Fahlmann

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«In jener Zeit war mein Freund Nägele in eine kleine Verkäuferin verschossen …» Während Bahlow konzentriert referierte, zupfte er an der Oberlippe und ließ zu, dass das Zupfen wie ein Faden in der Zeit zurücklief, um ihn, Valdskys Nachfolger, mit dem Ägyptologen Bilderbeck zu verbinden. An diesen, nennen wir ihn ruhig einmal, Bilderbeckschen Faden war unter anderem ein, wir müssen hier leider so vage sein, dünnerer Faden geknotet. Bahlow prüfte die Festigkeit des Knotens und hangelte sich sodann an diesem dünnen Faden viele Jahre zurück, bis er jene sonntäglichen Strandspaziergänge erreicht hatte, diese raren Stunden, die sein Vater dem Sohn zu opfern bereit gewesen war; doch auch dann redete Vater nur über Politik. Damals hatte Carl es sorgsam vermieden, in fremde Fußspuren zu treten. Einmal nämlich war vor ihnen eine dicke Dame gelaufen; mit jedem Schritt hatte Carl die Füße in ihre tiefen Fußabdrücke gesetzt; und auf einmal füllten Rezepte seinen Kopf, und er roch die schweißigen Ausdünstungen des Fuhrknechts, der sich immer zu ihr in die Küche zwängte, sobald die Herrin das Haus verlassen hatte. Quietschend sprang Carl aus der Spur (sein Vater bedachte ihn mit einem tadelnden Seitenblick) und ging von nun an nur noch in jungfräulich glattem, unberührtem Sand, bückte sich nach Muscheln, fand Hühnergötter und lauschte den langatmigen Monologen, während satte Möwen auf der kabbeligen Ostsee auf- und niederwippten. Mit der Kleinen stimmte etwas nicht; Bahlow zog die Oberlippe lang. «Meist saßen wir in seiner Dachstube und tranken Wein. Ich erzählte vom Studium, und Nägele beklagte sich, kein Verleger sei bereit, seine Grausamen Vignetten zu drucken.» In der Jackentasche fand Bahlow eine Sicherheitsnadel. Er öffnete sie und stach sich damit tief in den Handballen, um wieder klar denken zu können. Erst taufte Valdsky ihn mit Sherry – dann mit Blut. Nun würde er endlich mit den Nachforschungen beginnen! Das war er Valdsky schuldig! Bahlow unterbrach den Bericht, in den sich gegen Ende sogar persönliche Anekdoten (Vater wirft Stein ins Meer, Tod einer Möwe) und abenteuerliche Mutmaßungen (heißes Wetter, äußerst geringe Lebenserwartung) eingeschlichen hatten, und fragte unschuldig: «Was ist denn eigentlich aus dem Missionar geworden?»

«Sie reden von Valdsky?»

«Ein Freund kannte ihn, nun ja, was heißt ein Freund, eher ein flüchtiger Bekannter. Mich interessiert es natürlich auch, da ich, wie Sie vielleicht wissen, Sherrys Hütte bewohne.»

Amüsiert nahm von Geinitz eine Zigarette aus einem, wie Bahlow neidisch bemerkte, ungewöhnlich prachtvoll ziselierten Silberetui und sagte: «Ich mochte Valdsky nicht. Wir hatten, ehrlich gesagt, gewisse Meinungsverschiedenheiten, aber das hat Ihnen Frau Hennig sicherlich schon berichtet. In der Valdsky-Angelegenheit bin ich also der allerletzte, der Ihnen weiterhelfen könnte. Er ist einfach verschwunden. Morgens war er noch da, sang den Negern seine frommen Liedchen, und dann, tja, dann war er nicht mehr da. So geht das am Tendaguru.» Das Aufglimmen der Zigarette belehrte Bahlow in der schonungslos ehrlichen Glutsprache des Tabaks, wie vergebens, lästig und schamlos seine Nachforschungen waren. «Vielleicht ist er in den Dschungel hinausgegangen, um die Affen zu bekehren», sagte von Geinitz, aber anstelle von Rosenkranz betenden Schimpansen strömten ihm zwei Rauchfäden aus den Nasenlöchern und schoben sich am Schnurrbart entlang, um dessen aufgezwirbelte Spitzen ins Geisterhafte fortzusetzen. «Ist möglicherweise wahnsinnig geworden, der Gute. Würde mich jedenfalls nicht wundern. Wer, sagten Sie, kannte Valdsky?»

«Ein Freund.»

«Ein Freund aus Kiel oder Berlin?»

