Fahlmann

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Am selben Nachmittag war ich zu Großvater gefahren. «Da habt ihr ihnen ja», lachte er, «ein gigantisches Kuckucksei ins Nest gelegt.» Freudlos bemerkte ich: «Aber es wird kein Kuckuck schlüpfen.» Großvater widersprach heftig: «Du hast zumindest einen Fuß in der Tür, und da dieser Verlag, völlig zu Unrecht, wie ich finde, hierzulande ein großes Ansehen genießt, handelt es sich um einen mächtig großen Fuß! Aber auch», fügte er munter hinzu, «um eine mächtig große Tür.» Ich schätzte seine schrulligen Bemerkungen. Hatte ich als Kind das Wochenende bei ihm verbracht, standen wir vorm Schlafengehen oft auf dem Balkon, bewunderten den Nachthimmel, und ich ließ mir erklären, dass manche Sterne leuchteten, obwohl sie schon vor Jahrzehnten verglüht seien. «Und du wirst auch erst in einigen Jahren wissen», schloss Großvater heiter, «ob ich heute Nacht wirklich neben dir auf dem Balkon gestanden habe.» Darüber lachte ich als Kind, aber heute war Großvater immerhin einundachtzig. Irgendwann würde ich tatsächlich feststellen, dass er nicht mehr da war und sich unbemerkt zurückgezogen hatte. Erst würden die Erinnerungen an ihn schwächer werden, und dann würde ich es nicht einmal mehr merken, dass ich ihn vergessen hatte: Dann wäre er einfach fort. Zusammengesunken hockte er auf dem Stuhl, den Kopf gesenkt. Es bedeutete mir viel, dass er die Strapaze auf sich genommen hatte, zur Lesung zu kommen. Im Gegensatz zu Winkler, den meine Lesungen nicht interessierten. Auch Vater hätte niemals eine Lesung von mir besucht. Er hatte ja nicht einmal zur Abifeier mitkommen wollen. «Da sind zu viele Leute, die ich nicht kenne», meinte er, und so hatte Großvater meine Mutter begleitet. Sie im Abendkleid, er in seinem besten Anzug, und noch heute schäme ich mich für die peinigende Furcht, meine Klassenkameraden könnten in dem alten Mann meinen Vater vermuten. Um Großvater eine Freude zu machen, begann ich das nächste Gedicht mit einem flotten:

struebing struebing struebing

Und los gings:

im wartezimmer des dottore

riskator einer dicken lippe

dann einen ausgehöhlten kürbis als hut

am steuer des edeka-lkws

the kindheit’s gone

where’s the kindheit hin

schwester inge! ihr busen!

oh sagt’s mir wenn ihr’s wisst

– – – where’s the kindheit hin

Klammheimlich hatte sich in diese Zeilen eine gehörige Portion Ernsthaftigkeit eingeschlichen. Ich sah mich in meinem ehemaligen Kinderzimmer auf dem Bett liegen, the kindheit’s gone, ich rauche eine melancholische Zigarette, asche in den Bettkasten, aha, dort hinten sitzt Achim, mit einem Gesichtsausdruck, als hätte er in eine Zitrone gebissen, aber der Feigling hat ja darauf bestanden, nicht als Co-Autor genannt zu werden … schwester inge! ihr busen! … ich bemühte mich, das bezieht sie jetzt natürlich auf sich, die wirkliche Inge im Publikum nicht anzusehen … ihr busen! … scheiße … das machte meinen schönen Plan zunichte … schwester inge! … ihre Hand auf meinem Oberschenkel … ihr busen! … graue Adern marmorieren die blasse Haut ihres zerkratzten Handrückens … schwester inge! … man denkt sich nichts Böses, und scha-matz! steht man bis zum Hals im Fett … zügig:

toodeln wir monde – – – padam!

den nachthimmel in flammen

hinauf und hinab (zoosh dich, marie!)

pompoms seid ihr am cheerleader-bürzel

hussa! kreuzt die quere!

rauscht die nacht!

ich bin nur ein mond auf der walz

deine kleine raupe

Der Schwung des Vortrags riss mich mit. Wie auf Schlittschuhen glitt ich über eine Eisfläche, an deren Unterseite sich leidende Tiefseefische mit geplatzten Lungen pressten. Risse überzogen das Eis, ich wich in eleganten Hopsern nashorngroßen Löchern aus, doch da kippte die Eisplatte, die an einem Scharnier befestigt war, und ich raste kopfüber an der zur Unterseite gewordenen Oberseite entlang, die Lungen voller Eiswasser, die Augen brennend vom Salz. Nach der mond-schein-parade blätterte ich in willkürlicher Betriebsamkeit durch das Buch, machte fünfzig Minuten voll und las zum Abschluss einen Text aus dem Zyklus um Walg Nastranz, einem Zyklus, der in jenen quälenden Stunden entstand, wenn ich am Schreibtisch saß und nichts Brauchbares zustande brachte …

Brahnet obs, Walg Nastranz!

