Fahlmann

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«Georg?», fragte der Telefonhörer.

«Wer sonst?»

«Hat er dich schon wieder angerufen?»

«Natürlich.»

«Ich habe eben dein Buch verkauft!»

«Nett von dir. Danke!»

«Na ja, man muss was tun. Wie gehts deinem Roman?»

«Mittelprächtig. Er will nicht so, wie ich es will.»

«Du solltest mal eine Schreibpause einlegen. Das tut dir und damit dem Text bestimmt gut … Moment!» In den Raum hinein: «Ich helfe Ihnen sofort!» Zu mir: «Hast du heute Nachmittag Zeit? Ja? Sechzehn Uhr? Gut, dann bis später! Tschüss, Georg!»

Ich legte auf. Om rieb sich an meinen angewinkelten Beinen und spähte unter den Kniekehlen hindurch, aber als ich ihn streicheln wollte, duckte er sich so tief unter der herabsinkenden Hand, dass sein Bauch fast den Boden berührte, und eilte mit gesenktem Schwanz davon, um sich in der Küche dem klimpernden Trockenfutter zu widmen. Ich hatte große Lust, mich mit Großvater mal wieder in Ruhe zu unterhalten. Vielleicht über Literatur, vielleicht über seine abenteuerliche Flucht und die Jahre in Amerika, vielleicht über Paris – und als wäre ein mnestischer Staudamm geborsten (ich kann es leider nicht nachprüfen, aber ich glaube, dass ich dieses Bild schon einmal verwendet habe, oder ein ähnliches, der Staudamm kommt mir irgendwie bekannt vor, machen Sie sich nichts draus – wie geht der Satz weiter?), strömten die Erinnerungen in die ausgetrocknete Niederung meines Geistes. Am meisten sehnte ich mich damals nach dem warmen süßlichen Wind, den die einfahrende Métro vor sich herschiebt, um ihn in die Gänge der unterirdischen Stationen zu pressen. Auch heute kann ich mich stundenlang im Pariser Untergrund aufhalten, Leute beobachten, Frauen, Mädchen, und schon drückt die nächste Métro einen weiteren Tubus aus aromatisch nach Maiglöckchen duftender Luft in die Station. Die Haare einer schönen Französin flattern, zwischen den Gleisen quietschen die Ratten, der Geruch schiebt sich warm die Treppen hinauf, streicht die gewundenen Gänge entlang, bewältigt die letzte Hürde (das Drehkreuz) und umarmt den glücklichen Reisenden, der zwischen Jugendstillaternen eine steile Treppe hinabsteigt, umgibt ihn mit Wärme und Geborgenheit, flüstert ihm zärtlich ins Ohr: Endlich hast du ihn gefunden, Geliebter, den wahren Körper der Stadt.

Der Geruch der Métro hat diese annähernd magische Bedeutung für mich, seit ich vierundzwanzig war: So hatte Susanne gerochen, als wir uns kennenlernten. Danach roch sie nie wieder so, aber stets umgab sie die Ahnung dieses Geruchs wie eine Fertigkeit, die sie, hätte sie nur gewollt, leicht wieder erlernen könnte. Welches Parfüm sie damals benutzt habe, fragte ich häufig, und Susanne rollte die Augen: «Das haben wir doch schon tausend Mal besprochen! Wenn ich in Paris überhaupt ein Parfüm benutzt habe, dann das, das ich heute immer noch benutze.» Meist machte sie mir danach den üblichen Vorwurf («Du lebst zu viel in der Vergangenheit!»), aber damals, als wir uns kennengelernt hatten, roch sie wirklich nach Métro, nach Paris. Allmählich verblasst der Flur der Fahlmannschen Wohnung, Om, ein gläsernes Phantom, hechtet durch die Katzentür, die Holzklappe winkt mir zu, ehe sie zu einem nach verbranntem Gummi riechenden Nebel wird, der unter einer bremsenden Métro aufsteigt, und ich bin wieder vierundzwanzig und in Paris.

«Wie lange bleiben wir?» – «Bis das Geld alle ist, Mann!»

