Fahlmann

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Von den Besitztümern seines Vaters, einem wohlhabenden Kieler Kaufmann, war Großvater neben dem erwähnten Zylinderbureau nur eine goldene Breguet-Taschenuhr geblieben. Er schenkte sie Mutter zur Hochzeit, und von dem nicht unbeträchtlichen Erlös, den die Uhr beim Verkauf einbrachte, war das Sarglager gebaut worden. «Was kann man denn Sinnvolleres mit einer Uhr anfangen, als sie zum Grundstock für Geschäfte mit dem Tod zu machen!», soll Großvater damals gesagt haben, als ihm seine mit einem Bestattungsunternehmer mehr oder weniger glücklich verheiratete Tochter gestand, dass die Zeiger dieses Erbstücks von nun an fremde Besitzer an das Verrinnen der Zeit erinnerten, und hier bläst er wieder, der pathetische Wind. Bläst mit aller Kraft, bläst dem armen Beaufort den metaphysischen Hut samt Zopfperücke vom Kopf, dringt durch alle Ritzen und Fugen des Daseins, einen Tee, Georg? «Sehr gerne!» Ich setzte mich auf einen angewärmten Klappstuhl. Drei Tassen standen auf dem Tisch. Zwei davon waren bereits in Gebrauch. Großvater ist nett, tröstete ich mich, er ist einfach ein netter Mensch, der Leute, die lesen, ins Herz schließt. Fragend hielt er mir den Kandiszucker hin, dankend lehnte ich ab, nahm aber gerne von den Wiener Kringeln. Großvater schob eine halbvolle Tasse beiseite, noch nicht mal seinen Tee kann der kleine Einschmeichler austrinken, die hochschwangere Kanne schwebte in die Höhe, ein trüber Strahl sprudelte in meine Tasse, riss ab, grüner Tee, algig, würzig, auf der Couch lagen die Fotoalben. Großvater zeigte sie nur Menschen, die er mochte. «Man muss es unterstützen, wenn jemand liest», glaubte er sich plötzlich rechtfertigen zu müssen. «Er liest Taschenbücher ordentlich. Ohne Knicke auf dem Buchrücken und ohne Eselsohren. Das muss man doch fördern.»

«Mmh», meinte ich mit vollem Mund und nippte am Tee.

Eines meiner Lieblingsfotos in den Alben zeigt Großvater, einen gutaussehenden Mann mit pomadisiertem Haar in der Messe des Schiffs, das ihn 1940 von Saint-Nazaire ins amerikanische Exil brachte. Konzentriert beugt er sich über einen Schachtisch; hinter ihm stützt sich Großmutter, die nicht zurückkam, auf die Lehne des Stuhls; von seinem Gegner, einem russischen Emigranten, sieht man nur den schmalen Rücken. Neben Großmutter, einer stolzen und aristokratischen Person mit schönen Armen, steht Strigaljow, ein enger Freund der Familie, der später die Tantiemen seiner in den Vereinigten Staaten unter Pseudonym geschriebenen Kriminalromane mit Großvater und zwei anderen Freunden teilen sollte. Strigaljow ähnelt einem Geier, einem freundlichen tieftraurigen Geier, und wenn ich mich nicht täusche, steht Großmutters linker Schuh auf seiner rechten Sandale. Das zweite Foto, an das ich mich deutlich erinnere, zeigt Großvater einige Albumseiten und Jahre später an der Reling eines anderen Schiffs, Furchen im Gesicht, hängende Schultern, in der Brille spiegelt sich der Magnesiumblitz des Fotografen. Neben dieser melancholischen Gestalt starrt Strigaljow angestrengt in die Kamera, besser gekleidet als auf dem ersten Foto, aber noch immer tieftraurig. Auf seinem Arm langweilt sich ein pausbäckiges Kind im weißen Kleidchen. Verschwommen erinnere ich mich an weitere, wie Briefmarken gezähnte Schwarz-Weiß-Fotografien, auf denen das pummelige Mädchen die Zöpfe verliert, ihr Gesicht wird schmaler, länger und gleicht mehr und mehr dem meiner Mutter. Dazwischen immer wieder Fotos von Großvater: im Wintergarten mit einem Buch in der Hand, im Arbeitszimmer mit Gästen, im Vorgarten des Reihenhauses mit einem bekannten, französischen Filmregisseur (das erste Farbfoto im Album), mit verquollenen Augen auf dem Cimetière de Montmartre bei Strigaljows Beerdigung. Nach der Rückkehr aus New York hatte Großvater als freier Berater für diverse Verlage gearbeitet, sich jedoch zur Ruhe gesetzt, um sich ausschließlich privaten Studien zu widmen, nachdem ihm Strigaljow die Rechte an drei seiner insgesamt sechzehn Romane vermacht hatte, was Großvater (vor allem wegen einer hundsmiserablen Verfilmung mit dem Titel Mord war seine beste Medizin) ein sorgenfreies Leben ermöglichte. Jedenfalls solange sorgenfrei, bis seine siebzehnjährige Tochter meinen Vater traf. «Monsieur?» Ob ich noch Wünsche hätte.

