Fahlmann

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Außerdem», zitierte ich aus unserer Werbebroschüre, um Winkler zu beeindrucken, «beinhalten die Preise innerörtliche Überführung, Sargausstattung (Decke, Kissen, Standardbekleidung), Einbetten, Erkennungskreuz, Deckelkreuz, Deckelstrauß, Erledigung aller Formalitäten und Besorgungen sowie Betreuung vor, während und nach der Trauerfeier, was natürlich völliger Stuss ist. Betreuung nach der Trauerfeier! Ich weiß nicht, was Onkel Jörg sich dabei gedacht hat! Etwas teurer als der Einfache Kiefernsarg ist unser Kiefernsarg, hier muss man schon 1.825,– DM berappen. Wesentlich kostspieliger sind altdeutsche Eichensärge und besonders die schicken Designersärge in italienischer Bauart. Ein Nussbaumsarg kostet 4.395,– DM, ein Mahagonisarg 5.330,– DM, aber der absolute Spitzenreiter ist ein Geschoss mit Wänden aus 6 cm starkem Nussbaumholz für satte 8.145,– DM, ein Prachtsarg, in dem sich, laut Katalog, die hohe Kultur eines noblen Stils spiegelt.» Das Thema begeisterte Winkler, aber bei jemandem, der glasige Augen bekam, wenn er von indizierten Splatterfilmen sprach («Einmalige Gelegenheit! US-Export!»), deutete eine unschuldige Frage wie «Was bitteschön ist ein Erkennungskreuz?» auf mehr als nur höfliches Interesse hin. «Eine Art Tafel», antwortete ich, «die anzeigt, wo der Tote liegt, bevor man den Grabstein aufstellen kann.» Winkler machte eine ungeduldige Handbewegung, und ich führte aus, dass man mit dem Aufstellen des Grabsteins einige Wochen warten müsse, bis sich der Boden gesetzt habe.

Ob es normal ist, dass Menschen, zu denen man kein herzliches Verhältnis hatte, in der Erinnerung rascher zur Karikatur werden? Heute nämlich scheint mir der Schauspieler, der im Schattentheater meines Gedächtnisses den Winkler gibt, ein gnadenlos übertreibender, drittklassiger Schmierenkomödiant zu sein. Er bewegt sich schwerfällig; seine näselnde Sprechweise vermittelt den Eindruck ständigen Gekränktseins; er hängt in den Polstern des Wohnzimmersessels wie eine schlaffe Puppe, die sich bemüht, gleichzeitig wissend, gelangweilt und desinteressiert auszusehen. Auf der Suche nach der Bierdose krabbelt seine Hand spinnengleich über die Dielen … erst der Sessel hat Gestalt angenommen … auf einem Puzzlestück des Holzfußbodens … rotbraune Wellenlinien umgeben langgezogene Ovale … die Maserung ähnelt den Abbildungen von Höhenschichten in einem Schulatlas … unter den vorderen Sesselfüßen erkenne ich die Bierdeckelstapel, mit denen wir die leichte Neigung des Hauses ausgleichen – und da heben sich die Kulissen des restlichen Wohnzimmers aus dem Nebel, verlieren ihre Durchsichtigkeit und gehen vor Anker, während fleckige Dielen unter dem Sessel hervorschießen und am Bühnenrand auf eine hölzerne Scheuerleiste prallen, von der seit unserem Einzug die Farbe blättert. Man kann ihn bisweilen steuern, diesen rätselhaften Mechanismus des Erinnerns. Nun sehe ich das Wohnzimmer wieder klar vor mir, sehe Winkler, der mit dem Rücken zur geschlossenen Flurtür Hof hält; links von ihm führt eine angelehnte Tür in die Küche; ihm gegenüber steht die Couch, auf der ich mit übereinandergeschlagenen Beinen sitze – am jähen Abgrund des Orchestergrabens. In der Ecke hinter Winklers rechter Schulter nehmen die Blätter eines deckengreifenden Ficus benjamina dem ungeduldig hüstelnden Publikum den Blick auf meine «seriösen» Bücher; ein Platzanweiser mit weißem Haar deutet in nicht nachvollziehbarer Erregung auf Susannes Schreibtisch (rechter Bühnenhintergrund); davor erhebt sich der schwarze Turm der Stereoanlage; und vorne, fast schon auf der Vorbühne, rankt sich Topfefeu zum blinden Auge des Fernsehers hinab. Die Blumenampel ist fast so alt wie Jens (Susanne hat den Makramee-Kurs ein halbes Jahr nach seiner Geburt besucht um ihrer Schwangerschaftsdepression Herr zu werden) …

WINKLER Du musst Vorell lesen!

