Mythen, Macht + Menschen durchschaut!

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4. August 2013

Nr. 92

Wie kann ich verstehen?

Woran orientieren sich Menschen? Warum folgen sie gesellschaftlichen Mustern? Was prägt sie? Wie könnte unser »System« verändert werden?

Eine meiner persönlichen Lebensdevisen ist, dass ich Menschen verstehen möchte. Damit meine ich nicht, dass ich dann mit ihnen einverstanden zu sein hätte. Doch die Regeln und Hintergründe interessieren mich. Warum »wissen« wir und »handeln« trotzdem anders?

Wie kommt es zum Beispiel, dass mein Freund seinen politisch mir diametral entgegengesetzten Standpunkt verteidigt? Wo wir uns doch sonst ausgezeichnet verstehen? Oder warum meinen am Partygespräch alle, man müsse etwas tun gegen den Klimawandel, um anschließend persönlich immer größere, schwerere, umweltfeindlichere Autos zu kaufen?

So versuche ich also, zum Beispiel, herauszufinden, warum jemand überzeugt davon sein kann, die Wahrheit zu kennen, oder warum er zu wissen meint, dass er recht hat. Es interessiert mich, der Frage nachzudenken, warum Ideologen unentwegt danach trachten, für ihr persönliches Gedankenkonstrukt zu missionieren. Immer öfter nehme ich zur Kenntnis, dass Branchenverbände gerissene PR-Agenturen verpflichten, der Bevölkerung Sand in die Augen zu streuen, um ihre Macht spielen zu lassen. Mit gezielten Lügen und Angstszenarien verbreiten sie flächendeckend Unwahrheiten.

Doch warum verwenden Populisten beträchtliche Millionen Franken aus ihrem privaten Besitz, um die Unwissenden und Naiven aufzuklären? Natürlich nach ihrem persönlichen, eingeschränkten Weltbild. Warum, so frage ich mich weiter, wird ein Topmanager vor staunendem Publikum von seiner Kanzel herunterpredigen, er sei es wert, in zwanzig Jahren Hunderte von Millionen verdient zu haben? Beträge, die er als Angestellter legal aus der Firmenkasse entwendet hat.

Oder kann mir jemand erklären, warum bestandene Philosophen ihre Vorgänger kritisieren müssen? Warum Wissenschaftler generell meinen, die Befunde ihrer Kollegen aus früherer Zeit als falsch beiseiteschieben zu müssen, nur weil sie anderer Meinung sind oder Zugang zu neuen Erkenntnissen haben?

Erstaunlich auch, so wundere ich mich, dass politische Parteiexponenten ihre andersdenkenden Mitstreitenden à tout prix vor laufender Kamera demontieren oder ihnen, ohne rot zu werden, Sturheit, Inkompetenz und Verblendung vorwerfen – während sie offensichtlich selbst gemeint sein könnten.

Aber auch wir, die Gesellschaft, warum belügen wir uns laufend selbst? Natürlich nicht die anonyme Gesellschaft, sondern die Menschen sich selbst. In munterer Gesellschaft sind alle einverstanden damit, dass Strom gespart werden muss. Doch zuhause erstrahlt die flächendeckende Weihnachtsgartenbeleuchtung Nacht für Nacht von November bis Februar. Und die stromfressende Schockbeleuchtung an der Hausfassade schaltet hundert Mal ein und aus, jede Nacht, bei jedem Windstoß oder Fuchs, der vorbeischleicht.

Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse geben Aufschluss, warum Menschen oft – scheinbar unverständlich – denken und handeln. Hier stellvertretend drei Thesen:

Erstens: Aus den kognitiven Wissenschaften, hauptsächlich Neurowissenschaften und Linguistik, kennen wir die These, hier stark verkürzt, wonach die Beschaffenheit meines Gehirns durch meine persönlichen Erfahrungen in dieser Welt bestimmt wird. Als Kind, als Mitglied meiner Familie, mache ich meine ersten Erfahrungen. Durch Belohnung oder Bestrafung lerne ich zum Beispiel, was (für mich) richtig oder falsch ist. Natürlich geht es hier nicht um Mathe.