Bahlow wollte «aus Marseille» antworten, doch ehe er das tun konnte, riss ein vernünftig gebliebener Teil des Verstandes, ein verzweifelter Souffleur, der das Gespräch mit wachsender Sorge mitlas, das Moskitonetz des Fiebers beiseite. «Ich habe etwas für Sie!» Armrudernd stürzte Bahlow davon. Nicht afrikatauglich, freute sich von Geinitz und sah dem Entomologen hinterher, der als schwerfällige Drontenimitation in Valdskys Hütte verschwand. Stellte er es geschickt an, nannte ihm der Trottel seinen oder seine Auftraggeber. Es war von Geinitz ein Rätsel, wieso man nur Versager schickte. Erst Valdsky, dann diesen dicklichen, fleischgewordenen Fieberwahn, und der blitzgescheite Bilderbeck war auch ein Schlag ins Kontor! Zustimmend verlosch die Zigarettenkippe auf dem Gescheide. «Ich habe den Umschlag schon in diesem Zustand erhalten», übte Bahlow derweil in der Hütte, dachte: Post, Brief, mein Freund ist der Süd-Monsun, raus aus der Hütte, Brief, nur nicht ablenken lassen, Post, barbusige Weiber, Mädchen, Kinder, «der Brief war schon aufgerarrgrhh!» Bahlow erbrach einen Schwall bitterer Flüssigkeit an die Hüttenwand, Post, stand wieder vor dem Sicherheitsbeauftragten. «Hier! Ich habe diesen Brief …»

Von Geinitz nahm den speckigen Umschlag entgegen und versenkte ihn kommentarlos in der Tasche. «Sie sind Außenagent der Firma?»

«Staudinger & Bang-Haas», bemerkte Bahlow müde.

«Wo haben Sie geschlafen?»

«In meiner Hütte.»

«Sie wissen genau, was ich meine!»

«Der Brief war schon offen. Dieser Mann hat ihn mir …»

«In Lindi. Wo haben Sie in Lindi geschlafen?»

«Oh, sehen Sie nur, da ist Salinski!», rief Bahlow und fuhr erleichtert fort: «Ein Kollege! Er: die Schmetterlinge! Ich: die Käfer!» Hysterisches Gelächter ausstoßend, rannte er auf den Lepidepterologen zu und packte dessen Hand. «Guten-guten Morgen!»

«Na, haben Sie Freundschaft geschlossen?», fragte Salinski.

«Hat eine Antilope geschlachtet», ächzte Bahlow mit mädchenhaft zum Himmel verdrehten Augen. Fürchterliches Blutbad. Beobachtet er mich? Nein. Was tut er? Er beaufsichtigt einige Träger. Weshalb? Sie schleppen das erlegte Wild ins Fleischzelt. Kein Wunder, dass Sie Schwierigkeiten mit ihm haben! Ich habe keine Schwierigkeiten mit von Geinitz. Ach … Bahlow starrte Salinski an: Der Lepidopterologe trug einen schwarzen Homburg. Verlegen nahm Bahlow den Tropenhelm ab.

«Sie behalten den Helm besser auf.»

«Sie machen sich über mich lustig!»

«Nein. Wieso sollte ich?»

«Weil … weil mein Helm … mein …» Ein ausgemergelter Hund beschnupperte eine Hüttenwand. Bahlow wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. Vielleicht ist noch etwas Kaffee vom Frühstück übrig, damit ich den säuerlichen Geschmack loswerde. «Auf zum Pavillon!», rief er. «Doktor Hennig erwartet mich sicherlich zur Führung!»