Als ich vierundzwanzig war, hatte ich mit Achim eine alkoholisierte Woche im Empire-Hôtel verbracht, dessen verschlissene Läufer und blasenwerfende Tapeten zwar nicht so recht zu dem hochtrabenden Namen passten, aber einen guten Hintergrund für den film noir abgaben, zu dem unser Leben geronnen war. Als waschechte Westentaschen-Marlowes genossen wir den Charme des Hotels, bewunderten die attraktive Concierge und amüsierten uns über das würgende Gepoche der Heizungsrohre. Ich schrieb schon seit einigen Jahren – aber kaum besser als R. S. Prather. Die Nacht ist eine Negerin und setzt sich auf den Eiffelturm. Auf solche Sachen fuhr ich damals ab, und ich kann von Glück sagen, dass ich meine bescheidenen Pastiches, in die ich das Leid eines frauenarmen Daseins zwängte, nicht in alle Welt verschickte. Meine knallharten Detektive («Findste nicht, die .45er ist ne Nummer zu groß für dich, Puppe?») ermittelten im Nachttisch, meine außerirdischen Mörder («Die Probleme mit dem Materie-Transmitter sind noch gar nichts im Vergleich zum Totalausfall des Realweltkonapters!») atmeten Methan in einer Pappschachtel unterm Bett, und ich, der Größte, der Beste Alles, der Dichter auf Reisen, füllte mein Parisnotizbuch mit Bonmots (Die Nacht ist eine Negerin und siehe oben), Story-Ideen (Welt = Buch), autobiographischen Fragmenten (in der Grundschule Fahli genannt), und sobald die Concierge (Flachlegen!) vom Formular aufsah und mich nach meinem Beruf fragte, antwortete ich bescheiden: «Je suis un écrivain.» Mein Auftreten als Schriftsteller war Achim peinlich; aus verständlichen Gründen, wie ich an jenem Junitag fand, als mich die Erinnerung an eine frühere, unbeholfenere Version meines Ichs ein wenig ins Schwitzen brachte. Niemand kann sich lächerlicher benehmen als ein Schriftsteller, der beginnt, sich berufen zu fühlen, schrieb ich ins Notizbuch, denn was er für den zarten Gesang der Muse hält, ist nur das Surren einer Selbsttäuschungsmaschinerie, die mit zwei Extraportionen EITELKEIT, DUMMHEIT und UNVERMÖGEN geschmiert wird.

«Alors», bemerkte ich bedächtig (Flachlegen! Flachlegen!), «je suis un écrivain allemand inconnu.» Französisch sprachen wir übrigens beide nicht gut: Achim, weil er behauptete, kein Talent für Fremdsprachen zu haben; ich, weil mir eine altjüngferliche Oberstudienrätin die Liebe zur französischen Sprache ausgetrieben hatte. Betrat sie das Klassenzimmer, verkündete sie salbungsvoll: «Bonjour, mes élèves!», und wir hatten wie ein Mann aufzuspringen und zu antworten: «Bonjour, mon professeur!» In der Oberstufe wurde das traurige Ritual auf eine vertraulichere Stufe gehoben. «Bonjour, mes amis!», gab sie nun vor, Stühlerücken, Aufspringen, und alle brachen in den Ausruf aus: «Bonjour, madame!» Mehr gibt es zu dieser Person nicht zu sagen. Ihr Name sei Vergessen! Écoute, George, mon petit ami! Écoute! Grâce au téléphone, on peut parler à quelqu’un, qui est loin. Écoute! Achtmal zitterte der vibrateur drôle auf meinem Schoß, dann gab er Ruhe, und ich stellte ihn zurück aufs Telefontischchen, von wo aus er gemeinsam mit seinem Spiegelzwilling eine großartige Aussicht auf die Weltkarte hatte. Filzstiftkreuze. Eins westlich von Bordeaux am Meer. Ein anderes teilte Paris in vier gleichgroße Tortenstücke … Scheiße, ich hätt doch drangehen sollen. Vielleicht wars Inge. Das Klappern und Rummsen einer größeren Sarglieferung erfüllte den Hof; vom Telefontisch aus sah mich ein leerer Joghurtbecher an, darin langweilte sich ein kleiner Löffel, vorm Schirmständer war ein Tempotaschentuch beim Purzelbaumschlagen erstarrt: übliche Indizien für ein Zusammenleben mit Susanne, und mich zog es erneut zurück nach Paris.

In jener denkwürdigen Woche folgte unser Tagesablauf einem beruhigend gleichförmigen Ritual. Morgens standen wir gegen neun auf, versuchten, den Kater wegzuduschen, nahmen im Foyer ein karges Frühstück ein, das aus einer Schale café au zu viel lait und einem unterarmlangen Stück trockenen Baguettes bestand, und rauchten danach vor einem hotelnahen Café-tabac die erste Zigarette des Tages, zu der wir einige Espressi in die Knie zwangen. Mittags gab es überteuerte Monacos in der Innenstadt, nachmittags Pastis bis zum Abwinken, und abends war es endlich soweit. Wir fischten kühle Bierdosen aus dem wassergefüllten Bidet, packten sie in eine Tüte und gingen zur Treppe vor der Sacré-Cœur. In ganz Paris gibt es keinen besseren Platz, um sich zu besaufen, als diese breite, aus der Rue du Cardinal Dubois emporwachsende Treppe, deren oberste Stufe in den Parvis du Sacré-Cœur übergeht, ein schmales Sträßlein, hinter dem eine knochenbleiche, zum Lobe des Herzen Jesu errichtete, bucklige Scheußlichkeit den Montmartre verschandelt.