Glinko fretsch parantz nobbicht, emblus kalber, norrigt: «Wolpriert Nastranz, waha, fin gräbbt ober dens sockelt – irf wahlperint nog brobbart.»

«Quanu?», Ertzpil nagrat.

«Ohkars fretsch, Nastranz fretsch», wahat Glinko glibbil.

«Dakat», Ertzpil fropft urf bem kambil nogit.

Glinko nurrbig fralt; Nastranz sembelg tiskut.

Angespannte Gesichter. Niemand lachte.

«Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!»

Und dann kamen die Fragen …

«Wo bekommen Sie Ihre Ideen her?»

Die lass ich mir von einem Versandhaus aus den Staaten schicken, grölte eine erschreckend vulgäre Stimme in meinem Inneren, aber ich antwortete brav: «Das fällt mir einfach so ein.»

«Was ist die Botschaft Ihrer Gedichte?»

Pro Rohkost, contra Hitler! «Die Texte sind die Botschaft», sagte ich.

«Also beziehen Sie sich auf Marshall McLuhan?»

«Ja.» Ich hörte den Namen zum ersten Mal.

«Arbeiten Sie an einem neuen Buch?»

Scheiße, Scheiße, Scheiße … «Ja.»

«Handelt es sich wieder um Gedichte?»

Gott bewahre! «Nein.»

In dieser Art ging es weiter, bis Großvater sich erhob und ein ostentatives Ächzen von sich gab, für das ich ihn hätte umarmen können. Man griff nach Jacken und Handtaschen, in der letzten Reihe erhoben sich zwei ältere Damen, ich steckte Brahnet obs, Walg Nastranz! in die Brusttasche des Flanellhemds, versenkte schWEINe-essIG in der Jutetasche, Feierabend. Nach einer Lesung sind die ersten Schritte in den Raum hinein die schlimmsten: Der Schüler, der sich an der Tafel zum Gespött der Klasse gemacht hat, geht an seinen Platz zurück. Freundliche Menschen verwandelten in einer faszinierend spielerischen Choreographie meinen Tisch in eine Theke und erklärten: «Wir dürfen Ihnen die Flasche leider nicht mitgeben.» Also schlenderte ich mit einem durchsichtigen Plastikbecher hinaus in den Flur zur kniehohen Metallsäule des Aschenbechers, trank warmes Bier, rauchte, hielt nach offenen Hosenläden Ausschau, wären Sie so freundlich, eine Dame mit lilagetöntem Haar wollte mein Buch signiert haben, ich ließ sie mein Bier halten und schenkte ihr einen zitternden Fahlmann. Achim war unauffindbar, die hübsche Vierzehnjährige war verschwunden, andere Frauen, Frauen, wo sind bloß die ganzen anderen Frauen hin, Polkinger beschallte die Anwesenden mit einer kritischen Beurteilung der deutschen Gegenwartsliteratur, wieso muss der Künstler überhaupt zahlen, ich erstand ein zweites Bier, Sauladen, Inge kam auf mich zu, lächelnd, einen Becher Sekt in der Hand.

Sie trug ein verwaschenes, schulterfreies Sweatshirt, Sommersprossen sprenkelten die helle, milchig weiße Haut der Schultern, schwester inge! ihr busen! – bei jeder Bewegung schlingerten ihre, verzeihen Sie mir die Offenheit, geilen Möpse unter dem Stoff. Die Uni, Professor Capart, wir tauschten Belanglosigkeiten aus, Inge ist zu aufgeräumt, um die Busen-Passage auf sich bezogen zu haben, dachte ich erleichtert und fing gerade an, mir Hoffnungen auf einen großartigen Abend zu machen, ich bin verheiratet, wir müssen deshalb zu dir gehen, da gesellte sich der Kerl mit dem Dreitagebart zu uns, der während der Lesung neben ihr gesessen hatte, und legte den Arm besitzergreifend um ihre Taille. Der Angeber hatte die Hemdsärmel bis zur Mitte des Bizeps hochgekrempelt. Sein Hosenladen stand nicht offen. Wieso schaut er mich so merkwürdig an? Darf man denn hier niemandem auf den Latz kucken? Meine Freundin kennt den Kerl. Nur deshalb bin ich hier. Ich musste seine Stimme hören. «Wie fandst du die Gedichte?», fragte ich beiläufig. Er zuckte mit den Achseln. «Nicht so toll?», kombinierte ich beherzt. Inge bedachte mich mit einem entschuldigenden Lächeln.