«Non merci, peut-être en quelques minutes.» Vater war sechzehn Jahre älter als Mutter. Hatte wohl gerade mit Onkel Jörg das Beerdigungsinstitut gegründet, als er sie kennenlernte. «Jemand, der nicht liest!», empört sich Großvater und nimmt die Brille ab, um sie energisch zu polieren. «Ein Totengräber, der sich jeden Samstag die Sportschau ansieht!» Nein, das ist ungerecht; in Wirklichkeit hat Großvater die Entscheidung seiner Tochter nie kritisiert, und als ich glatzköpfig und rosinengesichtig das Licht der Welt erblickte, wartete er, bis ich alt genug war, um mit Büchern und guten Geschichten versorgt zu werden. Schließe ich die Augen, kann ich seine überdeutlich prononcierende Vorlesestimme noch immer hören. Der Tunnel wand und wand sich, führte aber nicht tief ins Innere des Berges hinein, den alle Leute viele Meilen weit rund im Lande schlechthin «den Berg» nannten. Zahlreiche kleine, runde Türen öffneten sich zu diesem Tunnel, zunächst auf der einen Seite und dann auch auf der anderen. Ich wäre wahrscheinlich nie Schriftsteller geworden, hätte Großvater sich nicht so liebevoll um mich gekümmert. Manchmal wünsche ich, ich wäre kein Schriftsteller geworden, und manchmal verachte ich mich für diesen Wunsch.

Mutter hatte mir zwar auch vorgelesen, aber ihr fehlte Phantasie, und Vater – sie hätte, weiß Gott, einen besseren Mann verdient! Und da saßen wir nun im Wintergarten, ich dachte an Jasmin, die morgen Post von mir bekäme, dachte an den Zivildienstleistenden, den Großvater zum Tee einlud, weil ich so selten zu Besuch kam, dachte an mein langsam aber sicher auf Grund laufendes Buch und dachte, Wind kommt auf, an Großvaters Alter. Ich fand es unverantwortlich, dass er die Ergebnisse seiner langjährigen Studien über Swedenborg nicht aufzeichnete. Mein Wiener Kringel deutete krümelige Schriftzüge an. «Weißt du, was ich mir wünschte? Dass du deine Überlegungen endlich einmal niederschreibst.»

«Welche?»

«Na diese Sachen über Swedenborg und seine Echos in der Weltliteratur.»

«Ach, das …» Großvater stand auf, sah in den verwilderten Garten hinunter, die Schatzinsel meiner Kindheit. Jetzt sag mir die Wahrheit, Jim. Das ist doch nicht Flints Schiff? – Das ist nicht Flints Schiff, und Flint ist tot. Aber ich will Euch so aufrichtig Auskunft geben, wie Ihr mich fragt: Es sind einige von Flints Leuten an Bord – zum Unglück für uns andere. – Doch nicht etwa ein Mann … mit einem … Bein? – Silver? – Ach Silver! So hieß er. Nach einer Weile schüttelte Großvater, johoho und ’ne Buddel voll Rum, den Kopf. «Das lohnt der Mühe nicht!» Johoho, das lohnt der Mühe nicht! «Du glaubst, meine bescheidenen Überlegungen wären es wert, der Nachwelt überliefert zu werden? Na, vielleicht trifft das zu, aber das Niederschreiben würde mich nur vom Weiterdenken und Weiterfinden abhalten, und das ist es doch, was Spaß macht! Gute Detektive behalten die Ergebnisse ihrer Recherchen ohnehin für sich. Holmes schweigt. Es ist Tante Watson, die alles ausplaudert. Nein, vergessen wir das! Ich habe ins Unreine gedacht.» Und ’ne Buddel voll Rum! «Genaugenommen behalte ich nichts für mich; du weißt doch alles Wichtige, was ich weiß. Ich habe fast keine Geheimnisse vor dir! In gewissem Sinne bist du mein kleiner Doktor Watson. Aber nur in einem ganz gewissen Sinne …»

«Dein kleiner Doktor Watson vergisst aber alles wieder.»

«Vielleicht nicht alles.»