FAHLMANN Wen? Sinnend betrachtet er die Sacknaht am Filter seiner Zigarette.

WINKLER schnaubend: Vergiss es! Lies weiter Karl May!

FAHLMANN Ich lese nie Karl May!

WINKLER Karl May ist klasse!

Ich rieche den Qualm seines Zigarillos, sehe schwarzes, kurzes Haar, eine spitze lange Nase, er sieht wie ein dicker Igel aus, nein, Tiervergleiche sind nicht erlaubt, streichen wir den Igel. Winkler scheint einer Boulevardkomödie entsprungen zu sein: schmuddeliger Stoppelbart, Lederkette mit faustgroßem Mandala-Anhänger, offenes Hawaiihemd. Beugt er sich vor, sieht man speckige, spitze Brüste mit langen Haaren um die Warzen. «Karl May ist klasse!» Er springt auf, zieht die ständig rutschende Hose hoch und bückt sich so abrupt nach der Bierdose, dass sein Cord-Gilet emporfliegt, um ihm fledermausgleich in den ausrasierten Nacken zu flattern. Den eingedosten Fang gepackt plumpst Winkler in die Polster zurück, nimmt einen Schluck, unterdrückt einen Rülpser der Mittelgewichtsklasse und behauptet unvermittelt: «Connery trinkt als James Bond Dom Pérignon, der arme Roger Moore muss dagegen mit Bollinger Vorlieb nehmen. Aber was will man schon von einem Mimen erwarten, der ein Kassengestell auf der Nase hat!» – «Trägt Moore in den Bond-Filmen eine Brille?» – Winkler studiert die Nachtansicht von Paris über der Couch und ignoriert meine Frage. Nur selten gelang es mir, ihn so geschickt aufs Glatteis zu führen wie mit Roger Moores Brille. Meistens lauschte ich widerspruchslos. Winkler war zwar ein Schwindler, aber ein guter, und ich mochte seine Lügenmärchen. Angeblich war er Mitglied in Vereinen wie Von Herder Airguns Ltd. oder der International Bond Community. «Das sind doch die reinsten Idiotenclubs!», hatte sich Susanne nach Winklers erstem Besuch ereifert. «Und höchst wahrscheinlich geht er da nur hin, weil ihn dort alle ‹Tom› nennen. Wie kann ein erwachsener Mann ernsthaft verlangen, dass ich ihn ‹Tom› nenne?» – «Du brauchst ihn ja nicht ‹Tom› zu nennen.» – «Ich werd mich hüten! Hast du gesehen, wie er mich unentwegt angestarrt hat? Er hat immer versucht, mir in die Ärmel zu glotzen.» Verlegen gab ich vor, es nicht bemerkt zu haben. «In die Ärmel! Das ist doch krank! Warum glotzt der mir in die Ärmel?» Ich versuchte, Susanne in die Ärmel zu glotzen, um es herauszufinden. «Dein Freund Thomas Winkler ist nicht mehr ganz fix in der Birne!

Außerdem ist er ein Klugscheißer. Nenn mich einfach Tom! Was für ein Scheißkerl! Und jetzt fang du nicht auch noch mit der Glotzerei an! Da gibts nix zu kucken! Ich sollte ihn nicht ‹Tom›, sondern ‹die Amöbe› nennen!» Zu Susannes Ehrenrettung muss jetzt zweierlei gesagt werden: Sie nannte ihn nie in seiner Anwesenheit «die Amöbe», und es fiel einem wirklich nicht leicht, ihn zu mögen, wie er da schwitzend im Sessel saß und leere Bierdosen zerdrückte. Sogar Om konnte ihn nicht leiden. Pingpongbälle, die ihm Winkler zuwarf, waren uninteressant, und selbst die Kordel, die Winkler in Pfotenreichweite baumeln ließ, war langweilig. Susanne stank es außerdem, dass Winkler Zigarillos rauchte (seltener Zigaretten) und noch am nächsten Tag als Rauchgespenst in den Vorhängen hing. «Wenn die Amöbe da ist, qualmst du munter mit!», warf sie mir oft vor, denn das Wohnzimmer war normalerweise Rauchfreie Zone; ich rauchte nur in der Küche oder auf dem Dachboden – in der ständigen Hoffnung, dass Jens es nicht mitbekam. «Ich kann meinen Gästen wohl kaum das Rauchen verbieten!» – «Deinen Gästen!», spottete Susanne. – «Und da Winkler ohnehin raucht, kann ich getrost mitpaffen. Es spielt keine Rolle, ob es nach einer oder zwei Zigaretten mehr oder weniger riecht.» – «Ich will nicht, dass die Amöbe mit Jens spricht.» – «Das will ich auch nicht.» – «Was findest du an ihm?» – «Er ist klug», sagte ich und war heilfroh, dass sie nichts von seiner Vorliebe für harte Horrorfilme wusste. «Er ist belesen. Er hat Witz. Und ich schätze ihn, weil er schreibt. Wohlgemerkt, weil er schreibt, nicht wegen der seltsamen Sachen, die er schreibt, obwohl sein neustes Projekt von faszinierender Dreistigkeit ist. Um es kurz zu machen: Ich rede mit ihm gern übers Schreiben.»