Danach lief ich in unbeholfenen Achtern zwischen den Leuten umher (Mein Publikum! Mein Publikum!), kippte ein drittes Bier, rauchte weitere Zigaretten und fühlte mich ähnlich verloren wie Onkel Jörg, als er mich zur Verleihung der Van-Hoddis-Medaille nach Berlin begleitet hatte. Ich gab unverfängliche Antworten auf dumme Fragen, begrüßte Bekannte meiner Mutter, wieso ist sie eigentlich nicht, als wären wir allerbeste Freunde, hätte ruhig kommen können, Großvater, wenigstens einem hats gefallen, bedankte sich für den «dreifachen Struebing» und fragte: «Wie fühlst du dich jetzt? Nach der Lesung?»

Ich antwortete: «Spitzbergen.»

Moment, Moment, lassen Sie mich weitermachen! Das wollte ich gerade erklären! Im Wohnungsflur, gegenüber des Garderobenspiegels (Afrika und Europa verschwanden, wenn man sich Mitesser ausdrückte), hing eine Weltkarte. Ich hatte sie ursprünglich für Jens aufgehängt, aber eines Tages begann ich, jedes Land, das eine vertrauenswürdige Person bereist hatte (womit der Beweis für die Existenz glaubwürdig erbracht war), mit einem Kreuz zu versehen. Mutter flog mit einem Bekannten nach La Palma, brachte Fotografien mit, ein Fläschchen Sand – ich malte ein Kreuz auf die Islas Canarias (Esp.). Länder, die ich selbst bereist hatte, z. B. Frankreich oder Schweden, versah ich mit zwei Kreuzen. Mein Problem hieß Spitzbergen. Schon als ich die Weltkarte an die Wand geheftet hatte, war mir Spitzbergen zu groß erschienen. Es lag zu weit nördlich. Selbst die Form war fragwürdig, unpassend, und bald war mein Zweifel an der Existenz Spitzbergens ein Familienscherz geworden. Bestärkt in diesem künstlich erzeugten Spleen hatte mich ein Interview mit Philip K. Dick, worin dieser behauptet: Sie bauen nur so viel von der Welt auf, wie sie brauchen, um einen zu überzeugen, dass es sie (die Welt nämlich) auch gibt. Wissen Sie, das ist wie bei einer Low-Budget-Produktion: diese Länder, von denen man immer liest, wie Japan oder Australien (oder Spitzbergen! ganz besonders Spitzbergen!), die existieren gar nicht wirklich.

 

Da draußen ist gar nichts. Außer man entschließt sich, dorthin zu fahren, und in diesem Fall bauen sie alles schnell auf, die ganze Szenerie, die Gebäude und die Menschen, gerade noch rechtzeitig, dass man sie (die ganze Szenerie, die Gebäude und die Menschen nämlich) sehen kann. Sie (ignorieren sie den Falschbezug!) müssen wirklich sehr schnell arbeiten. Der Interviewer weiß nicht, ob ihn Dick auf den Arm nimmt, aber ich vermute, dass Dick das selbst nicht wusste. Das Publikum soll genauso wenig wissen wie ich selbst, ob ich Spaß mache oder es ernst meine, offenbarte Salvador Dalí einmal, und ich glaube heute, dass es sich mit meinem Spitzbergen-Tick ähnlich verhielt. Natürlich zweifelte ich nie wirklich daran, dass sich dort oben im Polarmeer ein Archipel befand, das aus den vier großen Inseln Spitzbergen, Nordostland, Edgeinsel und Barentsinsel sowie zahlr. kleineren Inseln bestand, auch zweifelte ich nicht im geringsten daran, dass dieses Archipel 1194 von Wikingern entdeckt und 1596 von W. Barentsz wiederentdeckt wurde (im Unterschied zu diesem niederländischen Seefahrer und Kartographen fand ich mein Spitzbergen zwischen Spitzahorn [Acer platanoides] und Spitzbogen), aber gerade weil Spitzbergen (zus. mit der Bäreninsel das norweg. Verw.-Geb. Svalbard) in keinem Lexikon fehlte, gefiel ich mir in der Rolle des Mittelpunkts einer geographischen Verschwörung. Richtig, Euer Ehren! Spitzbergen ist eine Metapher für die, geschwollen ausgedrückt, Vergeblichkeit allen menschlichen Trachtens.

«So schlimm war es doch gar nicht», meinte Großvater.

«Ich hab im Keller lesen müssen. Und keiner hat gelacht.»

«Ich habe gelacht. Was macht eigentlich dein Roman?»

