alles ihm persönlich, von der Sekretärin bis zum Fotokopierer, und dabei war er bloß der kleine Gott von nebenan, ein wie ein Primus wirkender Emporkömmling im Designeranzug, Lektor für deutsche Gegenwartsliteratur, in der Jury zahlloser Literaturpreise, ein ahnungsloses Arschloch mit Seepferdchenkrawatte, das in alles reinreden musste. So hatte es in der mond-schein-parade eigentlich heißen sollen:

oma kruse und h. c. affmann

betütelt im «chez darwin»

und nicht:

oma kruse und h. c. knolle

im kurhotel «thoelke»

«Chez klingt wie eine Verballhornung des Vornamens Charles», hatte ich Marsitzky vergeblich zu überzeugen versucht, «aber andererseits gemahnt es an einen Kneipennamen. «‹chez darwin›». Verstehen Sie? Das ist symbolisch. Affenhaus Welt. Die Welt ein Tollhaus. Nur deshalb heißt es gleich in der ersten Zeile h. c. affmann, wobei ich hier zwei weitere Scherze verborgen habe. Zum einen spiele ich damit …» – «Herr Fahlmann!», unterbrach Marsitzky ungerührt. «Ich denke, Sie haben nicht verstanden. Solche», er litt, «Scherze passen nicht zum Image unseres Verlagshauses. Ich kann Ihnen aber eine geistreiche Alternative vorschlagen.» Und so wurde «chez darwin» zum kurhotel «thoelke» – in meinen Augen der fürchterlichste Fehlschlag der Evolution. Nein, das möchte ich an dieser Stelle nicht vertiefen, möchte ich eigentlich nie vertiefen. Jedenfalls klingelte einige Tage, nachdem ich den drontenminister abgeschickt hatte, das Telefon, und Marsitzky begann grußlos: «Ihre Gedichte der weltbeste», Schlucken, «kregel und, äh, krümmungen des inneren außenministers reißen mich nicht vom Hocker.» Ich atmete Angst in den Hörer, und mein Lektor verlangte unwirsch zu wissen, was Dronten seien. «Vögel», erklärte ich verdutzt und bemühte mich, nicht herablassend zu klingen. «Ausgestorbene Vögel. Auf Madagaskar …» Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob die Dronten auf Madagaskar gelebt hatten, und fügte ein klägliches «oder so» hinzu. «Das versteht keiner», sagte Marsitzky. Mauritius? Haben die Dronten nicht auf Mauritius gelebt? «Soll ich die Dronten-Zeilen weglassen?», fragte ich. Natürlich haben die Scheißvögel auf Mauritius gelebt!

«Nein, Sie sollten das ganze Gedicht weglassen! Vergessen Sie, dass Sie es jemals geschrieben haben! Es hat nicht das Niveau der schWEINe-essIG-Texte.» Niveau! Seit wann haben die schWEINe-essIG-Texte Niveau? Kann Kotze sprechen? Ernährt sich ein Tasmanischer Nacktnasenwombat von Altmetall? Wer ist unser lustiger kleiner Hauptbahnhof? Die schWEINe-essIG-Texte und Niveau! Dass ich nicht lache! Am liebsten hätte ich Marsitzky gesagt, wie seine «niveauvollen» Gedichte entstanden waren. Ich holte tief Luft. «Ich könnte Ihnen eine kleine Erzählung …» – «Herr Fahlmann! Die … ja … das mit Ihren Prosatexten haben wir zur Genüge durchgekaut. Ich brauche Gedichte, die mindestens die Qualität Ihrer alten Arbeiten haben. Zwei Gedichte! Gehobene Qualität! Spätestens nächste Woche. Guten Tag.» Er legte so schnell auf, dass mir das unausgesprochene «Auf Wiederhören!» wie Blei auf der Zunge liegen blieb. Nächste Woche. Muss mir beim Saufen wieder Notizen machen. Nicht mal in Frieden saufen lassen sie einen! Gehobene Qualität. Stehe ich unter Druck, klappt nichts, drontenminister, und kaum ist der Druck weg, kregel, schreib ich vier Gedichte auf einen Schlag. Muss aufpassen, dass Achim nichts mitkriegt. Qualität! Wenn Marsitzky «Qualität» sagt, klingt das verdächtig nach Güteklasse A. Weiß der Arsch nicht, was Dronten sind! Natürlich haben die auf Madagaskar gelebt. Nein, Mauritius. Vor der Weltkarte. Zumindest in der Nähe von Madagaskar. Östlich davon. Kein Kreuz drauf. Klar. Kenne auch keinen, der dort war. Irgendwann muss jemand die Marsitzkys ausrotten, flugunfähige, nacktgesichtige Saumenschen.