Nicht selten kaute ich mit ihm stundenlang die Perspektive meines Romans durch, die mir viel zu eng an die Hauptperson geknüpft zu sein schien. «Ich weiß nicht, was du hast! Das ist doch hervorragend», meinte Winkler. «Dadurch kommt die Paranoia deines Helden oder seine vermeintliche Paranoia, wie auch immer du das später auflösen willst, besser zur Geltung. Ohne Einblick in ihr Seelenleben werden alle anderen Figuren zu möglichen Verschwörern. Durch diesen Kniff wird dein Buch viel spannender. Ach», rief er in einem seiner merkwürdigen Anfälle plötzlicher Theatralik, «warum kann ich nicht einfach eine kleine spannende Geschichte erzählen! Einen Roman über Piraten im 18. Jahrhundert, eine Science-Fiction-Novelle über Paralleluniversen oder eine simple, kleine Gespenstergeschichte à la M. R. James! Warum ist mir dieser Weg verstellt?» Mit Bedacht hüllte er sich in die Aura des Geheimnisvollen, des Genialischen; er lebte hinter einer dicken Glaswand, und wir verständigten uns mit Gesten und Klopfzeichen. Ich wusste nicht, wovon er lebte, tippte aber auf reiche Eltern oder eine Erbschaft, denn abgesehen vom Dosenbier brachte er mir jedes Mal eine Schachtel Senior Service mit. «Virginia Tabak. Lasse ich mir aus Norddeutschland schicken. Die Briten waren dort nach dem Zweiten Weltkrieg stationiert und haben die Freundlichkeit besessen, uns ihre köstlichen Zigaretten zurückzulassen.» Einziger Schwachpunkt der Geschichte war, dass es Senior Service auch in hiesigen Tabakläden gab, aber ich hütete mich, ihm das Ergebnis meiner telefonischen Recherche zu unterbreiten, denn die geschenkte Schachtel hielt in der Regel bis zu seinem nächsten Besuch vor, wenn er, zwei Sixpacks unter den Armen, ein verstörtes Lächeln im Gesicht und ohne nach rechts und links zu sehen, durch den Flur in die Küche stürmte, um die Dosen im Gemüsefach des Kühlschranks zu verstauen.

«Sellerie! Das darf doch nicht wahr sein! Der ganze Kühlschrank stinkt nach Sellerie!» Dann saßen wir uns im Wohnzimmer gegenüber, er zündete einen Zigarillo an, und ich wartete gespannt darauf, mit welch erfrischend abseitigen Themen er mich heute wieder befremden würde. Ich traf Winkler stets alleine. Nur ein einziges Mal hatte ich gegen diese Regel verstoßen, und jener Abend, an dem ich mit Achim, Winkler und Susanne die Van-Hoddis-Medaille feiern wollte, wurde mein privates Spitzbergen. Achim machte sich über Winklers Begeisterung für James Bond lustig; Winkler machte sich über Achim lustig, weil der nicht wusste, wie Bond seinen Wodka Martini trinkt; Achim rülpste das Vater Unser; Susanne fühlte sich von meinen «obergeilen Spannerfreunden» belästigt, machte mir im Flur eine Szene und ging früh ins Bett. Danach versuchte der stolze Medaillengewinner den Abend zu retten, indem er missratene Jugendwerke vorlas. Ich ließ das Blatt sinken: «Da kann ich höchstens sechzehn gewesen sein!» – «Na und? So schreibt unser Freund James Bond immer noch. Die-die», Achims Gesicht hatte sich alarmierend gerötet und sein gespaltener Kehlkopf fuhr wie ein Besessener Knorpellift, «die Briten und insbesondere die britischen Geheimagenten, sind völlig verschwult.» Winkler steckte sich ungerührt einen Zigarillo an. «Mensch, Tommi!», rief Achim. «Rillo rauchen, das ist doch das Allerschärfste! Mensch, Tommi, du bist schon ne tolle Nummer!» Winkler sah mich nachdenklich an. «Meint der mich?» – «Klar mein ich dich», sagte Achim, «den guten alten Onkel James Schwul!» Ich räusperte mich beklommen. «Ihr benehmt euch wie … wie …» Beide sahen mich an.