«Der schneckt so vor sich hin.»

Großvater nahm die Brille ab, um damit in der Luft herumzufuchteln, was er nur tat, wenn ihm etwas besonders zu Herzen ging. «Das Tempo spielt doch keine Rolle! Das einzige, was zählt, ist, ob das Buch gut oder schlecht wird.» Er setzte die Brille wieder auf. «Wird es denn gut?»

«Da fragst du den Falschen. Mal halte ich es für extrem schlecht, dann wieder erfüllt mich ein fast peinlicher Stolz. Vielleicht liegt das daran, dass ich viel zu gut über meine eigenen Tricks und Schwächen Bescheid weiß, um mich noch selbst täuschen oder begeistern zu können. Ich finde das, was ich schreibe, weder spannend noch überraschend, obwohl ich die Leser damit fesseln und überraschen will. Ich schreibe eine Passage, die witzig sein soll, aber bereits beim Überarbeiten geht sie mir auf den Keks und kommt mir dumpf und abgeschmackt vor. Und ich wiederhole mich! Ich sage nur: Lieblingswörter! Manche verwende ich so exzessiv, dass ich das Knochenkotzen kriegen könnte. Und der Satzbau! Der ähnelt sich immer. Schreiben ist ein Herumpuzzeln mit Teilen, die man nur undeutlich sieht, ein Jonglieren mit glitschigen Puzzlestücken, die einfach nicht zusammenpassen wollen. Aber ich übertreibe. Ein überschätzter SF-Autor hat den Schriftsteller mal mit einem Tänzer in einem chinesischen Papierdrachen verglichen. Alle sehen einen wunderschönen Drachen durch die Straßen ziehen, aber der Tänzer im Inneren des Drachens sieht lediglich das Holzgestänge, das unbemalte Papier, das Pappmaché und den Arsch des Vordermanns.» Mister Mundgeruch steuerte auf uns zu, ich lächelte mild und drückte ihm, ehe er Verdacht schöpfen konnte, mein Tütchen hosentaschenwarmer Eukalyptusbonbons in die Hand. Abermals bewegten sich alle durch den Raum wie die allegorischen Figuren einer barocken Rathausuhr. Großvater trieb davon. Polkinger schob sich mir in den Weg und erklärte, mein größtes Talent sei das ironische Zitat. Es gibt außer dem Motto kein einziges Zitat in dem Gedichtband, du Kretin! «Mir hat Ihre Lesung gut gefallen.» Suuuper! «Wie schade, dass ich nicht kommen konnte», hörte ich Professor Capart ausrufen, und wieder geriet der Raum in Bewegung. Mein Publikum glitt wie auf Schienen dahin – and I awoke and found me here on the cold hill’s side.

Immer öfter stand ich alleine da, alleine im Raum, erschrak, wieso stehe ich alleine da, alleine im Raum, gab mir einen Ruck, Mut, Mut, näherte mich einem diskutierenden Grüppchen, der Paristeil ist der Hit, und prahlte, mit meinem Jugendfreund Marcus Schlumpf-Fallen im Wald gebaut zu haben. «Kleine, mit Reisig abgedeckte Gruben auf den mutmaßlichen Handelswegen der Schlümpfe.» Staunen. «Die Schlümpfe habens übrigens in sich!», erzählte ich einem irritierend aufmerksamen Herrn. «Sie tragen die Phrygiermütze der Jakobiner und dazu kurze Hosen. Sansculotten, Sie verstehen! Kennen Sie die Geschichte dieser Mütze? Das Antike Phrygien ist Ihnen doch sicherlich ein Begriff. Die Astronomen im Land des sagenhaften Königs Midas trugen gegerbte Stier-Hodensäcke auf dem Kopf. Aber jetzt muss ich mir noch ein Bier holen.» Je später es wurde, desto häufiger zog ich mich mit einem «Bester Alles!» aus Gesprächen zurück, die sich wie eine Schlinge um mein Denken zu legen drohten, manchmal rief ich aus: «Seltsam, aber so steht es geschrieben!» und, wenn ich mich recht entsinne, erzählte ich sogar Witze. Ein Ameisenbär geht ins Bordell, die Frau sitzt gerade in der Badewanne, da klopft der Klempner an der Tür. Und Bier. Viel Bier. Bier macht alles einfacher. Bier ist der flüssige Gott. Das ist heute auch noch so. Mit einem kleinen Unterschied. Damals musste ich, wenn ich zu viel getrunken hatte, auf der Couch schlafen und mich mit der Katzendecke zudecken. Heute kann ich so viel saufen, wie ich will, und keiner macht mir Vorhaltungen. Filmriss. Eine durchsichtige Jasmin setzte sich neben mich auf die Rückbank des Taxis. «Sie werfen ja gar nichts mehr ein», hatte sie bei meinem letzten Besuch in der Bäckerei Gallinger gesagt. Wir betrachteten die verplombte Sammelbüchse auf dem Tresen. «Das hab ich völlig vergessen!» Ich schlug einen scherzhaften Ton an: «Irgendwas muss mich hier wohl teuflisch ablenken.» Sie verstand nicht, ich sah an ihr vorbei in die Backstube: Unter riesigen Nudelhölzern hing ein kreisrundes Mehlsieb, das ein Draht-X in vier gleiche Teile schnitt; in einem Metalltrog lauerte eine zähe, klebrige Teigmasse; geräuschlos schloss jemand die Backstubentür von innen. Liebe Jasmin!, schrieb ich nach der Lesung heillos betrunken am Wohnzimmertisch.