Das architektonische Ungetüm im Rücken überblickt man Paris, es wird dunkel, Licht steigt aus den Straßen, bildet eine schimmernde Kuppel, hält die Nacht von den Zinkdächern fern, den Antennenwäldern, den tönernen Stummelarmen auf den Schornsteinen; dort drüben bohrt sich der Eiffelturm in den Abend, die Nacht ist eine Negerin, notiere ich, Achim betrachtet mich misstrauisch, alles, was mit dem Schreiben zu tun hat, ist ihm peinlich, und setzt sich auf den Eiffelturm, vor uns dümpelt das Centre Pompidou im erstarrten Häusermeer, hübsche Mädchen auf den Stufen, schau mal die zwei dort unten, take the highway to the end of the night, Rekordermusik, Gelächter, end of the night, Schwarze bieten stinkende Lederwaren feil, arabisch aussehende Burschen schieben große Nasen zwischen den Touristen umher, verkaufen Haschisch, schnorren Filterzigaretten, schielen nach Geldbeuteln, die zu weit aus Gesäßtaschen ragen und schmeißen sich an alles ran, was nur einen Hauch von Brustansatz hat; dann und wann hetzt ein wild in alle Himmelsrichtungen knipsendes Oma-Opa-Geschwader zwischen den jungen Menschen durch; bald wird der Park gesperrt; dann erreicht man die Treppe nur noch per Lift oder über einen dunklen Aufgang links der verpissten Grünanlage; die Tüte leert sich; schade, jetzt gehen die beiden Schätzchen; hinter uns fahren halbstündlich zwei Polizeiwagen vor, kreuzen die Lanzen der Scheinwerfer zur Lichttjost, halten quietschend vor der Sacré-Cœur, Aufregung, Sachen zusammenraffen, ab ins Gestrüpp, und kaum sind die Flics weg, bieten die Straßenhändler wieder ihren Krempel feil: Modeschmuck, Holzelefanten, geklaute Uhren; ist die Tüte dann leergesoffen, kaufen wir kaltes Bier bei den Eimermännern, zehn Francs die Dose, und man darf sie sich selbst aus einem Eimer voller gestoßenem Eis fischen; ja, das war unsere Treppe; hier betranken wir uns jeden Abend und schwankten gegen Mitternacht zurück ins Hotel.

 

Na, Jungs, schien der abgeklärte Blick des Nachtportiers zu sagen, heut mal wieder keine abgekriegt? Kein Wunder, wenn man das ganze Bidet voller Bierdosen hat! Vielleicht seid ihr sogar schwul. Schwule, deutsche Schriftsteller. Schriftsteller sind ja meistens schwul. Gott, ist mir heute langweilig! Mit einer müden Bewegung schob er mir den Schlüssel zu und flüsterte, als wir auf den Aufzug warteten, hast du das gesehen (ich), was (Achim), er hat so eine Art Messingrohr aus der Wand geklappt und etwas reingeflüstert (ich), hahaha (Achim), ohne Scheiß (ich), Spinner (Achim), eine Art Messingrohr (ich), du bist knülle, Georg (Achim), ich habs aber wirklich gesehen (ich), klar (Achim), gehn wir morgen wieder zur Treppe (ich), logo (Achim), wie viele Dosen liegen noch im Bidet (ich), noch zwei (Achim), bingo (ich).