 

«Wie wer oder was?», fragte Winkler. Vor Schreck vergaß ich, was ich hatte sagen wollen, und verkroch mich in einem selten gelüfteten Winkel meines Kopfs unter einem Treppenabsatz. Fassen wir zusammen: Winkler hielt Achim «für zu blöd, um sich mit ihm ernsthaft zu unterhalten»; Achim hielt Winkler für einen «billigen Aufschneider», doch hier trübten wohl Neid und Missgunst seinen Blick, denn Winkler war ein großer Aufschneider, ein Meister der Täuschung und der Selbststilisierung. Als ich ihn beispielsweise fragte, wieso ein Verein, der sich dem Andenken Sherlock Holmes’ widmet, den kryptischen Namen Von Herder Airguns Ltd. trage, zog Winkler sich nicht nur elegant aus der Schlinge, sondern verwandelte diese gleichzeitig in eine engmaschige, köcherähnliche Knüpfarbeit. Um seine zentrale These zu rekonstruieren und sie, was ich mir schon vor langer Zeit vorgenommen habe, eingehend zu prüfen, steht mir zum Glück ein englischsprachiger Sherlock-Holmes-Sammelband aus der bemerkenswert gut bestückten Hotelbibliothek zur Verfügung. Beginnen wir mit den Airguns. In der Erzählung The Final Problem heißt es:

«You are afraid of something?» I asked.

«Well, I am.»

«Of what?»

«Of air-guns.»

«My dear Holmes, what do you mean?» (469 f)

Holmes fürchtet, von seinem Widersacher Professor Moriarty ermordet zu werden, aber weshalb der Detektiv solche Angst vor air-guns hat, wird in The Final Problem nicht geklärt, denn hier stürzt er, Moriarty (Hoppla! Fast hätte ich Marsitzky geschrieben!) umklammernd, in einen awful abyss (near the fall of Reichenbach), und zwo, drei, vier, vergehen die Jahre, bis Doyle auf die hartnäckigen und zunehmend verzweifelter werdenden Proteste seiner treuen, zutiefst betrübten Leserschaft reagiert und seinen verstorbenen Helden wiederauferstehen lässt:

«Holmes!» I cried. «Is it really you? Can it indeed be that you are alive? Is it possible that you succeeded in climbing out of that awful abyss?» (486)

Holmes, erfährt Watson bass erstaunt in The Adventure of the Empty House, täuschte seinen Tod lediglich vor, um seine Feinde in die Irre zu führen. Schnitt. Baker Street 221 B, Außen, Nacht. Unser lieber Watson erblickt hinter einem erleuchteten Fenster ein so lebensechtes Holmes-Modell, dass er seinen glucksenden Freund berühren muss, weil er einer Sinnestäuschung zu erliegen glaubt:

«Good heavens!» I cried. «It is marvellous.» (489)

Eine Büste ist’s, die unseren Freund so erfolgreich täuschte, eine Wachsbüste, angefertigt von Monsieur Oscar Meunier aus Grenoble. Meiner Meinung nach ein bemitleidenswert schlecht ausgedachter Name. Wieso nennt ihn Doyle nicht Meunier Oscar Monsieur? Oder schlicht und ergreifend Monsieur Monsieur? Und was macht die gute Mrs. Hudson? Sie bringt die Wachsbüste alle Viertelstunde in eine neue Position, denn Holmes weiß, mit welch listigen und ausgekochten Gesellen er es heuer in London zu tun hat. Da! Eine Gestalt! Sehr böse! Ein Schuss! Ein SchuSS – dramatischer Trommelwirbel – aus einem LuftGeWehr! Pressluftfanfare, splitterndes Glas, und prompt zieht Holmes den Schuldigen aus seiner Pfeife: Niemand anderen als Colonel Sebastian Moran, den zweitgefährlichsten Mann Londons. Und diese Waffe? Holmes, seien Sie vorsichtig! Grundgütiger Himmel, diese gefährliche Waffe!