Sie kennen mich nicht, ich kenne Sie nicht. Ich weiß nur, wie Sie aussehen – in dieser gequälten Art ging es weiter, bis der Brief in dem markerschütternden Aufschrei gipfelte: Was für ein Mensch bist Du? Für mich unbemerkt war ich beim Schreiben zum Du übergegangen, egal, ich faltete das Blatt, küsste es und steckte es in einen frankierten Umschlag. Darauf schrieb ich: Jasmin Rimbach und die Adresse, die Heinz mir besorgt hatte. Und was für ein Mensch war ich? Ich klappte das Notizbuch auf und schrieb: Ich bin ein peinlicher Wichtigtuer, der jedem erzählt, der Große Schlumpf sei die Apotheose der Französischen Revolution. Ich bin einer, den das Urteil zweier Unbekannter auf einer VHS-Toilette an den Rand des Wahnsinns treiben kann. Jemand, der Inge gerne einer vielleicht noch minderjährigen Bäckereimieze glühende Liebesbriefe schreibt. Nein, ich würde den Brief nicht abschicken, durfte es nicht tun, auf gar keinen Fall. Ich legte mich auf die Couch, war hundemüde, aber kaum hatte ich mir Oms Decke bis zum Kinn hochgezogen, sah ich Großvater verloren inmitten meines Publikums sitzen und war wieder hellwach. Wieso hatte ich mich nicht länger mit ihm unterhalten? Und wieso hatte ich ihn mitten im Gespräch stehen lassen? Irgendwie machte ich alles falsch. Und natürlich warf ich den Brief am nächsten Tag in den Briefkasten.

6Heinz hatte dem Sattel der Vespa einen Müllsack übergestülpt: eine schlaffe Mütze, deren Zipfel traurig bis zum Hinterrad hinabhing. Trübes Unterwasserlicht erfüllte den Hof. Das Notizbuch lag auf der Fensterbank, daneben bewunderte eine dampfende Tasse ihr Spiegelbild, das unter einem beschlagenen Fleck auf der Scheibe schwamm und gelegentlich empor zu meinem durchscheinenden Gesicht schwebte. Hinter Phantomtasse und Phantomgesicht schraffierte schräger Regen den Luftquader zwischen Haus und Beerdigungsinstitut. Heinz und Onkel Jörg waren nicht zu beneiden! Den Kopf gesenkt, damit ihnen der Regen nicht in die Augen schlug, luden sie leere Särge in den Transit, fuhren davon, kamen wieder, trugen volle Särge ins Lager, und jedes Mal, wenn das Knirschen der Autoreifen ihr Kommen ankündigte, trat ich einen Schritt in den Raum zurück: Um diese Zeit brauchte mich niemand am Küchenfenster zu sehen. In drei Stunden käme Jens aus der Schule, und noch immer hatte ich mich nicht dazu aufraffen können, nach oben zu gehen und mit dem Schreiben zu beginnen. Das lag an diesem Morgen natürlich an den Nachwehen der Lesung.