Das Unfassbare geschah am vorletzten Abend. Zwei Stufen unter uns saßen zwei Mädchen, die mir schon am Vortag aufgefallen waren. Achtzehn, höchstens neunzehn. Hatten wahrscheinlich gerade Abitur gemacht. Die Blonde gefiel mir am besten. Irgendwie ließ sie mich an Dänemark oder Schweden denken. Die andere sah aber auch nicht übel aus. Sie hatte schwarze Haare und trug keinen BH. Wurden ihre Nippel steif, stieß mir Achim den Ellenbogen in die Seite. «Und die Frauen?», würde man in Mollingers Eck fragen. «Ja, die Frauen», würden wir uns wissend geben, und alle wüssten sofort, dass die Jungs mal wieder keine abgekriegt hatten. «Ihr seid zu schüchtern», würde man die Hasenfüße sodann belehren, deren Leben sich langsam aber sicher in eine Komödie quälender Konjunktive verwandelte. Das klingt verzwickt, aber das, was ich ursprünglich schreiben wollte, hätte noch viel verzwickter geklungen, obwohl es der Wahrheit wesentlich näher gekommen wäre. Auch das klingt verzwickt. Zu verzwickt? Weiter! Dass wir mit den Mädchen überhaupt ins Gespräch kamen, verdankten wir einem aufdringlichen Maghrebiner. Der virile Messerstecher quasselte sie in kehligem, gebrochenem Deutsch voll (wahrscheinlich arbeitete sein Bruder in Ludwigshafen), fasste der Schwarzhaarigen beim Reden ans Bein (was diese gar nicht mochte), versuchte Zigaretten zu schnorren (die Mädchen rauchten nicht), schlug vor, einen Kaffee trinken zu gehen (die Mädchen wollten nicht), stand noch eine Weile wölfisch grinsend da, um seiner Niederlage einen heroischen Anstrich zu geben, und suchte dann das Weite und hielt mit unwirschem Fingerschnippen Ausschau nach willigeren Opfern. Kaum war er fort, hörte ich mich in einer mittelmäßigen, aber ahnbaren Imitation seiner Sprechweise keuchen: «Deutsch? Chönnes Frhau? Du Urrhlauph marrchen chirch? Urrhlaup in Parchihh?» Die Mädchen fuhren herum, und mir blieb nichts übrig, als weiterzumachen. Dieses Pferd musste totgeritten werden. «Deutsches Frhaus?», fragte ich. Das Pferd hieß Stumpfsinn, und ich war ein irrer Revolverheld auf der Flucht; Kugeln umschwirren ihn wie Bienen den Honigdieb. «Du verchstett?» Ich hieb dem lahmenden Gaul die Sporen in bluttriefende Flanken. «Chönn. Chahhh! Serrh chönn. Wonnen Chotel?» Neben mir begann Achim rötlich zu leuchten.

Die arme Sau! Er war auch ohne Ampelgesicht kein Adonis. Das Haar lang, ungewaschen; der schüttere Schnurrbart sollte sich erst mit den Jahren etwas verdichten; vorstehende Oberlippe, fliehendes Kinn, wie gehabt. Er sah sich gehetzt um. «Wirrh aukch Urrhlaup marrchen!», gab ich kund, merkte, dass ich dabei aufstand, nein, jetzt gibt es kein Zurück mehr, und impulsiv, Hirn ausschalten, setzte ich mich zwischen die Mädchen und maulte Achim an: «Duda nix Brille puhtzen! Du chommen!» Nur in ihrer äußersten Konsequenz konnte die Posse Erfolg haben. Hörte ich jetzt auf, bräche alles zusammen wie ein Charrtenhaus. Und jetzt musste Achim dran glauben. «Chönnes deutsches Frhaus chwollen chredden mit Kuthfreunt Chachim.» Ich schlug mir an die Brust. «Chreorrg!» Die Schwarzhaarige streckte mir lachend die Hand hin, ich schüttelte sie übertrieben heftig, sah dabei die Blonde an, diese hatte jedoch nur Augen für Achim. Für Achim! Das tut selbst heute noch weh! «Chomm, Chachim!», drängte ich. «Chomm!» Er setzte sich auf die Stufe unter uns und blickte gequält zu mir hoch. «Zigarette?», fragte er, schluckte, meinte halblaut: «Ach, ihr raucht ja gar nicht.» Er streckte mir die Schachtel hin, ich nahm eine (natürlich rauchten wir damals Camel) und ging aufs Ganze. «Wie heißt ihr?», fragte ich in meiner normalen Stimme. «Susanne», sagte Susanne. «Hi!», sagte ich. «Und du?», fragte ich die Schwarzhaarige – das nächtliche Paris beginnt zu flackern, ein Eimermann ähnelt bereits dem Schirmständer, über den Hecken bewahren straff gespannte Längen- und Breitengrade die Kontinente davor, aus der Weltkarte in den Flur zu fallen und auf den gläserenen Stufen der Treppe zu zerschellen. Ich höre zwar noch, wie mir die Schwarzhaarige ihren Namen sagt, doch was sie sagt, klingt wie: «Gra? Gra? Gra?» Wisset! Viele Zimmer meines Gehirns sind abgesperrt. Wisset! Böse Kobolde haben die Schlüssel für alle Zeiten verlegt. Wisset! Meine Erinnerungen vermodern auf strohbedeckten Pritschen. «Gra? Gra? Gra?», lachte also die Schwarzhaarige, Nebel, Nebel, Nebel, jedenfalls saßen wir noch eine Weile auf der Treppe, tranken dann, glaube ich zumindest, etwas am Boulevard de Rochechouart – Pastis? Rotwein? – und teilten uns schließlich Achims Schokokekse im Hotelzimmer. Das Bild wird erst wieder scharf, als Achim, der schon die ganze Zeit auf die Namenlose eingetuschelt hatte, uns stolz in Kenntnis setzte: «Wir gehn mal kurz um den Block!»