Als sich die beiden Insektenfreunde dam Pavillon auf Hörweite genähert hatten, glaubte ihnen Janensch eine Freude bereiten zu müssen, indem er in unschuldigstem Plaudertone anmerkte, er habe nie verstanden, was denn so außergewöhnlich an Herrn Cooks Entdeckungsreisen sei. Hennig schnappte daraufhin so entgeistert nach Luft, dass die beiden angeleinten Meerkatzen, die auf der Reling des Pavillons hockten, erschraken. Die Affen waren Bahlow aus Hennigs Korrespondenz mit dem «Mausebärchen» wohlbekannt. So wusste Bahlow, dass die «possierlichen Gesellschafter», die «der herzensgute» Salinski mit einem Milchfläschchen großgezogen hatte, stets zu «wahren Max- und Moritz-Streichen» aufgelegt waren, doch die mehr als körperlangen Greifschwänze, die beeindruckenden Backentaschen und die unbehaarten Gesäßschwielen, zwischen denen sich lederne Hodensäcke an das Geländer des Pavillons drückten, hatte der zimperliche Hennig seiner Braut vorenthalten. Die Meerkatzen staunten Bahlow nicht schlecht an (er nahm sich vor, das Geländer nur zu berühren, wenn es unumgänglich war), doch dann entdeckten sie den in seinen Bart schmunzelnden Salinski und begannen aufgeregt zu schnattern. Aber dieser durfte ihnen nicht antworten, wie es sich für einen herzensguten Affenvater ziemte, da Janensch den beiden Neuankömmlingen gestisch bedeutet hatte, sich eine Weile ruhig zu verhalten, um Hennigs Replik abzuwarten, die beeindruckend enthusiastisch auszufallen drohte. «James Cook», hub Hennig mit bebender Stimme an, «stieß bewusst ins völlig Unbekannte vor, um Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines möglichen sechsten Erdteils zu ergründen und den gesamten pazifischen Raum zu erschließen. Rund 200 Jahre hindurch hatte dieser riesigste Ozean», die Meerkatzen zerrten an ihren Leinen, «nach Entdeckung und Eroberung Amerikas den Spaniern nur eine schmale Brücke hinüber zu den Philippinen bieten können. So ungemein», ausgelassenes Zetern, «war man im Zeitalter des Segelschiffs auf bestimmte Meerkatzen, äh, Meeresströmungen und Windverhältnisse der Tropen angewiesen, dass ein Abweichen von der Normalroute zum schweren Wagnis wurde. Wassermangel und Skorbut, durch einseitige Ernährung an Bord, zwangen darüber hinaus, bei der möglichen Fahrtgeschwindigkeit die Reisedauer zwischen bekannten Häfen aufs Äußerste abzukürzen, und erlaubten keine zeitraubenden und lebensgefährlichen Erkundungsversuche.» Mittlerweile sprangen die Meerkatzen in fassungsloser Pein auf und ab, doch Hennig sprach weiter. Die Rede schien Bahlow eine Spur zu glatt und wohlformuliert zu sein.

Unbehaglich suchte er Salinskis Blick, doch der betrachtete mit erschlafften Gesichtszügen die Stiefelspitzen und schien entweder daran zu leiden, die Affen nicht begrüßen zu dürfen, oder Zeuge eines heimtückischen Scherzes zu sein. Bahlow ließen solche Nöte unbeeindruckt. Wahrscheinlich hatten sie ihm die lange Seefahrt nur vorgegaukelt, versetzten Nahrung und Trinkwasser mit Opium, verschleierten seine Sinne, um ihn so in einem überheizten Käfig halten zu können, vor dessen Gitterstäben emsige Täuscher Kulissen mit Dschungelansichten und großartigen Panoramen (die Mbemkuru-Niederung, die Obstgartensteppe, die Arschklunse) bewegten. «Auch dann noch blieben Gefahren einer Abhängigkeit von der Umwelt, von der erst eigene Krafterzeugung des Dampfmaschinenzeitalters befreien konnte», predigte der Schauspieler weiter, den man engagiert hatte, um in die Inszenierung von Bahlows persönlicher Hölle das Element der Langeweile einzubringen. «Was vermochte den gefährlichen Stürmen zu trotzen? Mut, Kraft, Erfahrung und Geschicklichkeit! Und unvermeidliche Opfer wurden so wenig gescheut, wie beispielsweise im nicht unbedingt lebenswichtigen Alpensport.» Die nicht nachvollziehbare Erwähnung des Alpensportes belustigte Bahlow, aber ehe er eine pointierte Bemerkung einwerfen konnte, zog ihn Hennig wieder aufs Schiff. Breitbeinig auf der Brücke stehend schwenkte er – «Männer, wollt Ihr mit mir fahren?» – den verlausten Dreispitz. «Windstille konnte jederzeit unüberwindbare Gefahr bedeuten», unterbreitete er sodann der Mannschaft, die aus zwei bis zur Selbstentäußerung erregten Meerkatzen bestand, «entfiel zum Beispiel die einzige Kraftquelle …» Hennig brach ab und murrte: «Sie ziehen mich auf! Sie wollen mich bloßstellen!»

 

«Aber nein», sagte Janensch. «Ich doch nicht! Sehen Sie nur!»

Hennig drehte den Kopf, erblickte Bahlow und Salinski und fiel fast vom Stuhl, sofern Stühle im Pavillon stehen. Falls nicht, drehte Hennig den Kopf, erblickte Bahlow und Salinski und fiel fast von der Kiste. Aber wahrscheinlich erblickte er sie und fiel fast vom Stuhl. Sie haben sich bestimmt Stühle zimmern lassen. Keine schönen Stühle, aber man saß recht bequem darauf.