«An admirable and unique weapon (…), noiseless and of tremendous power: I knew Von Herder, the blind German mechanic, who constructed it to the order of the late Professor Moriarty. For years I have been aware of its existence, though I have never before had the opportunity of handling it.» (493)

Über die Seiten des Buchs, aus dem ich mit ungezügeltem Genuss zitiere, schwebt ein sepiafarbenes Bild: Inmitten malerischer Nebelschlieren kniet Holmes vor Lestrade und überreicht ihm im Schein einer Londoner Straßenlaterne das Luftgewehr, als wollte er damit den Ritterschlag empfangen. Watson, der auffallend Pu dem Bären ähnelt, nimmt in rührender Erleichterung einen großen Topf Honig aus seinem Arzttäschchen, während der trottelige Lestrade (gespielt von einem zu Hochform auflaufenden Peter Sellers) seinen Zeigefinger nicht mehr aus dem Lauf der vermaledeiten Büchse kriegt. «Mein lieber Lestrade, ich würde Ihnen gerne mit einem Pfund Butter aus meinen eigenen Vorräten aushelfen, um Ihren so misslich verklemmten Finger aus der stählernen von Herderschen Umklammerung zu befreien, hätte sich die gute Mrs. Hudson nicht damit ihre Knie eingerieben, um sich der bemerkenswert naturgetreuen Büste am Fenster meines Zimmers mit behutsamsten Rutschbewegungen nähern zu können, ohne von der Straße aus entdeckt zu werden. Oh, sehen Sie nur, die Büste hat sich wieder bewegt! Watson, gehen Sie doch bitte hinauf und richten Sie der treuen Seele aus, dass der Fall abgeschlossen ist!» Ich komme vom Kurs ab. Die These! Die zentrale These! Her mit der zentralen These! Winkler hatte damals behauptet: «Doyle wollte Sherlock Holmes nie sterben lassen! Bereits in The Final Problem hat er alle Weichen für ein Fortleben seines Helden gestellt. Bei der abstrusen Bemerkung über Luftgewehre handelt es sich um nichts anderes als ein perfekt funktionierendes, gut geöltes Hintertürchen.» Ich sehe, wie ein zufriedener Holmes Inspektor Lestrade «the famous air-gun of Von Herder» (496) für das Scotland Yard Museum übergibt. «Soweit, so gut», sagte ich. «Aber ich verstehe nicht ganz, wieso ein Holmes-Club den Namen einer potentiellen Holmes-Mordwaffe trägt?» Winkler sah mich an, als hätte ich wissen wollen, was ein Hühnerei ist. «Holmes kann nur getötet werden, wenn er lebt», sagte er, «und somit feiert der Name Von Herder Airguns Ltd. Holmes’ Wiederauferstehung.» – «Aber der Schuss galt doch einer Attrappe.» Winkler zuckte die Achseln und sagte abfällig, ich sähe das zu eng.

Ich glaubte ihm nicht, dass es einen Verein namens Von Herder Airguns Ltd. gab, und bezweifele es noch heute. Vereine heißen «International Bond Community» oder «Pater Brown Fanclub Boblingen», notierte ich, glaube ich, am Vormittag nach der Lesung. Der Name «Von Herder Airguns Ltd.» ist einfach zu gut! Ich klappte das Notizbuch zu und nahm mir vor, irgendwann einmal nachzuprüfen, ob bei Doyle überhaupt Luftgewehre und Wachsbüsten vorkamen. Inzwischen hatte die wütende Intensität des Regens nachgelassen, und weil die Thermoskanne fast leer war, ging ich, schwipp-schwapp, eine halbvolle Tasse in der Hand, geradeaus schauen, alter Trick, klappt immer, nach oben. Am Schreibtisch erwarteten mich die üblichen Probleme. Niemand kaufte mir Außerirdische ab. Also musste ich ihr Auftreten so lange wie möglich hinauszögern. Bei Außerirdischen sahen alle rot. In den buchlosen Zeiten vor Marsitzky hatte mir mal ein Lektor, dem ich Erzählungen geschickt hatte, empfohlen: «Schreiben Sie doch mal einen historischen Roman!» Ich entgegnete erstaunlich schlagfertig: «In meinen Augen ist ein Roman über das alte Rom genauso phantastisch wie ein Roman über eine Superzivilisation von Methanatmern auf dem Bruzzmond Öbel IV.» Nein, das stimmt nicht. Ich entgegnete nichts. Diese schlagfertige Antwort fiel mir erst später ein. Nein, das stimmt auch nicht. Die Antwort fiel mir eben ein. Weiter! Dachboden, Dachboden, diesmal würde ich alle an der Nase herumführen. Schreiben, schreiben, ich muss schreiben, ein Klopfen: Jens, schon heimgekehrt aus der Schule, beendete meine erfolglose Jagd nach dem ersten Wort, indem er mir einen Brief in die Hand drückte, den Onkel Jörg in seinem Briefkasten gefunden hatte:

Lieber Herr Fahlmann!

Vielen herzlichen Dank für Ihre Texte «erste worte», «letzte worte».