«Was ist denn mit dir los?», fragte Susanne. Ich zeigte aufs Telefon. «Marsitzky.» – «Er wollte die Texte nicht?» – «Nein. Er will andere Texte. Güteklasse A.» – «Und was bedeutet das?» – «Viel Bier und auf der Couch schlafen!» Susanne hob die Augenbrauen, sagte aber nichts. Ihr Glück! Einmal hatte sie mich gefragt, ob es mir auf Dauer nicht langweilig würde, jeden zweiten Abend mit Achim in Mollingers Eck zu verbringen. «Ich denke nicht», antwortete ich, «dass mir das jemals langweilig werden wird!» Unser Platz hinter der Garderobe, heißt es im Notizbuch, gehört zu den wenigen Orten, wo ich mich wohlfühle und die ich Heimat nennen könnte. Heimat – sofort fällt mir mein Lesesessel ein: Nacht für Nacht erwartete er mich inmitten eines Lichtkreises, den die betagte Stehlampe mit dem großmütterlichen Schirm auf den Schlafzimmerteppich warf, sattgelbe Insel, auf dir treibe ich davon, ein Buch in Händen, die Tapeten verblassen, die Zeilen verschwimmen, Buchstaben verdichten sich zu Bildern, Raumschiffe, Serienmörder, und lediglich das Umblättern lässt die Wirklichkeit in Form einer schlafenden Schönen aufflackern, deren nackte Beine unter der Bettdecke hervorkommen, ovale Schattenteiche in den Kniekehlen. Susannes Haar ein auf dem Kissen liegender Fächer, neben dem Bett zerknüllte Söckchen, nahe der Tür ein abgestürzter BH mit verdrehten Schwingen – rasch blättere ich um und gleite kaum mehr Leib zwischen den Seiten davon.

Selbstverständlich fühlte ich mich auch in der Küche wohl, eine Tasse auf der Fensterbank, den Notizblock daneben, dieses Halbleben zwischen Schlaf und Arbeit am Fenster, dieses träge Fischen nach Erinnerungen, dieses manische Umkreisen der eigenen Identität. Montags und mittwochs ging es danach zum Sargschleppen, manchmal musste ich auch zur Uni, aber am angenehmsten waren, ehrlich gesagt, die Tage, an denen ich mich nach der dritten oder vierten Tasse nicht zum Schreiben durchringen konnte und mich wieder ins ausgebombte Bett legte. Lesesessel, Küchenfenster, Bett, eigentlich habe ich mich im ganzen Haus wohlgefühlt – sogar manchmal am Schreibtisch auf dem Dachboden, obwohl ich es dort mit einer vorwurfsvoll glotzenden, störrischen Schreibmaschine zu tun hatte, der es immer wieder gelang, die flüssigsten Gedanken in holzig daher klappernde Sätze voller Anachronismen und schamloser Rechtschreibfehler zu verwandeln. Ob ich mich in dem Haus so wohlfühlte, weil ich darin meine Kindheit und Jugend verbracht hatte? Ich stieg die Treppe hoch, und das vertraute Knarren einer Stufe verwandelte mich in einen Siebenjährigen; nachts schloss ich behutsam die Haustür auf, ein Jugendlicher, der sich bemüht, leise zu sein, damit die Eltern nicht merken, wie betrunken er ist; alle Gegenstände sprachen zu mir; im Herzen des Hauses wartete mein ehemaliges Kinderzimmer; und in den Aschenbechern auf dem Dachboden spukte der Geist meines Vaters. Für Susanne wären derartige Überlegungen Wasser auf die Mühlen ihrer Lieblingsthese: Du lebst zu viel in der Vergangenheit etc. «Und was ist daran schlecht?», hatte ich sie einmal gefragt. «Schlecht?» Sie überlegte. «Du lebst nicht in der Gegenwart.» – «Lebst nicht in der Gegenwart», äffte ich sie nach. «Was für ein Unsinn! Natürlich lebe ich in der Gegenwart. So wie du und Jens und Was-weiß-ich-wer-noch! Ich denk halt viel über das Vergangene nach. Daran ist nichts Verwerfliches. Das ist normal! Manche machen es sich leicht im Leben, andere etwas schwerer.»