«Wir stören nur ungern», murmelte Salinski und gesellte sich zu den Meerkatzen, die sich an seinen fülligen Leib schmiegten und ihm in den dichten Bart fassten. Der Niptus hololeucus nahm die Brille ab und legte sie seufzend neben die zum Gebet gefalteten Glacéhandschuhe; und wieder bewegten sich die Kulissen. Die Affen sind eine Leihgabe des nahen Tierparks, ganz gewiss, und diesen windschiefen Pavillon hatte man im von Herderschen Garten lieblos zusammengezimmert. Aber wer leitet diesen Rachefeldzug, wenn nicht von Herder selbst? Aus weiter Ferne, das Lenken des Tropenhelmexpresses kaum beeinflussend, erreichten Bahlow Willkommensrufe. «Hoho! Unser Käferologe! He-ho!» Janensch fuhrwerkte mit dem Schlapphut herum, ich kann ihn gerne zurück nach Lindi bringen (Salinski), vielleicht ist das nicht nötig (Hennig), Sie haben recht, geben wir ihm noch einige Tage (Janensch), heh-hoh (der Schlapphut), hör auf, Du! Sie wollen ihn heute herumführen? Das hatte ich eigentlich vor – oder halten Sie das für zu riskant? Nein, ich denke, dieses Risiko können wir getrost eingehen. Von Geinitz hat ihn sich vorgeknöpft. Verdammt! Ich dachte, der wäre bis morgen unterwegs, Janensch kratzte sich ungehalten unter dem Hemd, da hätten wir besser aufpassen müssen. Mich trifft keine, mich trifft …! Regen Sie sich wieder ab, Hennig! Was hat er ihm gesagt? Ich habe keinen blassen Schimmer. Und er selbst hat es bestimmt vergessen. Verdammt! Wollen Sie sich nicht hinsetzen, Doktor Bahlow? Sehr freundlich. Meine Hand hüpft, lala, über die Kiste. Bin so froh, so froh. Kaffee? Sehr freundlich. Schwarzer Strahl, wie der gluckert, gluckert, sehr freundlich, gehen Sie doch endlich weg von diesen verfluchten Affen! Lauwarm, noch lauwarm. Sehr freundlich. Mit jedem Mal, da Bahlow «sehr freundlich» sagte, wurde er mehr zu seiner Tante Monika (geborene Gilbeck), die bis zu ihrem grotesken Ableben die ganze Bahlowsche Sippschaft mit ihrem dümmlich-devoten Wesen zur Verzweiflung gebracht hatte. Mmmh, guter Kaffee, gut gegen den Geschmack von Erbrochenem, dröhnendes Gelächter von Janensch, beides bitter, aber besser Kaffeegeschmack im Mund als galligen, bitte? Nein, von Appetitlosigkeit keine Spur. Da staunen Sie, was? Wer viel isst, der kann auch gut …

«Mittags essen wir nur Früchte», unterbrach Salinski.

«Sehr freundlich», sagte Bahlows Tante.

«Sind Sie bereit zur Führung?», fragte Hennig.

Bahlows Tante war es.

«Wollen wir aufbrechen?»

«Gerne», sagte Bahlow (hier haben wir ihn wieder), setzte den Tropenhelm auf, blickte entschlossen in die Runde und sagte: «Ich bin bereit!» Die Gedanken kämpften sich zwar mühevoll durch den Bernstein des Fiebers, aber die afrikanischen Eindrücke erreichten seine Netzhaut so lebensecht, dass er im Laufe des Vormittags den Verdacht, Opfer einer Täuschung zu sein, verwarf. Wie wollen sie denn diese Temperaturen künstlich erzeugen? Mit Filzdecken, die sie über meinen Käfig werfen? Mit einem tief im Erdreich vergrabenen Ofen? Aber dann müsste ich den Qualm riechen! Nein, diese Hitze ist wirklich, denn daran, dass ich stark transpiriere, gibt es keinen Zweifel. Bahlow schwitzte hauptsächlich am Kopf (Stirn, Oberlippe) und im Nacken, wo sich das Haar feucht von der Wölbung des Schädels sträubte wie der Pelz eines neugeborenen Äffchens. Als Kind hatte er einmal eine Affengeburt im Berliner Zoologischen Garten miterlebt. Onkel Richard (bei dem Carl wohnte, wenn sein Vater auf Vortragsreise war) pfiff anerkennend, doch Tante Monika sah bleicher aus als sonst, und ein ängstliches Schirmchen zuckte unter ihrem Arm. Die Äffin gebar mit leerem Blick, lag brüllend da, alles voller Blut, und auf dem Heimweg Unter den Linden sah Carl die Frauen mit anderen Augen, sah sie zum ersten Mal als Eingeweihter in das blutige, schweißtreibende Mysterium, das alle Menschen mit fleischerner Kette verbindet, einer blutigen Borte, die der bullige Zoowärter mit rostiger Schere durchtrennt. Weniger mysteriös erwiesen sich dagegen die Schürfgräben, in denen die schwarzen Rücken der Arbeiter glänzten, während die Aufseher die rhythmischen Bewegungen der Schaufel- und Hauenstiele in ein melodisches Lautgefüge einbanden. «Fallen Sie nicht!» Hennig deutete auf einen aus dem Boden ragenden Knochen, und Bahlow, den das unerklärliche Verlangen nach Portwein heimsuchte, sank neben dem Fundstück in die Knie und betastete es ungläubig. Seine Finger kratzten an dem versteinerten Knochen, zerrieben Sand zwischen den Kuppen, hier, ich helfe Ihnen auf, und von dieser taktilen Bestätigung einer unwahrscheinlichen (aber fühlbaren!) Wirklichkeit an, sog Bahlow alle Informationen in sich auf wie ein leeres, nach Sinn lechzendes Blatt Papier die Tinte. Handelte es sich um eine Täuschung, so war sie perfekt. Sie hatten ihn in einem heißen Traum gefangen, um ihn nach seiner Rückkehr sofort in Druck geben zu können; er würde also beobachten, würde observieren, würde ganz Auge sein, würde sein Leben lesen wie ein Buch.