Natürlich hatte er recht. Vieles, was er mir erzählte, grub sich tief im Erdreich ein und wartete dort, um sich zu den ungewöhnlichsten Gelegenheiten wieder emporzuwühlen, schwarze Erde fliegt beiseite, Großvater hilft mir beim Schreiben, wird Teil meiner Geschichten, hockt zwischen den Absätzen, jongliert mit Wörtern, streut Satzzeichen, Schlamm unter den Fingernägeln. Leider hinderte mich eine heute unverzeihliche Scheu, mit ihm darüber zu sprechen: Ben Gunn hat den Schatz gefunden und kann nichts damit anfangen. Allmählich glitt unser Gespräch in angenehmeres Fahrwasser, und bald schwärmte ich von Paris: «Man ist dort kein Fremder. Man fühlt sich zu Hause. Vielleicht liegt das daran, dass einen so viele Fremde umgeben. Araber, Neger, nein, das darf man heutzutage nicht mehr sagen, Farbige, nein, das darf man auch nicht sagen, Schwarze darf man, glaube ich, noch sagen, Inder, keiner schaut dich an, du bist frei.» In diesem Augenblick suchte mich die erste mobilistische Störung meines Sehsinns heim: Großvater glich einem Stuhl. Aber so plötzlich, wie diese Störung gekommen war, verschwand sie wieder. Ich hätte diese unschöne Sache gerne – zurück in den großväterlichen Wintergarten! Wir plauderten also über Paris, über Fett triefende croque-monsieur, über die übelste Toilette der Stadt (sie befindet sich nach wie vor im Erdgeschoss des Centre Pompidou: surreal verschissener Fußboden, in einem verkotzten Waschbecken schrubbt ein betrunkener Clochard seine Wollstrümpfe, und vor dem Museum ragen Belüftungsrohre aus dem Pflaster wie die Schlote eines unterirdischen Schiffs), dann erzählte ich ausführlich, wie ich Susanne kennengelernt hatte, mit nur geringfügigen Aussparungen und Änderungen. Großvater war einer der wenigen Menschen, mit denen ich ehrlich reden konnte. Das konnte ich nicht mit Susanne (Susanne ist eine Frau, und ich musste schauspielern), nicht mit Achim, Heinz und Onkel Jörg (im Umgang mit ihnen versuchte ich, nicht zu intellektuell zu wirken), nicht mit Winkler (er klaute). Mit Mutter redete ich nicht mehr und Jens – Jens war damals leider noch zu jung.

«Du bist heute so grüblerisch, Georg!»

«Ich sage nicht ja, ich sage nicht nein.»

«Dir liegt doch was auf dem Herzen!»

«Nichts Besonderes. Wirklich nichts Besonderes.»

 

«Du weißt, dass du mir alles erzählen kannst?»

«Natürlich. Aber es ist wirklich nichts Besonderes.»

Als ich zwei Stunden später nach Hause kam, läutete das Telefon wie in einem schlechten Film, wenn der Drehbuchautor Tempo machen will.

«Ja?», fragte ich.

«Hallo! Hier ist der Wolfgang.»

«Selber hallo!», sagte ich.

«Ist die Susi da?»

«Nö.»

«Wann kommt sie denn wieder?»

«Keine Ahnung!»

«Kannst du ihr was ausrichten?»

«Nö.»

«Na, dann probier ichs halt nachher nochmal.» Der Weiß-Haar-Mann legte auf; ich zitterte am ganzen Leib; es war ernst zwischen den beiden. Im Badezimmer wurde die Dusche abgestellt.

«Wer wars?», rief Susanne aus dem Bad.

«Verwählt!», antwortete ich. Großvater wurde von Tag zu Tag älter, Susanne traf sich mit einem anderen Mann, mein Glück glitt mir aus den Händen wie ein eingefettetes Schiffstau. Vom Bier bekam ich Kopfschmerzen, vom Schreiben Schlafstörungen und schlechte Laune. «Darf ich reinkommen?», fragte ich die Badezimmertür, und als Susannes gut gelauntes «Ja-ha!» mit einer nach Shampoo riechenden Dampfwolke in den Flur quoll, standen mir plötzlich Tränen in den Augen.