Diese Plattheit in den Ohren erscheine ich auf der Straße vor meinem Elternhaus. Den Nachbarn ist es ein Dorn im Auge. Ich kenne jeden Riss in der Fassade, das fleckige Rot der Ziegeln, die lecke Dachrinne, unter der Jahr für Jahr die Mauersegler nisten. Die Straße, die ich nun in Gedanken westwärts gehe, führt schnurstracks in die Innenstadt. Gegenüber der Metzgerei Kundel steht eine Tankstelle aus den fünfziger Jahren, deren futuristische Mütze, ein steil emporschwingendes Stück Beton, sich gut auf dem Titelbild eines SF-Groschenhefts gemacht hätte. Der Tankwart grüßt, ich grüße zurück und komme wenige Minuten später an der Bäckerei Gallinger vorbei, Jasmin steht mit bloßen sonnengebräunten Armen hinter der Theke, wir brauchen ja nicht über Literatur zu reden, Kleines, deine Wimpern, die langen, deiner Augen dunkele Wasser, sie sieht mich nicht, ich beschleunige, renne fast. Hinter der nächsten Kreuzung rotten sich etliche Geschäfte zusammen, Obst und Gemüse Kleibon für Susanne, Getränkeboutique Nobbinger für Heinz, der weiße Klotz des Zebra-Markts für uns alle. Kauft man hier ein, sagt man: «Ich gehe ins Dorf.» Läuft man jedoch weiter in westliche Richtung, wie ich es jetzt in Gedanken tue, überschreitet man bald die unsichtbare Grenze, die «das Dorf» von «der Stadt» trennt. Sofort werden die Häuser mondäner, höher, rücken enger zusammen – in den überseeischen Mustern einer bedrohlichen Fremde. Ich muss umkehren! Hier gefällt es mir nicht. Also gehe ich zurück, biege nach etwa einem Kilometer in eine Seitenstraße, Staubwolken hängen über dem Gelände einer Baustoffhandlung, das Kreischen von Kreissägen kommt vom Schrottplatz, Brachland, dann wieder Häuser und endlich stehe ich, ein Pilger, dessen Reise ein jähes und beglückendes Ende nimmt, vor Mollingers Eck.