Und sie ließen mich mit Susanne allein im Hotelzimmer. Ihre hautenge Jeans verschlug mir die Sprache. Der ganze Raum rotierte um die Kerbe zwischen den muskulösen Schenkeln. «Mir ist heiß», sagte sie und öffnete die Flügeltüren des Fensters. Nach einem halben Meter prallte die Aussicht an die Backsteinwand des Nachbarhauses. Ich begutachtete Susannes Hintern und wagte nicht, mich aufs Bett zu setzen, weil das als eindeutiger Vorschlag aufgefasst werden könnte. Ich war damals zwar keine Jungfrau mehr, aber noch kein sexueller Routinier, nein, ich will ehrlich sein, will einmal ehrlich sein, das wurde ich nie. Husten ist gut, dachte ich und hustete recht glaubwürdig. Susanne drehte sich um. «Was machst du denn so?» – «Ich schreibe.» – «Was schreibst du?» – «Abenteuergeschichten und so Zeugs.» – «Das find ich ja toll. Ehrlich? Kein Witz?» – «Ehrlich.» – «Ich hab noch nie jemand getroffen, der schreibt.» Jemanden, dachte ich, setzte mich aufs Bett, das quietschende Wellen warf, fragte: «Und was machst du?» – «Studieren. Biologie und Sport.» – «Ah, eine Sportlerin!», bemerkte ich dümmlich. In einer Etage über uns wurde mehrmals hintereinander die Klospülung betätigt, ich lachte verlegen und betrachtete den durchtrainierten Körper am hüfthohen Fenstergeländer. Nein, das würde nichts werden, sie war zu schön für mich, zu jung. Wieder rauschte die Klospülung, und eine gewaltige Marzipankartoffel rutschte durch das schräge Rohr, das die dem Bett gegenüberliegende Wand teilte. Mädchen wie Susanne hatte ich mein Leben lang nachgegafft, solche Mädchen saßen rauchend in den Cafés auf dem Campus, und wieso sollte sie?

Sollte sie mit mir? Ich wünschte, Achim wäre nicht fortgegangen! Aber war es nicht ungeheuerlich, dass dieses Mädchen überhaupt mit mir redete? Konnte ich davon nicht in fünfzig Jahren meinen ehrfürchtigen Enkeln berichten? «Und das stimmt wirklich?», würden sie mit großen Augen fragen, und ich würde gerührt ins Schnupftuch schnauben und ihnen antworten: «Jedes Wort davon ist wahr!» – «Und was hast du dann gemacht, Opa?» – «Nun, dann habe ich beschlossen, ein wenig Smalltalk zu machen.» – «Smalltalk mit einer Göttin!» – «Ja, warum denn nicht? Stinknormalen, unverfänglichen Smalltalk eben.» Seltsam, aber so steht es geschrieben. «Studierst du auf Lehramt?», fragte ich. Susanne nickte, machte das Fenster zu, schlenderte durchs Zimmer, mein aufgeklappter Koffer geiferte sie an, Achims Reisetasche kniff böse die Lippen zusammen, über der Stuhllehne hingen stinkende Socken, Susannes Blick blieb am Chandlerstapel auf dem Nachttisch kleben. «Kannst du vom Schreiben leben?» – «Nein.» Betroffen: «Noch nicht. Ich studiere auch.» – Sie sah mich abwartend an. «Germanistik», sagte ich. «Magister.» – «Klingt ja nicht gerade begeistert. Darf ich?» Sie setzte sich zu mir aufs Doppelbett, die Matratze bekam einen Epileptischen und hüpfte, während mir das Blut in den Kopf schoss, quietschend auf und ab, und da roch ich es: Susanne roch nach Métro! Sie roch nach Paris!