3Das frühmorgendliche Trommelsignal vertrieb den fürchterlichen Konditor, schob Bahlow den harten Lauf der Luger unter das Schulterblatt und legte ihm einen sauren Geschmack in den Mund. Er wusste zwar, dass man am Tendaguru zwischen fünf und sechs Uhr mit den Grabungen begann (und die Arbeit gegen zwei Uhr nachmittags wieder einstellte), aber als die Repetieruhr fünf metallische Schläge von sich gab, war er doch erstaunt, dass die Wirklichkeit selbst in diesem unerfreulichen Punkt den Weisungen des Dossiers sklavisch Folge leistete. Der sherrygetaufte Entomologe setzte sich auf, schnaubte, schmatzte. Samtweiche, brühwarme Schwärze strömte unter dem auf unterirdischem Gewässer dümpelndem Feldbett hervor, über dem sich das Gespinst des Moskitonetzes blähte wie ein jenseitiges Segel. Unter der Tür quetschte sich ein Streifen Tageslicht hindurch, erhellte eine Daumenbreite des gestampften, rötlichen Sandbodens. Rechts des Türblatts schwebte eine schmale, mannshohe Lichtnadel, ansonsten barg Valdskys Hütte die Nacht wie einen kostbaren Schatz. Draußen waren Schritte zu vernehmen, Stimmen. «Lächerlich», flüsterte Bahlow. In der Nähe krähte ein Hahn. «Das ist doch lächerlich.» Selbst als Kind hatte er sich nie im Dunkeln gefürchtet! Er erinnerte sich noch gut, wie er mit schlafwandlerisch ausgestreckten Armen durch das Dormitorium geschlichen war, um Nägele auf dem Dachboden des Internats zu treffen, doch es war weniger die Dunkelheit, die den erwachenden Bahlow am Tendaguru beunruhigte, sondern vielmehr die hypothetische Anwesenheit heimtückischen Getiers, das unter der Tür hindurch in die Hütte gekrochen sein könnte. Man hört es nicht, wenn sich Skorpione vor dem Feldbett versammeln und mit gierig schnappenden Pedipalpenscheren den Sonnenaufgang erwarten. Jetzt kommt der Fuß, frohlocken sie, sobald das Trommelsignal ertönt, jetzt, eifriges Stachelrecken, kommt er gleich, der große Fuß! Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, kein Unglück, Tisch gegen meine Feinde, immerdar. Sogar eine dreiecksköpfige Puffotter könnte sich in die Hütte gezwängt haben, Bitis arietans, meldete sich ein zittriges Bruchstück verloren geglaubten Wissens zu Wort, mein Hirte, oder zwei Puffottern, und teilt mein Fuß das Moskitonetz, schnellen sie aus der Schwärze, verwandeln mein Bein in einen Caduceus und treiben ihre Vampirzähne tief ins Fleisch der Wade. Wieder ertönten die seltsam nasalen Morsezeichen, Bahlow antwortete mit fiepsenden Klagelauten und schickte eine Hand hinaus in die lauernde Schwärze.

Diese tastete nach der Kerze, fand sie nicht, schrak bei der Berührung eines harzig-klebrigen Bettpfostens zurück, cleverer Bursche dieser Valdsky, nichts kann von unten kommen, ein Stiefel, daneben der zweite, ein Buch, eine Flasche, doch die vermaledeite Kerze blieb fahnenflüchtig. Wenn es Valdsky für notwendig erachtet hatte, die Bettpfosten so zu präparieren, dass nichts vom Boden aus ins Bett gelangen konnte, dann musste da unten («Gesunder Menschenverstand, meine Herren!») etwas sein, Puffotter, musste da unten, Puffotter, etwas sein, eine Puffotter zum Beispiel, vor der man sich, um Himmels willen, da unten lauern Puffottern, vor denen man sich vorsehen muss! Sofort verschwand die Hand unter dem Moskitonetz und suchte Trost bei ihrem feigen Zwilling. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Die nächsten Minuten verbrachte Bahlow damit, die Hände mit einem sandigen Geräusch gegeneinanderzureiben. Erwartete man von ihm, dass er liegen blieb? Dass er in Valdskys Bett vertrocknete wie eine Mumie? Nein, so leicht würde er es ihnen nicht machen! Und ihrem Bilderbeck erst recht nicht!

Halblaut zählte er bis zehn (eigentlich hatte er nur bis drei zählen wollen) und schwang die Elf der gestreckten Beine aus dem Moskitonetz. Abwartend schwebten sie in der Schwärze, knickten, da keine Puffotterattacke erfolgte, nach einer Weile an den Knien ab und senkten die Füße auf den Sandboden. Hart und warm. Als Bahlow überzeugt war, dass sich nichts Stechendes, Beißendes oder Zwackendes zwischen Fußsohle und Hüttenboden befand, zog er den Rest des Körpers nach und stand gebückt in der Dunkelheit, ein Fragezeichen mit zu großem Hinterteil, jederzeit bereit, sich ins Bett zurückfallen zu lassen. Das Ticken der Uhr (wie zu Hause durfte sie auch am Tendaguru unter dem Kopfkissen schlafen) hatte längst vor dem panischen Trommeln des Herzschlags kapituliert, das Fragezeichen legte den Kopf schief, lauschte und nahm, der Herr ist mein Hirte, das Zählen wieder auf: zwölf! Bahlow war bei einer bewegungslosen Zweiundsiebzig angekommen, als ihn die Hüttentür mit Hennigs ausgeschlafener Stimme fragte, ob er schon wach sei. «Bin ich», antwortete Bahlow und zog es in Betracht, Hennig zu bitten, die Tür zu öffnen, damit Licht in die Hütte fiele, aber dann wurde ihm bewusst, dass er außer der Nachthose nichts am Leibe trug.