Ich muss sagen, dass sie mir nicht nur ausgesprochen gut gefallen haben, sondern dass sie auch ausgezeichnet dem angedachten Konzept unserer kleinen Anthologie entsprechen. Ich ziehe sogar in Erwägung, Ihre wundersam autopoetische Zeile «oben am jong bösch» zum Titel des Bandes zu machen. Da dies ja auch in Ihrem Interesse liegen dürfte, gehe ich davon aus, dass Sie mit dieser Entscheidung mehr als nur einverstanden sind.

Ich habe mich sehr gefreut, so bald und so niveauvoll von Ihnen zu hören, und verbleibe mit freundlichen Grüßen aus Frankfurt

Ihr Rolf Marsitzky

7Die Schauerleute wussten zwar von zwei Weißen zu berichten, die gestern mit dem Dampfer aus Dar es Salaam gekommen seien, konnten über deren Verbleib aber nur abenteuerliche Vermutungen anstellen. Auch im Bezirksamt vermochte man Dr. Edwin Hennig nicht zu helfen. Ein Kranz hilfsbereiter Gesichter umgab den Korbsessel, in dem er saß, Mutmaßungen wurden geäußert, Befürchtungen, und nach einigen Gläsern Tee auf der Veranda leuchtete allen Bessers Ratschlag ein, es wäre wahrscheinlich das Vernünftigste, am Hafen auf den «verlorenen Sohn» zu warten, eine Empfehlung, die Hennig jedoch nicht davon abhalten würde, das Bezirksamt gegen Mittag ein zweites Mal aufzusuchen, da man dort einen ausgezeichneten Eistee servierte. Wäre er dieser Bahlow, hatte Besser, der hiesige Vertreter der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft spekuliert, fremd in Lindi, und niemand nähme ihn in Empfang, würde er sich unverzüglich an die Kaiserliche Verwaltung wenden. Und falls ihn obskure Gründe daran hinderten, suchte er spätestens am folgenden Tag den Hafen auf, denn dort und nur dort – «Gesunder Menschenverstand, meine Herren!» – würde ihn der Abgesandte der Expedition erwarten, um ihn zum Lager am fernen Tendaguru zu geleiten. Und so wartete Hennig geduldig am Hafen, obwohl er es mittlerweile sogar in Betracht zog, dass der Entomologe das Schiff verpasst hatte und demzufolge überhaupt nicht an Bord gewesen war. Schläfrig auf einem Taurollenthron sitzend verfolgte Hennig, wie man Kisten zimmerte, um sie sogleich mit den Erträgen der Grabungsarbeiten zu befüllen. Am Tendaguru wickelten die Arbeiter die Knochenteile in gummiertes Tuch, in Drahtgaze, in Gipsverband, fütterten die Zwischenräume mit Gras oder Lehmerde aus, verstärkten die unförmigen Klumpen mit einem Exoskelett aus Bambus und Seil, doch erst hier, am Hafen von Lindi, wurden die wertvollen Funde in Kisten verstaut. Deren Baumaterial stammte aus Europa: Als hölzerne Nachfahren Bartolomeu Diaz’ hatten hunderte von Fichtenholzbrettern das Kap der Guten Hoffnung im Lagerraum eines tiefliegenden Seglers umschifft und türmten sich nun auf afrikanischem Boden zu gewaltigen Klippen, die man unter den empörten Schreien der Möwen Latte um Latte abtrug, um sie unter monotonem Gesang und nicht minder monotonen Hammerschlägen zu unschönen, aber robusten Transportkisten zu verarbeiten.