Überall, wo sie hinkamen, erstatteten die Aufseher ihnen Bericht, und Hennig verzeichnete die Lage der neuen Funde in den Listen, die ihm sein Boy reichte, der gleichzeitig als Schreibpult firmierte. Von entfernteren Grabungsstätten kamen Boten mit Gerten herbeigeeilt, welche die Länge der neuen Fundstücke anzeigten, und einmal, Bahlow blätterte rasch um, begegnete ihnen sogar eine Lastkarawane. Die mzungus verließen den schmalen Pfad und ließen den singenden Trupp passieren. Zwischen durchhängenden Stäben, die muskulöse Schultern miteinander verbanden, hingen bambusumhüllte Trommeln. «Ein Oberarmknochen in einzelne Teile zerlegt, liefert vierzehn Trägerlasten. Ein einziger Halswirbel, der seines Zustandes und seiner Kompliziertheit halber im Ganzen eingegipst werden muss, kann gar nur von fünfundzwanzig Leuten des besonders kräftigen Wangoni-Stammes bewältigt werden.» Rast unter einer knorrigen Akazie, Sodawasser und Früchte. «Aus dem Boden aber steigen seltsame Träume auf, fremdartige Bilder eines Lebens, das einst hier sein Wesen trieb und seinesgleichen auf der Erde nicht mehr hat», zitierte Hennig sich selbst (nicht ohne Stolz erkannte Bahlow die Formulierungen aus einem im Archiv für Biontologie veröffentlichten Artikel). «Bilder von wunderlichen, ungeheuren Drachengestalten, deren Gebeine zwischen wüstem Gras und undurchdringlichem Dornbusch verstreut und verloren in der Wildnis ruhen, zum Teil schon herausgewittert, in Zerfall begriffen, zum Teil noch in der Tiefe verschlossen. So hat die Mutter Erde hier seit Jahrtausenden ihre Erinnerungen preisgegeben, gleichsam wie im Schlafe erzählend. Aber keines Menschen Ohr hat sie je vernommen oder verstanden. Jetzt hat das brausende Leben Europas eine Welle an diesen Strand geworfen. Und wir dürfen die Träume zum Leben erwecken! Na, was sagen Sie, Doktor Bahlow? Das ist doch der reinste Saurierkirchhof!» Vom Nachbartisch aus beäugte sie der aufdringliche Mitreisende, dieser lästige Russe. Er stand auf, warf eine Zeitung über die Schulter, die sich sofort in einen metallischblau funkelnden, über den Wipfeln davonschießenden Vogel verwandelte. Dann trat er an den Tisch und hielt Bahlow etwas hin. «Baba kufa, mama kufa», summten die Arbeiter, sobald der Käfermann nach dem Insekt griff, dass ihm Boheti feierlich überreichte. Eine Handbewegung Hennigs ließ Ruhe einkehren, und alle beobachteten gebannt, wie der Käfermann den zwanzig Zentimeter langen Palophus centaurus begutachtete, ein weibliches Exemplar; der langgestreckte Leib gemahnte an einen Schachtelhalm. «Erst hielt ich es für ein Stück Holz», bekannte Hennig.

«Leider zerquetscht», erklärte Bahlow dem stolzen Finder. «Sie müssen vorsichtiger sein. Viel umsichtiger. Aber das lernen Sie noch.» Er wandte sich an Hennig: «Sagen Sie ihm trotzdem vielen herzlichen Dank. Was geht dort drüben vor?» Bahlow sprang auf. «Das würde ich mir gerne einmal genauer ansehen. Wissen Sie, wie ansteckend Ihre Begeisterung ist?»