Auf einmal spielte meine Hand in ihrem Haar, und kurz darauf – danach wussten wir beide nicht, wie es dazu gekommen war – küssten wir uns. Etwa eine halbe Stunde später klopfte es zum ersten Mal an der Tür. Wir ignorierten es. Das Klopfen wurde eine Konstante in dieser Nacht. Am nächsten Tag war Achim stinksauer: Susannes Freundin hatte sich lediglich zu ihrem Hotel begleiten lassen. «Nur knutschen! Ich durfte ihr noch nicht mal an die Titten langen!» – «Wo hast du denn geschlafen?» – «Das geht dich einen Scheißdreck an!», knurrte er, doch nach einigen Wochen hartnäckiger Bohrarbeiten erfuhr ich die ganze Geschichte. «Nachdem ich also gemerkt hab, dass unser Zimmer zur Spermazone geworden ist, hab ich lange unten im Aufenthaltsraum rumgesessen. Die Glotze war natürlich kaputt! Und weil du mir ja nicht aufmachen wolltest, hab ich mich, da wurds schon wieder hell, im ersten Stock in einer Besenkammer verkrochen. Wenn du die Alte nicht geheiratet hättest», schloss er, «hättest du was erleben können.» Und wieder sehe ich Susanne im Bad verschwinden, nur mit einem Höschen bekleidet, Wasser rauscht, und als sie nackt zu mir unter die Decke gleitet, fühlt sich ihre Haut kühl und marmorglatt an. «Du riechst gut», sage ich. «Du riechst nach Métro.» Grandma Fatum (ich stelle sie mir gerne als eine kleine, apfelbäckige Zeichentrickoma vor) hatte aber noch einen weiteren Trumpf im Ärmel, denn in jener Nacht stellte sich heraus, dass Susanne ganz in der Nähe meiner Heimatstadt wohnte. «Wie findest du sie?», fragte ich Heinz nach unserer Rückkehr. «Du willst sie wirklich heiraten?» – «Klar!», sagte ich. «Muss ich.» – «Dann pass ich auf, was ich sag. Nun, ich find, dass sie, na ja, sie passt zu dir. Sie ist ne klasse Frau. Onkel Jörg hat gemeint, nein», Heinz schüttelte den Kopf, «das darf er dir selbst sagen (dasderferdierselbertsahn). Aber ich glaub, er findet sie auch klasse.» Achim bekümmerte es natürlich, dass ich eine Woche nach der Hochzeit die WG verließ und mit meiner Frau zusammenzog, aber da ich mich auch weiterhin regelmäßig mit ihm in Mollingers Eck traf, trug er es mit Fassung. Meine Eltern dagegen waren überglücklich. «Die Verantwortung wird dir gut tun», sagte Vater, und Mutter meinte: «Ein Kind im Haus hält jung.» Sie bemühte sich, nett zu Susanne zu sein, aber schon damals hatte ich den Verdacht, dass sich Mutter hauptsächlich auf das Enkelkind freute.

Ich sollte Großvater nachher erzählen, wie ich Susanne kennengelernt habe. Schreiben konnte ich ja heute Nacht, wenn meine Familie im Bett lag. Zwei Seiten Entwurf wären keine schlechte Ausbeute, zwei Seiten Entwurf ohne Außerirdische; die durften nämlich erst in der Mitte des Romans auftauchen, wenn es zu spät wäre, um noch etwas zu ändern. Alle Lektoren würden aufspringen und rufen: «Ja, wer sagts denn! Außerirdische! Die haben uns gerade noch gefehlt! Toll, wie er jetzt die Außerirdischen ins Spiel bringt! Ein mutiges, ein lesenswertes, ein methanatmendes Buch! Hardcover, zwei Lesebändchen, Spotlackierung! Hut ab, Herr Fahlmann! Haben Sie schon eine Idee fürs Titelbild?» Betrachtet man sein gespiegeltes Gesicht in der Rückseite eines Löffels, ist es langgezogen; betrachtet man es in der Vorderseite des Löffels, steht es Kopf. «Was machst du da?»

«Ich schaue mich in einem Löffel an.»

Jens schleuderte den Ranzen in sein Zimmer. «Warum machst du das?»

«Keine Ahnung. Ich hab keine Ahnung.» Schon wieder hatte ich mir einen Vormittag um die Ohren geschlagen! Ging das so weiter, schrieb ich noch dreißig Jahre lang an meinem Roman, dreißig Jahre Spitzbergenzeit, und dort sind die Tage so kurz und unnütz wie die Nächte lang und schlaflos, und können die Leute dort nicht schreiben, kucken sie sich so lange in kleinen Metalllöffeln an, bis ihnen schwindlig wird. «Kennst du die Wörter ‹konkav› und ‹konvex›?» Jens kannte sie nicht, und Papa Fahlmann begann zu erklären; dann machte ich uns Rührei mit gebratener Salami.