Nahe des Tauthrons versenkten zwei kräftige Packer des Wangoni-Stammes (ihre Rücken glänzten samten wie Ebenholz) das Teilstück eines versteinerten Oberarmknochens in einer Kiste, doch der gesamte Knochen, ein durch die Imprägnierung von Kalk und Kieselsäure bemerkenswert schweres Prachtstück, das der Gott des Zufalls und der Erosion in vierzehn Trägerlasten zerlegt hatte, würde mindestens sieben Kisten füllen: ein akademisches Geduldsspiel für die daheimgebliebenen Kollegen des Geologisch-Paläontologischen Universitäts-Instituts und Museums. Hennig schloss die Augen, Salzgeruch (die See), Teergeruch (das Tau). Auf die rötlich durchleuchteten Lider fiel bisweilen der wohltuende Schatten eines vorbeihastenden Arbeiters. Die hell schnarchenden Sägen und beharrlich tickenden Hämmer verwandelten den Kai allmählich in ein geheimnisvolles Telegraphenamt mit dornröschenhaft schlummernder Kundschaft, schonend zeigte man Hennig den Schalter, rückte das Formular unter der Feder zurecht – unvermittelt stieß ihn das Gelächter einer Möwe in eine kulissenhaftere Schicht seines Bewusstseins, wo man Dreispitz trug und danach trachtete, die Nichtexistenz der Terra australis zu beweisen. Lange Tage hatte er wartend im Kapitänslogis zugebracht, aber endlich lockte ihn das Freudengeheul der Mannschaft an Deck. Er stürzte an die Reling und erblickte den Landschwarm der Gesellschaftsinseln. In schmalen Einbäumen durchglitten singende Südseeinsulaner das leuchtend klare Meer, die Hämmer und Sägen waren verstummt, Hennig blinzelte, ausgelassenes Gelächter erfüllte den Hafen. «Massa Ennig!», rief einer der Kistenbauer. «Ich habe den verschollenen Europäer (mzungu) entdeckt!» Er zeigte mit dem Hammer auf ein volksfestartiges, tanzendes und jubelndes Tohuwabohu, das sich auf den Hafen zuwälzte.

 

Wamuera-Weiber mit Lippenscheiben und tätowierten Gesichtern stießen Kreischlaute aus, Kinder lachten, Suaheli-Männer (Hennig erkannte sie an dem kasmu genannten Ohrschmuck) sangen ein Spottlied, das die dümmlichen Gurrlaute einer brünstigen Taube zu imitieren schien. «Baba kufa», gurrten sie, «mama kufa, nyumba (miomba?) kufa, mimi nimebakia peke yangu tu, tu, tu, tututu.» Tu bedeutet eigentlich nur, aber in diesem Fall ergab das keinen Sinn, und Hennig vermutete eine reine Lautmalerei. Vater ist tot, übersetzte er ins Unreine, Mutter ist tot, mein ganzes Nest (oder der Onkel?) ist tot, nur ich bin ganz allein übrig geblieben, tu, tu, tu, tututu. Wahrscheinlich hieß es nyumba, das Nest, denn was interessierte die einsame Taube das Schicksal ihres Onkels!

Im Zentrum des Aufruhrs befand sich eine weißgekleidete Gestalt, und als der Menschenkreis kurz aufklaffte, sah Hennig, wie ein halbes Dutzend Wandonde-Weiber (jede einen glitzernden mboli im linken Nasenflügel) einem verschreckten Europäer rhythmisch an den Tropenhelm schlug, «tu, tu, tu, tututu», sangen die Suaheli-Männer dazu, ein nackter Junge entwendete dem Fremden den Kescher, «baba kufa, mama kufa», ein Schuss brachte sie alle zur Räson.

«Genug!», schrie Hennig in barschem Kisuaheli. Er beauftragte drei Arbeiter, das Gepäck des mzungu sicherzustellen, drei weitere, die aufgepeitschte Menge auseinanderzutreiben, feuerte, den Kolben auf den Oberschenkel gestützt, ein zweites Mal in die Luft, reichte seinem Boy das rauchende Gewehr und ging, die Augen mit der hohlen Hand beschirmend, dem Europäer entgegen. «Mein Name ist Hennig, und falls Sie Doktor Bahlow sind», dieser nickte matt, «darf ich Sie hiermit als Entomologen unserer Expedition in Afrika willkommen heißen. Ich sollte Sie eigentlich schon gestern abholen, aber nun ja …» Tu, tu, tu, tututu. «Es ist mir überaus peinlich», ratlose Geste, «aber wir haben den Dampfer erst heute Vormittag erwartet.» Schwebte, brannte, drehte sich: Auf dem verkohlten Holzscheit stand: Dr. Edwin Hennig. Kenne ich, dachte Bahlow, und aus einer glimmenden Schicht seines Gedächtnisses schoben sich weitere Teilstücke des an Bord verinnerlichten Dossiers, geboren 1882, Assistent am Berliner Geologisch-Paläontologischen Universitäts-Institut und Museum, rotglühende Schriftzeichen auf schwelendem Holz. «Ich bin, ich bin der …» Bahlow starrte seinen Retter an. Strohblond, braungebrannt wie ein Zigeuner, schwärmerische Gesichtszüge. Harmlos, hatte ihn Kuider am Quai du Port genannt, und das war wohl das treffende Epitheton, denn in Hennigs Auftreten lag eine anrührende, fast jungenhafte Ernsthaftigkeit. «Wir scheinen am Tendaguru ein kleines Problem mit dem Datum zu haben», erläuterte er mit unsicherem Lächeln. «Der liebe Gott hat uns wohl einen Tag geschenkt. Gestern ist bei uns heute, wenn Sie verstehen, was ich meine», Bahlow verstand seit geraumer Zeit gar nichts mehr, «und was in Lindi heute ist, ist am Tendaguru erst morgen. Ich hoffe, Sie hatten keine allzu großen Unannehmlichkeiten!» Unannehmlichkeiten? In gedankenverlorener Begeisterung packte Bahlow die Hand des anderen, schüttelte sie und hielt sie ungebührlich lange fest, wobei er wiederholt seinen Namen sagte und Hennig verständlich zu machen suchte, wie sehr dessen Hand an die eines ihm bekannten Masseurs erinnerte, und wie diese sich anzufühlen pflegte, sobald das warme Minzöl in die Haut eingezogen war. Bahlow gab Hennigs Rechte erst frei (nach einem letzten, entschiedenen Druck), als uhrwerkgleiches Gehämmer einsetzte.