Vorhin, nach dem Frühstück, hatte mich Susanne gefragt, wie es gelaufen sei. Ich antwortete: «Ganz in Ordnung!», aber sie wollte es genau wissen und bedachte mich mit ihrem speziellen Du-kannst-mir-ja-viel-erzählen-Blick. «Die Lesung war ganz in Ordnung», gab ich klein bei. «Bis auf die Gedichte. Bis auf die Leute. Bis auf die Lesung.» Mein Lachen klang gequält. «Großvater war auch da. Ich muss ihn nachher anrufen. Irgendwie hab ich ihn im Getümmel aus den Augen verloren.» Jens war im Badezimmer, kristallklares Blassblau, das Licht der Küchenlampe fiel in Susannes Augen, brachte die Iris zum Leuchten. Fast andächtig bewunderte ich die Strahlenkränze dunkler Linien, die an die dichte Speichenharfe eines Fahrrads erinnerten. «Du hast schöne Augen», sagte ich, strich ihr die Haare aus der Stirn, Susanne umarmte mich, das kam für uns beide unerwartet, wir hielten uns umschlungen, ich spürte ihren Herzschlag an meiner Brust und vergrub das Gesicht in frisch gewaschenem Haar. «Wie hast du geschlafen?», flüsterte Susanne neben meinem Ohr. «Geht so», log ich. – «Ich hab dich gar nicht ins Bett kommen gehört.» – «Es war spät.» – «Schreibst du heute?» – «Ich werds versuchen», sagte ich, bezweifelte aber, dass es nach dieser Nacht klappen würde. Die Vorstellung, im Kopf fremder Menschen ein dubioses Schattendasein zu führen, hatte mich bis vier Uhr früh wachgehalten, dann erst war der Schlaf gekommen: in kurzen, flüchtigen Stippvisiten. Immer wieder erwachte ich, sah auf die Uhr, geisterte durch die Wohnung, Susanne schlief, der Brief an Jasmin lag gut versteckt unter dem Fußabstreifer, Jens schlief, und selbst Om hatte sich am Fußende des Kinderbetts zu einer schwarzen Pelzkugel zusammengerollt, deren Ohren unwillig zuckten, wenn ich neidisch ins Zimmer spähte. Und nun war ich endlich alleine. Den Brief hatte ich vorm Frühstück eingeworfen. Morgen bekäme Jasmin Post von einem anonymen Verehrer.

Susannes Bademantel hing über dem Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, stützte sich mit schlaffen Ärmeln auf den Fliesen ab; die Spüle bog sich unter schmutzigem Geschirr; ich bückte mich nach der Zeitung, der beim Sturz auf den Fußboden die Eingeweide in Form bunter Hochglanzprospekte aus dem Bauch gequollen waren. Rote Marmeladensiegel übersäten die Tischplatte. Jens hatte den Rest seines Brötchens zu kleinen Stückchen zerpflückt, damit keinem auffiel, dass er kaum etwas gefrühstückt hatte. Er konnte ja nicht ahnen, dass sein Vater die butter- und marmeladeverschmierten Teile auf dem Teller zu einer fast kompletten Brötchenhälfte zusammensetzen würde! Wenigstens hat er seinen Kakao ausgetrunken. Die Mohrenkopfbrötchen seines geschäftstüchtigen Hausmeisters verfluchend, stellte ich mich wieder ans Küchenfenster, ich, der Verfasser eines von der Kritik kübelweise mit unverdientem Lob überschütteten Gedichtbands, ausgebrannt, müde, ohne Energie zum Schreiben anspruchsvoller Prosa. Hoffentlich dachten diese ernsten Menschen, die mir gestern so andächtig gelauscht hatten, nicht mehr an mich! Sie haben mich schon vergessen, sagte ich mir, ich verblasse in ihren Gedanken wie das Gegenteil einer Polaroid-Fotografie. Dennoch fühlte ich mich, wie man sich wahrscheinlich fühlt, wenn man eines Tages feststellt, seit seiner Geburt ein Bewohner Spitzbergens zu sein. Ich steckte eine Zigarette an, die nicht schmeckte, und blätterte hinten im Notizbuch, wo ich Zitate aufgeschrieben hatte wie: Und dann will es mir scheinen, als ob man uns doch zu viel zugemutet hätte, als ob wir uns niemals so recht von Herzen mehr freuen könnten. Diese Sentenz stammt von einem deutschen Literaten und Helmsammler, dessen Namen an der Uni zu nennen akademischem Selbstmord gleichgekommen wäre. Das zweite Fundstück, das ebenfalls zu diesem Tag zu gehören schien, hatte Pessoa seinem traurigen Lissabonner Hilfsbuchhalter Bernardo Soares in den Mund gelegt: Wie Diogenes den Alexander habe ich das Leben nur gebeten, es möge mir aus der Sonne gehen. Ich bewegte mich in Gedanken um diese Sätze herum, zu viel zugemutet, aus der Sonne gehen, Hügel, Inseln, ich füllte die Zwischenräume mit Sand, bis die Gipfel der beiden Sentenzen (Worte wie Herzen oder Sonne) verschwunden waren und sich die Wüste einer existentiellen Traurigkeit in die Küche hinein erstreckte. Existentielle Traurigkeit. Das steht wirklich im Notizbuch. Ohne Anführungszeichen, wie so oft ohne Quellenangabe, vielleicht sogar von mir, beziehungsweise von einer früheren Version meines Ichs, einem flüchtigen Bekannten, den ich bereits vor langer Zeit aus den Augen verloren hatte.