Liebe Jasmin,

ich weiß nicht, was aus uns werden soll. Ich wage es einfach nicht, mich Dir zu erkennen zu geben, weil ich Angst habe, dass Du dann enttäuscht sein könntest. Aber vielleicht ahnst Du ja längst, wer ich bin, und wagst ebenfalls nicht, mich anzusprechen, und wenn ich dann vor Dir in der Bäckerei stehe – – – doch genug gejammert! (…) Zum Abschluss sollte ich Dir vielleicht eine kleine Anekdote erzählen. Vor einigen Tagen habe ich im Bus eine Person gesehen, die mir seltsam bekannt vorkam. Hastig durchwühlte ich die Kisten und Kästen in der Dachbodenkammer mit den abgelegten Erinnerungen und tatsächlich: Da war er! Ich kannte ihn von einem Kindergeburtstag, hatte ihn ein einziges Mal in meinem Leben gesehen, gut 23 Jahre her (Hoppsa! Jetzt kannst Du Dir ja mein Alter denken!). Sogleich fiel mir auch sein Name ein: Anselm. Und plötzlich erinnerte ich mich an ein weiteres erstaunliches Detail: Anselm aß keine Eier. Man hatte damals Extrakuchen für ihn backen müssen, und als ich dies Achim, meinem angetrunkenen Saufkumpan, erzählte, ritten uns alle Teufel der westlichen Hemisphäre gleichzeitig, und wir begannen halblaut zu orakeln: «Anselm!», zischten: «Eierkuchen!» (seine Zeitschrift zuckte besorgt zusammen), blökten: «Anselm Ei!» Tja, so bin ich. Jedenfalls manchmal. Ich kann mich Dir zwar noch nicht zu erkennen geben, aber wenn Du eine vage Vermutung haben solltest, wer ich sein könnte, dann sei bitte so gut und gib mir ein Zeichen. Bitte!

 

(D)ein unbekannter Freund

Hoffentlich verstand sie Spaß! Curbel Gölmop, der hummelkleine Held der Gutenachtgeschichten, die Jens so liebte, hätte seiner Angebeteten den Brief höchstpersönlich überbracht. Lauthals «Banzai!» oder «Nasenbutt!» schreiend wäre er, das rote Plastikeimerchen unter dem Arm, in die Bäckerei geschwirrt. Nanu! Liebesbrief materialisiert in mehliger Hand. Liebesbriefe aus dem Nichts, der neue Kriminal-Bestseller von R. S. Prather. Ich tätschelte den Briefkasten, das würde mir Glück bringen, und ließ mich auf eine Parkbank fallen. Da mich Großvater erst in … Moment … achteinhalb Minuten erwartete, schien mir der geeignete Augenblick für eine Senior Service gekommen zu sein. Ich schloss die Augen, bewunderte die verzweigte Flusslandschaft auf den beiden Infrarotaufnahmen des Nildeltas, langsam verging der köstliche Schwindel (einer der Vorteile, wenn man ansonsten fast nur milde Zigaretten raucht), und ich nahm einen zweiten Zug. Von links nach rechts: eine 4711-Oma mit Zwergpinscher. Von rechts nach links: ein Cabrio in einer Hardrockwolke. Schräg hinter mir: ein Mann in Hausschuhen, hemdsärmelig, unrasiert, mit schlapper Zigarette im Mundwinkel auf dem Weg zur Mülltonne. Leute, die beim Laufen rauchen, sind mir nicht geheuer. Während der kultischen Handlung des Rauchens (auf Lunge! auf Lunge!) darf man Kaffeetrinken, ein gutes Buch lesen oder an einem sonnigen Tag mit klopfendem Herzen auf einer Parkbank (gestiftet von der Firma von Geinitz und Söhne) sitzen und sich Jasmins Reaktion auf einen brillanten Brief ausmalen, aber niemals – es ist verboten! – darf man beim Rauchen in der Gegend rumlaufen! Ich weiß nicht, was aus uns werden soll (…) und wenn ich dann vor Dir in der Bäckerei stehe (…) (D)ein unbekannter Freund. Starker Tobak! Vielleicht hätte ich die Anekdote mit Anselm Ei weglassen sollen. Shell Scott gibt Anselm Ei eine harte Rechte auf den Dotter. Würde sich Jasmin über den Brief ärgern? Westliche Hemisphäre, orakeln, da waren doch viel zu viele schwierige Wörter drin! Ich schnippte die Kippe in den Rinnstein, machte mich auf den Weg und bog Schlag vier in die Platanenstraße ein, wo sich Großvaters verwahrlostes Reihenhaus schuldbewusst zwischen seine adretten Geschwister quetschte. Den vorgärtlichen Urwald umkreiste der Unmut der Nachbarschaft.