Und schon kauerten die beiden Männer über einem gut fünfzig Zentimeter langen, an eine Schaufel gemahnenden Bruchstück vom Oberschenkelknochen eines Diplodocus. «Da haben acht Mann dran zu tragen», sagte Hennig. «Oh! Hier haben wir noch etwas bemerkenswert Diplodocisches!» Ein Arbeiter klemmte den Federwedel unter den Arm und trat ehrfürchtig beiseite, damit der Knochenchef und der sterbende Käfermann zwei Zehenknochen der rechten Ringzehe eines Diplodocus und eine linksgekrümmte Kralle begutachten konnten, die sich («Fassen Sie sie ruhig an!») in Bahlows Faust schmiegte wie ein schartiger Faustkeil. Schon seit einigen Minuten verhielten sich Bahlows Gedanken, wie er es von ihnen gewohnt war. Sie verließen ihre Zimmer, wenn er nach ihnen verlangte, saßen höflich im Foyer des Hotels, warteten dort auf Instruktionen und zogen sich zurück, wenn sie nicht mehr benötigt wurden, wobei eine freundliche Schönheit das wohlgeordnete Kommen und Gehen beaufsichtigte. Ein guter Zeitpunkt, um mit den Recherchen zu beginnen! Die zwölfjährige Concierge betätigte das Klingelsignal, dick und schlaftrunken erwachte der Was-wurde-aus-Valdsky-Gedanke in seinem Zimmer, kleidete sich hastig an und stürzte mit wehenden Rockschößen nach unten in die Halle, wobei er im zweiten Stock einen bellenden Gummibaum umriss, der ihm plötzlich in den Weg gesprungen war. An einigen Tischen sah man neugierig auf; der schnaufende Gedanke erwartete nähere Instruktionen an der Rezeption, nestelte derweil am falsch geknöpften Revers herum und fragte schließlich (seine Aufregung nur schlecht verhehlend), was er zu tun habe. Mit spöttischem Grinsen deutete die Concierge auf die gläserne Drehtür, hinter der eine Trägerkarawane im dürren Ödland vorüberzog. «Was war Valdsky für ein Mensch?», fragte Bahlow, und in der Hotelhalle sprangen alle auf, um in brausenden Beifall auszubrechen. Man umhalste sich, klopfte sich auf die Schultern, und die Concierge ließ alle eine Weile gewähren, ehe ihre Hand grazil auf die Halbkugel der Tischglocke niedersauste und mit einem Ting! die angemessene Stille wiederherstellte. «Er war schon ein seltsamer Kauz, dieser Valdsky», antwortete Hennig bereitwillig. «Sehr verschlossen. Ich hatte kaum etwas mit ihm zu tun. Er frühstückte alleine in Ihrer, nein, haha, seiner Hütte, mied den Pavillon. Er benahm sich unauffällig, zog durch die Dörfer, predigte. Einmal habe ich eine seltsame Sache mit ihm erlebt. Janensch und ich kamen vom Magazin … Sie haben das Magazin gesehen? Diesen großen Holzschuppen im Eingeborenenlager? Gut. Wir kamen also vom Magazin, und Valdsky saß vor seiner Hütte. Er schlief, und eine der Meerkatzen verlustierte sich auf der Lehne seines Ratanstuhles und schwenkte dabei etwas Weißes.

Damit das Tier nicht irgendwelche wichtigen Dokumente des Missionars zerrisse, zog ihm Janensch das Papier aus den Pfoten, während ich das Äffchen mit einem Stück Kandis beruhigte. Apropos, mögen Sie?» Bahlow mochte nicht, und Hennig fuhr knirschend fort: «Wissen Sie, was das Äffchen in der Hand hielt? Eine Bäckereitüte! Eine Bäckereitüte mit französischem Aufdruck: Boulangerie Soundso, Rue Irgendwas, aber es kommt noch toller! In der Tüte fanden wir ein halbes Stück Kuchen. Apfeltorte. Verstehen Sie? Unser Freund Valdsky war über einem Stück Apfeltorte eingeschlafen! Der Kuchen roch vorzüglich. Es war, aber da kann ich mich irren, ich weiß nicht, vielleicht war es kein frischer Kuchen, natürlich, es kann kein frischer Kuchen gewesen sein, aber das alles kam uns spanisch vor. Da bringt sich unser Missionar ein Stück Apfeltorte mit nach Afrika, ein Stück Torte, das er irgendwo und irgendwie aufbewahrt hat, ohne dass es ihm verdirbt, sondern frisch bleibt. Fragen Sie mich nicht, wie er das angestellt hat! Ich wollte ihn natürlich sogleich aufwecken, um ihn zur Rede zu stellen, aber Janensch hat es mir strikt untersagt. Ein weiteres merkwürdiges Erl…»

 

«Ist es normal, dass das Fieber in Wellen kommt?»

«Das haben wir hier alle mitmachen müssen.»