Ich entsinne mich mit Wehmut, wie Heinz mich an meinem fünfzehnten Geburtstag in seine Stammkneipe eingeführt hatte, die damals noch reichlich prosaisch Das Eck hieß. «Wer Haare an der Knolle hat», sagte er, als er mich seinen Saufkumpanen vorstellte, «darf auch einen heben!» Vater war nicht sonderlich begeistert, dass ich meine Samstagabende von nun an in einer Kneipe verbrachte, aber was wollte er tun, hatte ich doch in Onkel Jörg einen eifrigen Fürsprecher. Und so begann die Zeit des Taumelns, des In-den-Rinnstein-Kotzens, ich trinke mein erstes Bier auf ex, das Licht bricht sich in den Waben vorüberziehender Literhumpen, alles dreht sich, spielt Karussell, wie ein Möbiusband verbiegt sich der Heimweg ins Endlose, und mit dem Klappern des Frühstücksgeschirrs steigen befremdliche Bilder aus dem betäubten Kopfkissen. Dann kam die Zeit der Angst: Das Eck wechselt den Besitzer! Doch Mollis liebenswürdige Regentschaft übertraf alle Erwartungen. Seitdem sah man Heinz jeden Abend mit Nobbinger und Bäuchel am Tresen; er füllte die Aschenbecher, bestellte ein Bier nach dem anderen und kam jedes Mal, wenn ich mich mit Achim am europäischen Tisch besoff, auf ein Bierchen zu Besuch, ohne sich anmerken zu lassen, dass er meinen Freund nicht ausstehen konnte. «Nimm schon!», sagte er und stocherte mit der Zigarettenschachtel vor Achims Brust herum, erzählte einen Witz, zwei Witze, drei Witze, dann kehrte er zum Tresen zurück, von wo man ihn bisweilen eine Sauerei brüllen oder hemmungslos rülpsen hörte. Mal beneidete ich ihn um diese Unkompliziertheit, mal bekümmerte mich die gleichförmige Melodie seines Lebens, gestört durch den Missklang einer verborgenen Familie im Hintergrund. Für mich hatte Heinz immer zu unserer Familie gehört. Er aß mittags bei Onkel Jörg (Chilibohnen waren ihre Spezialität), und schon als Kind hatte es mich in Erstaunen versetzt, dass Heinz nicht Fahlmann hieß. Von ihm bekam ich die tollsten Geburtstagsgeschenke (Messer, Luftpistole, Wehrmachtshelm); als mich die Schachtsträßler auf dem Kieker hatten, holte er mich einen ganzen Monat lang mit der Vespa von der Schule ab; spucks aus, Junge, wie viel Dollar fehlen dir noch zu deinem Moped? Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich Heinz vermisse, und werde das ungute Gefühl nicht los, ihm meine Zuneigung zu wenig gezeigt zu haben. Aber damals lebte ich hinter Glas.

Widerwärtig alltägliche Probleme wie ein zur dämonischen Schreckgestalt aufgeblähter Marsitzky verstellten mir den Blick auf die wirklich wichtigen Dinge. Meine Freunde wussten nichts davon. Sie durften nie von meinen Schwierigkeiten mit Marsitzky erfahren. Winkler, weil es ihn nichts anging, und mit Achim redete ich hauptsächlich über Sex (allgemein), Biertrinken (speziell) und das lästige Studium – aber meistens machten wir Quatsch. Mit professionellem Geschick vertrieben wir unliebsame Tischgenossen, irgendwelche Trottel, die Achim von seiner Zeit bei der Freiwilligen Feuerwehr kannte, und die ihn «Flacharsch» nannten. Ein Dummes Gesicht setzt sich zu uns an den Tisch, Flacharsch und so weiter, hahaha, Herrenwitze, und plötzlich fragt Achim mich in beiläufigem Tonfall: «Was haben wir denn damals eigentlich gekriegt, als wir das Mittelmeer ausgehoben haben.» – «Fünfhundertvierundvierzig Mark die Stunde», sage ich. «?», macht das Dumme Gesicht. «Der Sack, der die Alpen aufgeschüttet hat, hat sechshundert Mark bekommen», fahre ich mit Bedacht fort und erkläre unserem neuen Freund herablassend: «Höhenzulage.» – «Die brauchen uns bald wieder», sagt Achim. «Die Verschalung ist undicht.» – «Das wird teuer», seufze ich. «Alles abpumpen, die Muscheln abkratzen, der Sand muss rundumerneuert werden, Unterbodenwäsche, dann Silikon in die Fugen – wird ein scheißteurer Spaß!» In dieser Art machten wir weiter, bis dem Dummen Gesicht die Sicherungen im Kopf zu qualmen begannen, und es genervt das Weite suchte. Besonders peinigend empfanden die Typen von der Freiwilligen Feuerwehr unsere offenkundige Unkenntnis in handwerklichen Universalien. Der Achter Schlüssel, die Zwölfer Nuss, die mächtige Hilti waren die schwarzen Trümpfe, die, falsch ausgespielt, die Hände des hartgesottensten Handwerkers zum Zittern brachten. Nur gegen Onkel Jörg gab es keine Allzweckwaffe.