Am Gartenzaun protzte ein Mountainbike mit seinen überflüssigen Gängen. Auf dem Fußabstreifer verabschiedete Großvater den Radbesitzer, einen jungen Burschen mit weichem, dichtem Schnurrbart. Ein Taschenbuch in der Hand kam er mir auf dem Gartenweg entgegen, Konfusion, wir wichen einander in einem ratlosen Tänzchen aus, er nickte, ich nickte reserviert zurück, nahm die drei Stufen zur Haustür mit einem Schritt. Sichtlich desinteressiert taumelte eine wohlgenährte Hummel um auf- und abwogende Hände, brummte in behäbiger Eleganz Richtung Innenstadt davon. «Schön, dass du gekommen bist, Georg!» Großvater klopfte mir auf die Schulter und flüsterte: «Der Zivildienstleistende vom fahrbaren Mittagstisch. Er liest gerne.» Ich versuchte, meine Betroffenheit zu verbergen: Großvaters Atem roch nach Alter und Krankheit. Der Junge schwang sich aufs Fahrrad und hob, bevor er in die Pedalen trat, grüßend den Arm. Großvater winkte ihm nach; unwillkürlich glitt auch meine Hand in die Höhe. Ein Stock! Nicht nur Großvaters Atem bekümmerte mich. Er stützte sich auf einen Stock! Nie zuvor hatte er einen Stock benutzt! Vor einigen Monaten hatte sich in seinen Augen sogar ein heller, weißgrauer Kornealring zwischen der Irisgrenze und der Iris gebildet, ein Ehering des Todes, den wir Mediziner in unserem grausamen Jargon Arcus senilis nennen.

«Wollen wir nicht reingehen?»

«Nach dir!», sagte ich und ließ ihm den Vortritt. Im Haus roch es nach Büchern und frischgebrühtem Tee, also nach Bilbo Beutlins Hobbithöhle, aber darunter witterte ich etwas, das ich von der Arbeit kannte: So roch es in den Wohnungen, vor denen Heinz den Transit parkte.

«Allmählich steigere ich das Niveau.»

«Was?»

«Das Niveau», wiederholte Großvater und berichtete mir, welche Bücher er dem jungen Mann bisher geliehen habe. Dabei quälte er sich die Wendeltreppe hinauf, auf deren Stufen Büchertürme und Zeitungsberge lagen. Die eigentliche Heimat der Bücher befand sich jedoch im Obergeschoss. Wir durchquerten das Arbeitszimmer und betraten den Wintergarten, Großvaters Lieblingsraum, wo er zwischen Topfpalmen an einem schmalen, spinnbeinigen Lesetisch zu sitzen pflegte, auf dem nun eine Plastikschale mit meinen Lieblingskeksen stand. Außer dem Tisch und den beiden Klappstühlen gab es in dem lichten Raum (für mich seit jeher die verglaste Brücke der Hispaniola) nur zwei weitere Möbelstücke: Unter dem Fenster, durch das man in den Bücherkosmos des Arbeitszimmers blickte, eine durchgesessene Couch, auf der ich als Kind nach Herzenslust hatte herumspringen dürfen, und in der Ecke daneben ein kleiner, mit trommelförmigem Holzrouleau verschlossener Schreibtisch auf geschwungenen Messingfüßen, ein sogenanntes Zylinderbureau. Nur durch einen Zufall (Plane, herabgefallene Gipsbrocken) war dieses Möbelstück im urgroßelterlichen Kontor verblieben, ohne von den Nazis konfisziert worden zu sein. Bei dem mysteriösen Umzug ins Saarland hatte Großvaters Gepäck aus drei Reisekoffern bestanden, auf denen in meiner Phantasie apfelgrüne New-York-Aufkleber prangen, und eben diesem Zylinderbureau. Ich verwende das Epitheton «mysteriös» mit Absicht, denn es ist mir schleierhaft, wieso Großvater erst von New York nach Kiel und von dort aus in die meerlose Provinz zog, wo Menschen Tag für Tag in die Erde hinabfahren, um Staub hustend Kohle zu brechen, wo Menschen Tag für Tag in extraterrestrischen Hüttenanlagen unansehnliche Erzklumpen zu rotglühendem, die Augenbrauen versengendem Brei schmelzen, wo sich die Menschen in dumpfen Kneipen um den Verstand saufen und wo es Bier in Literflaschen zu kaufen gibt. Die Zeit häuft so viele Fragen an und füllt damit Seite um Seite eines großformatigen Katalogs, aber längst sind die Antworten auseinandergestoben wie ein Haufen Herbstlaub, in den ein pathetischer, bedeutungsvoller Wind fährt. Ein zu pathetischer Wind, fürchte ich, aber letztendlich sind alle Wahrheiten so lächerlich banal, dass man nur in Rätseln darüber sprechen darf, und je weiter sich die Rätsel von den Antworten entfernen, desto erträglicher wird unser Reden. Schmiegen sich die Rätsel dagegen so eng an die Wahrheit, dass man die Konturen ihres Skeletts unter den bunten Draperien erkennen kann, schämt man sich jeden Wortes, zu dem man sich hat hinreißen lassen, schämt sich des erbärmlichen Wissens, das man mit aller Welt teilt, und spricht am besten weiter, als wäre nichts geschehen.