«Dann bin ich ja beruhigt», seufzte Bahlow und fügte stolz hinzu, er könne seit einigen Minuten äußerst klar denken. «Wer ist denn dieser Bursche dort drüben in dem abgetragenen Anzug?»

«Boheti, unser Oberaufseher. Ich dachte, ich hätte ihn Ihnen … und er … ja, er hat Ihnen doch eben … eben … warten Sie! Ich mache sie noch einmal miteinander bekannt.»

«Ah», lachte Bahlow. «Sie waren doch der mit dem Palophus centaurus!»

Boheti verbeugte sich, die Hand auf die Brust gelegt.

«Weiter so», sagte Bahlow. «Sie sind ein guter Mann!»

Die folgenden Tage verbrachte er fast ausschließlich in Valdskys Hütte. Die sehr viel höheren Sonnentemperaturen, hatte Hennig in einer paläontologischen Eloge im Archiv für Biontologie angemerkt, haben natürlich bei unserem Leben, das sich meist im Freien abspielt, eine unerfreuliche praktische Bedeutung. Merkwürdigerweise, las Bahlow zustimmend nickend weiter, tritt keine Gewöhnung an den klimatischen Zustand ein, im Gegenteil pflegt der Europäer für die Sonnenstrahlung nach und nach empfindlicher zu werden. Die Tagestemperaturen halten sich bei konstanten 34° Celsius, und zwischen Mai und Anfang Dezember ist kein Regen zu erwarten; abgesehen von einer «kleinen Regenzeit» im August, die laut den verlässlichen Angaben unseres Oberaufsehers Bolti (ein köstlicher Druckfehler) auch in diesem Jahr nicht ausbleiben wird.

In die Hütte wehte der trockene, selten nachlassende Ostwind, ein milder Seewind, dessen Meeresbouquet sich längst im spröden Gras der yangwa verloren hatte, aber allein das Wissen, dass der Wind von der See kam und Valdskys Hütte mit luftigem Band an den fernen Ozean knüpfte, ließ Bahlow tief und sehnsüchtig einatmen. Vor ihm auf dem Tisch lagen die Milchglasscheiben des Lichtselbstfängers, unter denen man das Dossier rasch verschwinden lassen konnte, sollte sich eine Schattenzunge in die Hütte schieben. Zusätzlichen Schutz gewährte dem Dossier ein gläserner Palisadenzaun aus dunkelgrünen Flaschen (Essigäther, Petroleum, hochprozentiger Alkohol) an der linken Tischkante. Nachmittags waren jedoch kaum Störungen durch die übrigen Expeditionsteilnehmer zu befürchten; lediglich die ewig feixenden Kinder schlichen um die Hütte, dieses Dreckspack! Er schlug mit der flachen Hand gegen die Hüttenwand, blätterte mürrisch um und stieß auf die Abschrift eines Briefes, der mit Herzallerliebstes Häsi begann. Nein, nicht schon wieder! In diesem Moment keuchte Häsi wahrscheinlich unter dem Leib eines monokeltragenden Leutnants, ihre Velvetbluse lag auf dem Bettvorleger und die langen, schwedischen Handschuhe waren ihr schon an der Tür entglitten, als sie vor Erregung triefend in seine geilen Arme gesunken war. Und wollte die lüsterne Kanaille Tags darauf im Casino wissen, wie die Kleine denn gewesen sei, würde der Leutnant nachdenklich das Billardqueue sinken lassen und mit verträumtem, leicht ungläubigem Kopfschütteln seufzen: «Ein Rasseweib!» Bahlow sah das Schwein deutlich vor sich. Markantes Kinn, glänzend schwarzer Schnurrbart, ansonsten glattrasiert. Und weil die entzündeten Stellen in seinem eigenen Gesicht seit zwei Tagen nicht mehr nässten (Salinski hatte ihm eine kräftig nach Teer und Lakritze riechende Paste zugesteckt), beugte sich Bahlow wenig später mit bloßem, spitzbrüstigem Oberkörper über eine Blechschüssel voller Wasser, auf dem bald Bartstoppeln trieben wie Metallspäne bei einem physikalischen Schauversuch. So und jetzt raus aus der Hütte, die Bescherung mal ansehen – die Sonne verwandelte den Taschenspiegel in ein grellweißes Inferno.