 

Hönk, hönk, der Transit fährt vor, Onkel Jörg betritt Mollingers Eck, begrüßt die Anwesenden mit einer kreisenden Handbewegung, die einen Heiligenschein in den Zigarettenqualm über seinem Kopf zeichnet, zischt mit Heinz ein schnelles Bier am Tresen, tritt dann an unseren Tisch, mimt den Zerknirschten und versucht mit einigen Fragen, den Grad meiner Trunkenheit zu ermitteln. Achims Gesicht ist längst zur Grimasse erstarrt, aber so verdiene ich mein Geld! Im Nachhinein hat sich immerhin eine Nachtfahrt mit Onkel Jörg gelohnt, jene Fahrt nämlich, als ich mich aus heiterem Himmel an Sonettkränze erinnerte. Bestehen aus fünfzehn Sonetten, rekonstruierte ich, während die Sargkanten den Putz von den Wänden eines Treppenhauses schabten, der Schlussvers des ersten Sonetts ist der Anfangsvers des zweiten und so weiter. Mich interessierte vor allem das Meistersonett, das sich aus den ersten Zeilen der vierzehn Kranz-Sonette zusammensetzte. Erste Worte! Nun wusste ich, was ich Marsitzky schicken würde! Letzte Worte! Die erste Zeile des ersten Gedichts der mond-schein-parade bildet die erste Zeile meines Gedichts erste worte; die zweite Zeile des zweiten Gedichts der mond-schein-parade bildet die zweite Zeile; die dritte Zeile des dritten Gedichts bildet die dritte Zeile und so fort …

erste worte

unfug mit dem feuerlöscher

oben am jong bösch

peilt gott lotrecht im eimer

komm mal mit mein kleines

duseln nattern durch krummbüsche

steh kopf, schwammenwald!

schwester inge! ihr busen!

deine kleine raupe

Bei den letzten worten verfuhr ich umgekehrt: Die letzte Zeile des letzten Gedichts der mond-schein-parade bildet die erste Zeile, die vorletzte Zeile des vorletzten Gedichts bildet die zweite, die vorvorletzte Zeile des vorvorletzten Gedichts die dritte Zeile – mochte Marsitzky daran verrecken!

letzte worte

deine kleine raupe

oh sagt’s mir wenn ihr’s wisst

très joli! pierre oiseau:

plätten maulwurfshügel maulwurfshügel

nack-tack-tack so dunkel

hat tee in der tube (7 liter und mehr)

oben am jong bösch

unfug mit dem feuerlöscher

Die kleine Raupe beschloss die ersten worte, die kleine Raupe eröffnete die letzten worte, krümmte sich und bildete einen weichen Kreis. «Mit der Zeit gewöhnt man sich an alles», sagte die Raupe; und damit steckte sie die Wasserpfeife wieder in den Mund und schmauchte weiter. Auch der unvorhergesehene, aber durchaus willkommene Umstand, dass die letzte Zeile der letzten worte nicht nur identisch mit der ersten Zeile der ersten worte war, sondern auch – oh, Wunder! – mit der ersten Zeile des Eröffnungspoems der mond-schein-parade, gab den ersten beiden Gedichten meiner Nachkregelphase ein spielerisches, fast magisches Flair. Bestürzt über den Stolz auf diese lyrischen Bastelarbeiten brachte ich sie noch in der Nacht zum Briefkasten. Am Fenster. Schlechtes Wetter. Genau … Ich stehe am Fenster. Ich rieche den Geruch der Wohnung, ein Wasserhahn tropft. Mittlerweile hatte der Wind gedreht, peitschte Regen gegen die Scheibe und machte unser Haus zum Unterseeboot, das sich in einer versunkenen Stadt verfranzt hat; gluckernd füllte sich die Thermoskanne; Zeit verging; Großvater rief an: «Hast du die Lesung gut überstanden?»