Zeitgleich nahmen die Sägen ihr asthmatisches Todesröcheln wieder auf, jemand sang leise: «Tu, tu, tu, tututu», doch nur noch einige Kinder umringten die beiden Weißen; der eine ein bwana mkubwa, ein Vielkönner, ein Erdaufwühler, ein Schießgewehrchef, der andere ein poghuli, ein schwankendes Gespenst mit ausgestrecktem rechtem Arm und einem Gesicht so rot wie ein Affenhintern. Kiste, Fangnetz, Seesack, Reisetasche, die Träger brachten das Gepäck. «Wo zum Teufel ist mein Draht? Die Rolle Maschen… – ach, da kommt sie ja!» Dosmöhr, zofuß, dörknochan, im dröhnenden Maschinenraum unter Bahlows Sohlen berichtete Hennig von langen Seefahrten, beschwerlichen Fußmärschen, einem gigantischen Oberarmknochen, wozu brauchen Sie so viel Maschendraht? Verstehen Sie mich, Doktor Bahlow? Draht, Doktor Bahlow? Der Angesprochene vermochte der dahinplätschernden Rede keinen Sinn abzugewinnen. Die Worte verdampften in der flirrenden Luft, kaum dass sie seine Ohren erreicht hatten. Gelang es dennoch einem bis zu den Zähnen bewaffneten Wort, sich zu den uneinnehmbaren Festungen der Gehörgänge durchzuschlagen, zerfiel es auf der Stelle in rätselhafte Silben, die wie geschmolzenes Wachs auf das glühende Stück Erz tropften, in das sich sein Gehirn verwandelt hatte. Bilder. Bilder. Zu viele Bilder. Höher, Onkel Carl, höher! Jemand hielt ihm eine Flasche an die Lippen. Wasser. Er trank gierig. Danach war einiges klarer. So überraschte es Bahlow kaum, dass Hennig aussah, wie man sich einen Verfasser euphorischer Kurznotizen für das Archiv für Biontologie vorzustellen hat. Lediglich die Sommersprossen und das Y-förmige Grübchen im Kinn unterschieden den wirklichen Hennig von dem Phantom, das in der Kabine über dem Maschinenraum von «Schreckens-Echsen» und «Jahrhundert-Funden» berichtet hatte, aber ansonsten schmiegte sich die Wirklichkeit dicht an Kuiders Dossier. Wahrscheinlich, dachte Bahlow, ist darin jede meiner eigenen Bewegungen vorgezeichnet. Und folgt die Hand, die mir den rutschenden Tropenhelm aus der schweißfeuchten Stirn schiebt, nicht der Sandspur eines geheimnisvollen Plans? Muss ich nicht jedes Mal, wenn Hennig zu Boden blickt, unmögliche Gebärden und Handbewegungen vollführen, um die Welt wieder zu meinem Text zu machen? Für einen Moment glaubte Bahlow den bösartigen Puppenspieler zu erkennen, an dessen unsichtbaren Schnüren er hing, tellergroße Augen hatte der Allmächtige, kurze Haare, eine große Nase. «Du hast mich in einen lächerlichen Tropenanzug gezwängt und mir einen übergroßen Helm aufgesetzt», klagte die Bahlowpuppe, aber sogleich griff ihr Hennig in die straff gespannten Fäden und sagte beschwichtigend: «Sie sollten sich ausruhen. Kommen Sie! Hier ist Schatten. Sie haben sich mit Ihrem Gepäck ja völlig verausgabt! Hier. Hier können Sie gut sitzen. Hier, bitte! Ich hole Sie in einer Stunde wieder ab.» Fügsam setzte sich Bahlow auf eine Kiste. Hennig legte den Kopf schief. «Wo haben Sie eigentlich … «