«Sie sehen wie ein richtiger Wamuera aus!», witzelte Janensch abends im Pavillon. Bahlow zuckte gleichmütig mit den Schultern: Die wunden Stellen würden vernarben; schön war er nie gewesen. «Es gibt Schlimmeres», tröstete ihn Salinski, und Hennig fügte ohne große Überzeugungskraft hinzu, es falle überhaupt nicht auf. «Machen Sie sich um mich keine Gedanken», sagte Bahlow. Größeren Kummer bereitete ihm das fortwährende Jucken: Ständig kratzten seine Fingernägel in geistesabwesender Besessenheit an geröteter Haut, was den Juckreiz nur verstärkte. Auf den eiternden, lustlos verschorfenden Fleck am Handrücken wurde ebenfalls Salinskis Zaubermedizin gestrichen. Fernerhin litt Bahlow an einem unsäglichen, kaum stillbaren, fast tantalusischen Durst, und je mehr Wasser er trank, desto heftiger quoll ihm der Schweiß aus den Poren, doch mit solchen Kinkerlitzchen würde er Kuider nicht behelligen. Die Hitze, das Wetter, daran war man in Dresden-Blasewitz wohl kaum interessiert. Wegen heftigen Fiebers alles verdorben, Abreise unumgänglich. Morgen würde er den ersten Bericht schreiben, oder übermorgen. Aber käme ein derartiges Eingeständnis seines Versagens nicht einem Todesurteil gleich? Er musste am Tendaguru Erfolg haben, damit sie seine Verfehlungen in der Heimat vertuschten und ihn vor Festungshaft oder dem Strick bewahrten. Und damit er überhaupt Erfolg haben konnte, mussten grenzenloses Vertrauen in ihre alttestamentarische Allmacht und uneingeschränkte Bereitschaft zur Mitarbeit an ihren undurchsichtigen Plänen zu festen Größen in seinem Leben werden!

Anfangs starkes Fieber, nun wieder genesen, so könnte der Bericht stattdessen beginnen. Und weiter: Meine Recherchen laufen mit Volldampf, aber weder am nächsten noch am übernächsten Tag hatte Bahlow die Kraft, Buchstaben zu Worten (wie unsinnig!) und Worte zu Sätzen (wie qualvoll!) zu verbinden. Tagsüber ruhte er unter dem Moskitonetz, döste, pulte Schorf von der Wunde am Handrücken. In den frühen Abendstunden widmete er sich erst seiner schmerzenden Erektion und dann nicht minder ausgiebig dem Dossier. Vor dem Schlafengehen genehmigte er sich einen kleinen Anislikör im Pavillon, ein milchiges, mit Wasser zu verdünnendes Getränk, dessen Geruch ihn an die Taschenbonbonniere seiner Großmutter erinnerte. Sie hatte das Döschen in der Nachttischschublade aufbewahrt, und ehe der Enkel eine Pastille bekam, hatte er ihr immer einen Kuss auf die Wange geben müssen: Zum Hühnerafter gespitzter Kindermund senkt sich auf trockene, nach altem Apfel riechende Runzeln. «Der Likör erinnert mich an Großmutter», sagte Bahlow, spitzte die Lippen und fuhr erheitert fort: «Sie stank nach Apfel. Ich habe sie immer auf die Wange küssen …»

«Auf Ihre Großmutter!», fiel ihm Salinski ins Wort, und unten im Europäerlager begannen die Meerkatzen an den Streben ihrer Bambuskäfige zu rütteln, weil sie eine vertraute Stimme in der Nacht vernommen hatten. Halbherzig stieß man auf Bahlows Großmutter an, dann auf den Kaiser, man plauderte, erzählte Anekdoten, tauschte Belanglosigkeiten aus. Fruchtbare Gespräche wurden selten geführt, da Janensch sich darauf verstand, selbst den ernsthaftesten Themen einen humoristischen Beigeschmack zu verleihen. «Sein beklagenswerter Hang zu abgeschmackten Kalauern und sprachlichen Albernheiten kommt vom Alkoholabusus», hatte Hennig dem Entomologen bei einer günstigen Gelegenheit anvertraut. In Berlin habe Janensch nie getrunken, es sei wohl seine Art, mit dem Klima fertigzuwerden. Hennig klappte das Buch zu, legte es auf die Kiste, sagte: «Ich bin unverzüglich wieder da.» Janensch sah ihm nach. «Er liest Euklid. Ganz wie sein großes Vorbild James Cook», unweit des Pavillons plätscherte es zaghaft, «als er 1758/59 in Halifax überwinterte.» Hennigs weißer Anzug löste sich aus der tintenblauen Nacht. Janensch zeigte auf den Euklid. «Dann wolln wir uns doch mal ein kleines Schnäpslein auf das Wohl Ihres gelehrten Eukalyptus zur Brust nehmen! Und dann nix wie ab nach Halifax!» Er schwenkte die noch halbvolle Schnapsflasche über dem Schlapphut. «Will jemand kosten? Nein, natürlich nicht! Na, dann zum Wohl, die Herren!» Beim Trinken pflegte er die Augen zu schließen, aber kaum hatte sich die Flasche mit einem letzten innigen Kuss von den Lippen verabschiedet, riss Janensch die Augen wieder auf und blickte irritiert und herausfordernd in die schwitzende Runde.