«Ich kleide mich gerade an», behauptete er, wie er fürchtete, wenig glaubwürdig.

Hennig sagte: «Frühstück im Pavillon», rechts vom Türblatt erschien wieder die Lichtnadel, dümmlich beschwingte Schritte entfernten sich, und erneut zog es Bahlow hinaus auf den schwarzen Angstsee. Hinter der Hütte, dreiundsiebzig, wurde etwas Schweres vorbeigezerrt, vierundsiebzig, doch alle Gedanken, fünfundsiebzig, sechsundsiebzig, endeten an der Hüttenwand, siebenundsiebzig, vorsichtig, achtundsiebzig, glitt Bahlows rechter Fuß über den Boden, bis es den Entomologen in schmerzhaftem Winkel grätschte, dreiundneunzig, vierundneunzig, fünfundneunzig, behutsam wie beim Schlittschuhlaufen auf knisterndem Eis wurde der linke Fuß nachgezogen, hundertvierzehnfünfzehnsechzehn, Bahlow stand stramm und schob, wobei er vor Aufregung das Zählen vergaß, den rechten Fuß auf die Tür zu, ohne die Sohle vom Boden zu heben. Unwirkliches Draußen: Einem heiseren Fluch in Kisuaheli antwortete ein sphärisches Kichern, gleich habe ich es geschafft, und als die Zehenspitzen im Lichtstrich badeten, der unter der Tür hereinfiel, griff Bahlow zu, drückte, erschrak, riss, und ein klarer, afrikanischer Morgen spülte die Hütte aus.

Falscher Alarm! Erleichtert legte er die Repetieruhr, die sich inzwischen glitschig anfühlte wie ein Aal, auf den Schreibtisch. Lediglich vier oder fünf Ameisen irrten über die Wände, keine Skorpione, keine Puffottern; eine dürre Kakerlake (Ben Gunn) hetzte auf die Reisetasche zu und verschwand darin («Das ist doch nicht Flints Schiff?») mit einem wagemutigen Hechtsprung; an der Rückwand der Hütte segnete der Heiland die Schafe; seine weit ausholende Geste schien die Kreuzigung vorwegzunehmen; erleichtert kratzte sich Bahlow zwischen den Leisten, streckte gähnend die Arme aus, segnete seinerseits den Hüttenboden, zappelnde Schatten, er drehte sich zur Tür um und verscheuchte die Kinder mit einem Grunzen, einem vokalreichen Lautknäuel, aus dem sich erst Flüche, dann Verwünschungen wanden. Die Kinder, baba kufa, mama kufa, verstummten aber erst, als der Käfermann aus der Hütte trat und drohend den gefüllten Nachttopf über den Kopf hob. Sie müssen ein offenes Pentagramm gehen, Bahlow kippte eine Handvoll Stinkwanzen aus den Stiefeln, beginnen am linken Fuß, heute Nacht nehme ich alle Kleider mit unters Moskitonetz, marschieren Richtung Kopf, rätselhaft, höchst rätselhaft, hätte den Brief nicht öffnen dürfen.

Er zog den Tropenanzug an und übertrug die Botschaft in sein Notizbuch, wobei er irritiert beobachtete, wie elegant die feuchten Buchstaben zwischen der wirklichen Feder und ihrem plumpen Schattenpendant herausglitten. Pentagramme gehen, welch ein Unfug! Der Sicherheitsbeauftragte der Expedition wartete gewiss schon sehnsüchtig auf lächerliche Informationen wie: Wenn Sie vom linken Arm zum rechten emporstoßen. Hatte keine Bedeutung, war wohl ein Scherz, ein grausamer Scherz auf meine Kosten! Über diesen von Geinitz fand sich übrigens wenig Brauchbares im Dossier, geboren 1876, Oberstleutnant, Agent der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes in Berlin, und darunter in Kuiders größenwahnsinnigen Schriftzügen, bei denen die G’s in den darunterliegenden Zeilen auf Fischfang gingen: Seine Funktion am Tendaguru ist nicht bekannt. Angbl. gefährlich. Evtl. auch ihn observieren. Was hat dieses «auch» zu bedeuten? Und wieso, zum Teufel, ist niemand in der Lage, mir zweckdienliche Instruktionen zu geben? Mit brutalen Kammzügen strich Bahlow sich die Haare aus der Stirn. Angbl. gefährlich – dass er nicht lachte! Nichts konnte gefährlicher sein, als in Afrika das Bett zu verlassen und durch eine stockdunkle Hütte zur Tür zu gehen! Das war wirkl. gefährlich! Mit diesem von Geinitz musste man sich eben arrangieren.