 

Schon damals glitschte mein Charakter aus den zupackenden Händen wie ein Aal: Einerseits beklagte ich die Ereignislosigkeit meines Lebens, andererseits wünschte ich mir, ohne mir dessen bewusst zu sein, nichts sehnlicher als eben diese Ereignislosigkeit. 1. Es ist, als schöbe sich eine Glasplatte zwischen mein Ich und mein Ich. 2. Ich bin derjenige, auf dessen Seite sich der Beobachter (ich) zufällig befindet. 3. Mein Ich pendelt zwischen gegensätzlichen Polen hin und her, und doch bin ich nicht das Äquatorische, das dazwischen liegt, sondern zum Zeitpunkt A bin ich X (A), und zum Zeitpunkt B bin ich X (B). 4. Es ist gefährlich, zu lange über sich selbst nachzudenken, Ausrufezeichen, Tinte trockenpusten, Notizbuch zu. Das Ich ist eine Falle in einem selbst.

Meinen Freunden verschwieg ich solche Überlegungen (gefährlich in ihrem weinerlichen Pathos und ihrer Banalität). Wir fanden es ungehörig, das eigene Seelenleben voreinander umzustülpen wie einen Gummihandschuh. Wie hätten sie wohl auf solche Offenbarungen reagiert? Achim hätte gelacht, und Winkler hätte meine Bekenntnisse ungerührt zur Kenntnis genommen und mir dann übergangslos von seinem neuesten literarischen Projekt berichtet: «Es geht um belebtes Geschirr …» Oder er hätte Übergescheites zum «Topos des Doppelgängers» abgelassen, um dann die Handlung eines indizierten Splatterfilms zu referieren, wo man mit bloßer Gedankenkraft Gehirne zum Platzen bringt und mit herausbaumelnden Augäpfeln, aufgeschlitztem Unterleib und behängt mit schillernden Eingeweidegirlanden ein hysterisch kreischendes Blondinchen in der Badewanne heimsucht, um sie unter heftigen Blutstürzen mit safrangelbem Eiterstrahl zu schwängern.

In der Zeit vor meiner erzwungenen Abreise nach Paris traf ich mich hauptsächlich mit Achim und Winkler. Winkler kannte ich erst seit zwei Jahren, Achim seit frühester Kindheit. Er hatte zwar nur drei Straßen weiter gewohnt, aber unsere Freundschaft begann erst, als wir im Grundkurs Physik nebeneinander saßen und gleichwenig von den Formeln verstanden, mit denen Dr. Bostel die Tafel füllte; nichts vermag Menschen enger aneinanderzuschweißen als Nichtwissen. Außerdem gaben wir uns beide gerne die Kanne, Achim vertrug angeblich «vier Liter aufwärts», und eines Abends erlaubte ich ihm, mich in Mollingers Eck zu begleiten, in meine nahe Stammkneipe, die einer bushaltestellenlosen Seitenstraße voller Eisenwarenhandlungen und chemischer Schnellwäschereien das Recht auf Existenz verlieh. Mit diesem Besuch begann ein neues Kapitel meines Lebens. Achim hatte nicht geschwindelt, er vertrug tatsächlich so viel wie ich, trank nicht zu schnell, nicht zu langsam, und er quasselte keinen Schwachsinn, wenn man seine Ruhe haben und nur dumm herumkucken wollte. Von nun an trafen wir uns jeden zweiten Abend in Mollingers Eck, was die langweiligen Wochen unseres frauenlosen Kosmos angenehm rhythmisierte. An den übrigen Abenden vermieden wir es gewissenhaft, Alkohol zu trinken, und so verging die Schulzeit. Dann wohnten wir zusammen und tranken «an den Abenden dazwischen» sauren Weißwein von der Tankstelle, einen Wein, den vernünftige Menschen nicht mal zum Kochen verwendet hätten. Bei einem dieser Abende in unserer WG-Küche, wo zur Freude aller Besucher ein dichter Schimmelbart unter der Spüle wucherte, hatte Achim lallend verkündet, sein Biologiestudium zu schmeißen, um mir ab sofort «im Simpelstudiengang Germanistik» Gesellschaft zu leisten. Sind die Rahmenbedingungen unserer Freundschaft überhaupt wichtig? Ich denke nicht. Wichtig sind allein die großartigen Abende in Mollingers Eck! In spätpubertärer Begeisterung für Chandler hatten wir Molli überredet, Cocktails zu mixen, und nach anfänglichen Protesten wie: «Nur Schwule und Flittchen trinken so ein Klebzeugs!» wurde es eine Selbstverständlichkeit, einen Gimlet oder Whiskey Sour bestellen zu können, ohne schief angesehen zu werden: eine willkommene Abwechslung zwischen den Bieren!