«Mehr oder weniger», sagte ich.

«Du hast ausgezeichnet gelesen.»

«Danke.»

«Genieß es doch einfach als Schauspiel!»

«Das sollte man tun», murmelte ich, hatte aber keine Lust, mit ihm über meine literarische Karriere zu reden, erste worte, letzte worte, ich war gespannt, wie Marsitzky meine Spaßpost aufnehmen würde, und hoffte fast, er würde seiner Sekretärin einen kühlen Brief diktieren, so nicht, Herr Fahlmann, eine knappe Mitteilung, die unsere demütigend einseitige Verbindung beendete. «Das sollte ich wohl tun», sagte ich und lenkte das Gespräch mit einem ungeschickten, aber bestimmten Ruck vom Hauptgleis Fürchterliche Lesung auf ein Nebengleis: «Was liest du zurzeit?»

«Vera christiana religio. Eine Schrift von 1771.»

«Du liest religiöse Traktate?»

«Nicht direkt», lachte Großvater. «Das Buch ist kurios. Momentan erfahre ich zum Beispiel, dass es zwei jenseitige Londons gibt.»

«Jenseitige Londons?»

«Ein London der Hölle und ein London des Paradieses. Das ist mit allen Städten so.»

«Soso», bemerkte ich befangen, «das ist ja wirklich kurios.» Ich gab mir Mühe, noch ein wenig mit Großvater zu plaudern, aber irgendwie fehlte mir der rechte Schwung. Als ich auflegte, starrte mich Om fassungslos an. Ich starrte zurück, er ließ sich seitlich umfallen, streckte einen Hinterlauf in die Höhe und widmete sich voller Behagen einer schamlosen Intimhygiene. Ich sah ihm eine Weile dabei zu, ging dann in die Küche zurück, legte die tropfende Filtertüte behutsam auf den Unrat, der den Deckel des Mülleimers anhob, schraubte die Thermoskanne zu und stellte mich wieder ans Fenster. Dahinter ging das Leben weiter: Heinz und Onkel Jörg luden einen leeren Sarg in den Transit, einen Wulstsarg mit gekernter Blattschnitzung in Eiche, altdeutsch, 3.530,– DM, gehobene Mittelschicht. Kürzlich hatte ich Winkler belehrt: «Wenn jemand einen Sarg bestellt, sieht man sofort die Wohnung des Bestellers vor sich.» – «Man kann vom Sarg auf die Wohnung schließen?» Winkler steckte sich einen Zigarillo an. «Klingt logisch.» Konzentriert betrachtete er die glimmende Spitze. «Wie sind eigentlich eure Preise?» Ich berichtete von unserem billigsten Modell, dem Einfachen Kiefernsarg. «Damit niemand auf die Idee kommt, seine Verwandten darin beerdigen zu lassen, haben wir den Sarg im Katalog mit dem listigen Zusatz zur Feuerbestattung versehen. Er kostet 1.228,– DM. All unsere Preise verstehen sich zuzüglich unvermeidbarer Fremdkosten wie städtischer Gebühren (Friedhof, Sterbeurkunde, Träger) und einer Todesanzeige, deren Formulierung mir obliegt. Ich habe einen Ordner angelegt, da steht alles drin – vom simplen Hier ruhen die irdischen Reste meines zu früh entschlafen Gatten bis zum blitzgescheiten Hodie mihi, gras tibi für den Herrn Doktor Schlauberger.