Obwohl: Die Sache mit dem Briefumschlag bereitete Bahlow Kopfzerbrechen. «Der Umschlag war schon aufgerissen», würde er von Geinitz in wohlkalkulierter Leutseligkeit eröffnen. Oder sollte er das vielleicht gar nicht erwähnen? «Ich habe einen Brief für Sie!» – «Einen Brief?» – «Aus Lindi.» Der von Geinitz des Gedankenspiels glich einem berüchtigten Jahrmarkt-Preisringer. Er sah Bahlow grimmig an, und dieser fügte eilfertig hinzu: «Der Umschlag war schon aufgerissen.» Nein, so ging das nicht! Er kratzte sich im Nacken. «Schauen Sie nur, was man mir in Lindi mitgegeben hat!» – «Für mich?» – «Ein Brief aus Lindi! Schon aufgerissen. Aber ich wars nicht!» Oder noch besser: «Ich öffne doch keine fremde Post!» Oder sollte er alles zugeben («Ich bin nun mal eine neugierige Natur!») und sich bei dem Preisringer in vermeintlicher Einfalt erkundigen, wer denn dieser B sei, der die geheimnisvolle Botschaft («Ja, verstehen Sie denn, was das bedeutet?») unterzeichnet hat? So würde Nick Carter vorgehen! Und beim Ausbleiben einer glaubwürdigen Antwort setzt man dem krummen Hund eine kurze Gerade auf die Nase, dass das Blut über die übrigen Schausteller spritzt, dass es nur so eine Art hat. Treten Sie näher, treten Sie heran, unschlüssig bummelt Bahlow zwischen den Schaubuden umher, die bärtige Frau, das Kindermonster, heißa, bewundern Sie unser lustiges Zwergenballet, fürchten Sie sich vorm unheimlichen Fratt, nichts für schwache Nerven, gebratene Mandeln, Bratäpfel, Zuckerwerk, treten Sie näher, Herrschaften, treten sie heran, sehen Sie den stärksten Mann der Welt! Von Geinitz lehrt Sie das Fürchten! Sehen Sie diese Eisenstange? Von Geinitz knotet sie jedem um den Hals, der seine Post liest! Mit einem Mal schien es Bahlow das Vernünftigste zu sein, alles abzustreiten. «Das soll ich Ihnen geben. Aus Lindi. Ich würde doch nie! Wo denken Sie hin! Nein, Gott bewahre! Ich habe den Briefumschlag geöffnet erhalten …»

Inzwischen schlenderte er, den Tropenhelm auf dem Kopf, hinauf zum Pavillon, wo er mit Dr. Edwin Hennig und James Cook ein ausgiebiges Frühstück einnahm. Immer wieder sah Bahlow die steile, mit Bambusgestrüpp dicht überwucherte Westseite des Tendagurus hinab in die Mbemkuru-Niederung. Etwa 150 Meter Höhenunterschied; auf den übrigen Hügelseiten betrage er, was Bahlow mit höflichem Unverständnis quittierte, nur etwa dreißig Meter; aus dem unwegsamen Dickicht erklang das enervierend langgezogene Klagen eines Nashornvogels. «Unter Baumkronen ist alles vergraben, auch der Mbemkuru, der Beherrscher unseres Stromgebietes.» Hennigs zum westlichen Horizont deutende Hand malte die Konturen ferner Hügelrücken in die Luft; auf der Holzkiste, die ihnen als Frühstückstisch diente, imitierte ein Schattenbruder die unbestimmte Wellenbewegung. «Dringt man bis an den Fluss vor, so finden sich im dicht überwucherten, wildverwachsenen Flussbett nur hier und dort noch zusammenhängende Wasserflächen; Bachgemurmel und rauschende Ströme, stille Seen oder Wasserfälle kennt dies Land nicht und das gibt der ganzen Landschaft etwas», Hennig suchte nach Worten, «Blutloses. Was ich eigentlich fragen wollte: Ihnen geht es wieder besser?»