Molli zapfte ein wunderbares, eiskaltes Bier, das Glas beschlug in der Hand, perfekte Schaumblume sowieso. Würde mir hier jemand ein derart gezapftes Bier servieren, ich bräche in Tränen aus. Der Name «Molli» ist übrigens irreführend. Unwillkürlich sieht man einen dicken, schlampigen, vermutlich unrasierten Mann in verdrecktem Rollkragenpulli und abgewetzten Cordhosen vor sich, aber bei dem wirklichen Molli handelte es sich um eine dünne, alterslose Erscheinung mit Stirnglatze und Nickelbrille, die man eher in einem Bioladen vermutet hätte als hinter dem Tresen einer Vorstadtkneipe mit Kegelbahn. Ich erinnere mich noch gut, wie liebevoll er die Glasränder mit frischgepresstem Limettensaft befeuchtete, bevor er sie in die weit aufgerissene Zuckerpackung tauchte. Das Rasseln der Eiswürfel im Shaker war ein vertrautes Geräusch in Mollingers Eck, und zwischen den Bieren genehmigten wir uns immer mal wieder einen Cocktail und behielten diese liebenswerte Tradition auch bei, als ich Achim und dem sauren Wein Adieu sagte und mit Susanne (und irgendwie auch mit Jens) in das Haus meiner Eltern zurückkehrte. Da wir gerade bei den Saufgeschichten sind: Jedes Jahr am 26. März traf ich mich mit Achim bereits nachmittags in Mollingers Eck, und um Schlag fünfzehn Uhr fünfzig begossen wir Chandlers Todestag – es geht doch nichts über gute Anlässe zum sanktionierten Trinken! Soupault berichtet, Joyce habe neben Hochzeitstag, Lichtmess, Heilige Drei Könige und Weihnachten auch die Publikationsdaten seiner verschiedenen Werke gefeiert. Wäre außer schWEINe-essIG etwas anderes von mir erschienen, etwas Ordentliches, Ernstzunehmendes, ein Band mit Erzählungen vielleicht, ein Roman, hätte ich liebend gerne auf diese Anregung zurückgegriffen, aber das Erscheinungsdatum eines Buchs zu feiern, in dem kaffeetasse johann zirpt im kaltbach steht, war wie in Hundescheiße zu treten und sich dabei wohlzufühlen. Und nun ist es höchste Zeit für einen Abstecher zu Molli.

«Noch ein Bier?», hatte Achim zwei Wochen vor der Lesung gefragt, der nun, nachdem er in rascher Folge drei WG-Mitbewohner verschlissen hatte, wieder sein altes Kinderzimmer in der Vorstadt bewohnte. «Gimlet?», fragte ich. Achim dachte nach. «Gimlet?», fragte ich wieder. «Noch ein Bier und dann nen Gimlet?», schlug er vor. «Okay», sagte ich. «Erzähl weiter! Was machen die Frauen.» Achim hatte Pech mit Frauen, seit wir befreundet waren. Zurzeit lief er einer Achtzehnjährigen hinterher; er würde sie nie erreichen. «Ich sitze mit ihr zusammen und stelle sie mir unentwegt nackt beim Squashspielen vor», gestand er flüsternd. «Wieso beim Squashspielen?», fragte ich. «Wieso nackt?», gab er zurück, und diese spaßhafte Bemerkung verriet mehr über ihn, als er ahnte. Erst kürzlich hatte ich Susanne gesagt: «Der hat sich schon so oft mit der Kleinen getroffen, dass jede Berührung unmöglich geworden ist. Sie erzählt ihm in irgendwelchen überfüllten Schülerkneipen von ihren Lehrern, ihren Eltern, von ihrem jüngeren Bruder, was für Musik hörst du, was sind deine Hobbys, und über diesem ganzen Geplapper wird jede Berührung unmöglich. Wenn sie zum vierten Mal nebeneinander im Kino sitzen, kann er ihr nicht mehr zufällig die Hand aufs Bein legen. Wenn sie zum zehnten Mal nebeneinander durch die Stadt gehen, kann er nicht mehr nach ihrer Hand greifen! Der Zug ist abgefahren.» Es passte also ins Bild, dass Achim die Vorstellung ihrer Nacktheit gleichermaßen beunruhigte wie belustigte, und so, wie ich die Lage einschätzte, würde er mir bald von einer neuen Schnalle berichten, bei der er sich große Chancen ausrechnete, und der ganze Zirkus ginge von vorn los.