 

Bahlow setzte die Tasse ab, murmelte etwas von erstaunlich klaren Gedanken, und das trotz der Gluthitze, barfuß durch die Hütte, haha, bei Gott kein Vergnügen! Hennig sah unbehaglich an Bahlows roten Ohren vorbei. Wie viel Zeit ihm bis zur Führung bleibe? Hennig häufte Kandiszucker in seine Tasse. Ob ihm eine halbe Stunde ausreiche? Und ob! Die Kristalle zersprangen mit feinem Knistern unter dem Kaffeestrahl. Da bleibe sogar Zeit für eine Katzenwäsche (angebracht) und eine Rasur, «sofern es meine abenteuerlich entzündete Gesichtshaut erlaubt, aber jetzt bitte ich Sie, mich zu entschuldigen!» Er rannte auf Valdskys Hütte zu, hielt auf halbem Weg inne, um sich mit orgiastischer Heftigkeit in einen fremdartig aussehenden Busch zu erbrechen, stolperte weiter den Osthang hinab. Zwischen den bienenkorbähnlichen Behausungen des in Wurfweite unter dem Europäerlager gelegenen Eingeborenendorfs spielten Kinder. Da stampften singende Weiber Mtama-Mehl, Stangen fuhren in kniehohe Stampfmörser, wirbelten in weißen Staubwolken empor, barbusige alte Weiber, barbusige junge Weiber, und im Rücken der barbusigen Weiber, die mit einem Mal lachend zu ihm heraufsahen, schwang der Osthang des Busens aus und mündete in die weite Obstgartensteppe. Autsch! Das tut weh! Meine Augen werden zu Fesselballons! Bahlow massierte die Schläfen, der Schmerz ließ nach, und die Augäpfel verschwanden hakenschlagend in den fernsten Klüften des Gedächtnisses, wo eine dicke, fast undurchdringliche Staubschicht die Lateinvokabeln, die Spielzeugeisenbahn und die Großeltern überzog. Großmutter klapperte wie üblich mit den langen Stricknadeln; Großvater kauerte trotzig neben ihrem Ohrensessel und hielt einen Globus umklammert, einen hölzernen, kopfgroßen Globus, der sich mit einem Mal so schnell zu drehen begann, dass die Wolkendecke aufriss und die Farben der Länder ineinanderliefen, barbusige junge Weiber, Blitz, fast noch Mädchen, barbusig, Blitz, hier in Afrika, hüpfend, ist alles möglich. Eulenartiges Kopfwenden: Das, was da so grell im äußersten Winkel des Gesichtsfeldes aufblitze, entpuppte sich als winkender Arm, an dem ein hagerer Herr in blendend weißer Offiziersuniform hing, der zwischen den Proviantzelten des Europäerlagers über einer leblosen Gestalt kauerte.

Das muss dieser von Geinitz sein! Bahlow atmete tief durch und ging ihm entgegen. Von Geinitz hockte, die Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt und die blutverschmierten Unterarme zwischen den Schenkeln, über einem vom Stich bis zum Drosselknopf aufgeschärften Antilopenbock. Der Bock sah Bahlow mit großen, runden Augen an. Es waren schöne, braune Augen, die ihn nach dem Tee im Garten erwarteten. «Gutes Büchsenlicht um diese Zeit», sagte von Geinitz, ohne die rituelle Folge von Schnitten und Handgriffen zu unterbrechen; Drossel und Schlund waren abgetrennt, der Schlund war bereits verknotet. Von Geinitz sah kurz auf: «Doktor Bahlmann?»

«Merkwürdige Buchstabenvertauschung!» Mädchenaugen blickten ihn an. «Bahlmann ist nicht korrekt. Doktor Carl Richard Bahlow. So heiße ich. Das ist mein Name. Ich bewundere ihren Tropenhelm. Ein abenteuerlich abgewetztes Exemplar. Dunkelgelbe Bandana. Verzeihen Sie meine Offenheit. Sehr atmosphärisch, der Helm! Afrika. Meiner ist noch ganz weiß. Sehen Sie! Neu.» Es betrübte ihn, dass die einzige Person, die es außer ihm wagte, einen Helm zu tragen, ein so unangenehmer Kadett war. «Mein Name: Doktor Carl Richard Bahlow. Schönen Helm haben Sie da auf!»

Der Oberstleutnant murmelte etwas Unverständliches, ohne die Arbeit zu unterbrechen, und fuhr im Kasernenton fort: «Von wie von, Gustav, Emil, Ida, Nordpol, Ida, Theodor, Zacharias.»

Bahlow starrte das Militärorakel fassungslos an. Gustav, Emil, erst Tage später, als das Fieber sank, und ein beschämter Bahlow die Geschehnisse der vergangenen Tage rekonstruierte, gelang es ihm, Ida, Nordpol, Ida, die obskure Namensparade mit Sinn zu erfüllen, aber an jenem Morgen, Theodor, Zacharias, gab in diesem Augenblick ein Hahn das geheime Signal, Mtama-Mehl-Stößel trieben die im Tendaguru verborgene Maschine an, und eine riesige Lupe schwenkte vom Pavillon herab, um sich zwischen den schwankenden Entomologen und das Gesicht des Sicherheitsbeauftragten zu schieben. Unter den Flügeln einer fleischigen, an der Spitze gespaltenen Nase, die ein Heer schwarzer Mitesser überzog, schwang ein Schnurrbart zu ausgeprägten Wangenknochen empor; im rechten Augenwinkel baumelte ein Krümel; das linke Auge wirkte ungewöhnlich feucht. Von Geinitz’ braungebranntes Gesicht erinnerte Bahlow (erschrocken drückte er die Hand seines Vaters) an einen Hagenbeckschen Zooelephanten, von dem der getrocknete Suhlschlamm in lehmigen Puzzlestücken abplatzt. Aber wieso tanzte ein blitzendes Messer zwischen den besudelten Händen des Wärters? Sie essen doch gerne Wildbret? Natürlich! Wer tut das nicht? Können Sie die Kleine lesen? Von Geinitz schärfte ihre Bauchdecke auf, griff in sie hinein, Bahlow wandte sich erbleichend ab. «Ich muss den Bock versorgen», entschuldigte sich der Sicherheitsbeauftragte in dem spöttischen Ton, den er immer anschlug, wenn er es mit (unter dem folgenden Wort pflegte sein Schwager alles zu subsumieren, was weibisch, memmenhaft und feige war) Neurasthenikern zu tun hatte. «Das Schloss ist aufgebrochen. Schauen Sie, nun liegen die Harnblase und die abgelöste Brunftrute frei! Und jetzt schärfe ich das Zwerchfell ab.» Auf einmal sah man Organe in der Brusthöhle, Lunge, Herz, von Geinitz sprang auf, seine rechte Hand griff zur Drossel des Antilopenbocks, und mit einem kraftvollen Ruck zog der Sicherheitsbeauftragte eine blutige Organtraube, die er zu Bahlows nicht geringer Freude «das Geräusch» nannte, aus dem geöffneten Leib. «Eine saubere Sache. Links das Gescheide», ein widerwärtiger, ameisengespickter Klumpen Gedärm, «rechts der essbare Aufbruch», ein Kadaver mit einem klaffenden Portal zwischen den Schenkeln. Fliegen schwirrten durch das düstere Tor zum Gottesdienst in die Fleischkathedrale, und nun zu Ihnen! Von Geinitz säuberte Hände und Unterarme mit einem Tuch. Noch Fieber? Flirrend schoss die Lupe über der Obstgartensteppe davon und ließ eine torkelnde Verwirrtheit zurück.

«Ja», sagte Bahlow.

«Nicht afrikatauglich?»

«Ah, Sie meinen, ah, das Fieber … ja richtig, das Fieber …»

«Machen Sie fleißig Ihre Chinin-Prophylaxe?»

«Natürlich.»

«Taugt nichts. Entweder man verträgt das Klima oder man fährt auf dem nächsten Dampfer wieder nach Hause.» Über der Obstgartensteppe davon. Der feixende von Geinitz erinnerte Bahlow an einen Emus hirtus, einen behaarten Aaskäfer, den man in frischem Mist findet, die feinen Härchen feucht und kotverklebt. Valdsky sei die Hitze auch nicht bekommen. Beim Sprechen bewegte der Käfer gewichste Mandibeln, die Hitze am Tag, die Kälte der Nacht, und in der Wüste zerspringen die Steine zu feinem, weißem Sand. «Gibts was Neues aus der Heimat?» Holla! Auf diese Frage hatte Louis Blériot nur gewartet. Entschlossen stülpte er die Fliegerkappe über und jagte mit seinem puckernden Eindecker zwischen Bahlows Zähnen hindurch, flog eine gemächliche Schleife um von Geinitz’ Kopf und zischte, prächtige Kapriolen vollführend, Richtung Dover davon, Ukulelenklänge, die johlenden Volksschüler stürmten das Theater, Theobald von Bethmann Hollweg (Kasper) zog von Bülow (Krokodil) eins mit der Plätsche über, jubelndes Geschrei, Bahlow hängte sich an die Zöpfe der kleinen Astrid, und unter der Decke des Zuschauerraumes rotierten die Zahlenscheiben des Hildesheimer Selbstwähltelephonamtes, drehten sich wie junge Konfirmantinnen in weiten Röcken, die man von der Empore des Ballsaales beim Tanz beobachtet, ein grünes Glas Likör in der Hand, den Unterleib fest an die Balustrade gepresst, in der ein heftiger Puls pocht.