Daraus leite ich sukzessive ab, was (für mich) die Wahrheit ist. Deshalb ist die Annahme von objektiven Wahrheiten in der Welt schlicht falsch. Was tue ich, wenn ich denke und kommuniziere? Ich benenne die Dinge so, wie sie für mich in meinem Gehirn vorhanden sind. Theoretisch gesprochen: Je häufiger ich seit frühester Kindheit gewisse Synapsen in meinem Hirn nutze, desto mehr chemische Rezeptoren für Neurotransmitter (Botenstoffe) wandern zu dieser Synapse, sie wird dadurch (und entsprechende Neuronen) gestärkt, während andere allmählich wegen Nichtgebrauchs absterben. Die Neurowissenschaft hat den Slogan geprägt: »Fire together, wire together.« Ähnlich, wie sie einen anderen Merkspruch propagiert: »Use it or lose it!« – das Gehirn soll genutzt werden, auch im hohen Alter.

Zweitens: Über 80 Prozent unseres Denkens läuft vollkommen unbewusst ab. Ich weiß doch, was ich denke? Nein, ich weiß es eben nicht. Im Laufe der Zeit habe ich mir, durch ein höchst komplexes System, das Denken in Metaphern, Bildern zugelegt. Dieses wiederum ist geprägt von meinen entsprechenden kulturellen Erfahrungen. Ein Beispiel: Es gibt Kulturen, in denen Vergeltung der einzige Weg ist zum Ausgleich der moralischen Konten. »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« Anderswo wird Versöhnung bevorzugt. »Vielleicht hast du recht, vielleicht habe ich recht, vielleicht irren wir uns beide.« In welchen Kulturen wir aufwachsen, darauf haben wir keinen Einfluss.

Deshalb eignen wir uns unterschiedliche metaphorische Konzepte an, um in der Welt zu bestehen. Auch hier ein Beispiel. Fasse ich das Leben eher als Kooperation auf, betrachte ich die Person, mit der ich argumentiere, als Partner: »Ich fordere dich auf«, sage ich etwa, verständnisvoll und einladend. Fasse ich dagegen das Leben als Krieg auf, betrachte ich die Person, mit der ich argumentiere, als Gegner: »Ich schieße los!«, auch wenn ich natürlich nur eindrücklich rede und gestikuliere.

Drittens: Auch politische Programmpunkte lassen sich auf unterschiedliche Moralvorstellungen (Metaphern) zurückführen. Es lassen sich beispielsweise die beiden Familienmodelle nachweisen: das konservative des strengen Vaters und das progressive der fürsorglichen Eltern. Diese Differenzierung ist besonders in den USA ausgeprägt. Hierin widerspiegelt sich auch das grundsätzlich unterschiedliche Verständnis zwischenmenschlichen Umgangs: Autorität und Empathie. Damit ist natürlich nicht gemeint, eine Bevölkerung lasse sich mit einem Strich in zwei polare Gruppen einteilen; vielmehr gibt es jene Menschen, die mäandrieren, einem dies, einmal das.

Nach diesem rudimentären Ausflug in die Wissenschaft fällt es nicht schwer, zu realisieren, wie im Alltag clevere Machthabende versuchen, »auf leisen Sohlen ins Gehirn« anderer zu schleichen. Aufgrund meiner Erfahrungen entwickle ich meinen persönlichen Deutungsrahmen für meine verinnerlichten Metaphern. Anders gesagt, mein Bild wird gerahmt – die Wissenschaft spricht von Frames – und auf diese Weise strukturiert, um jeder Information einen Sinn zu geben, »meinen« Sinn.

Auch dazu ein Beispiel. Besonders erfolgreiche Kommunikatoren (miss-)brauchen gezielt Frames, um ihrer Meinung zum Durchbruch zu verhelfen. Dabei hat sich längst erwiesen, dass symbolische Werte punkten, abstrakte Programme hingegen nicht. »Das Boot ist voll« oder »Wir verteidigen unsere Freiheit und Sicherheit« und »Kampf dem Terror«, »Wir befürworten Steuersenkungen« – wir alle wissen augenblicklich, was gemeint ist. »Revision des Asylwesens«, »Agenda einer sozial verträglichen Immigration« oder »Sicherheitsrelevante Vorkehrungen gegen staatsfeindliche Elemente« und »Maßnahmen zur Austarierung des Staatsbudgets« – diese programmatischen Formulierungen sind schlechte Abstimmungsparolen. Diese Bilder sind sozusagen aus dem Rahmen gefallen.

Allmählich dämmert uns, dass wir Menschen unter dem gleichen Wort, der gleichen Botschaft, demselben Bild völlig Unterschiedliches verstehen. »Für eine sichere Zukunft in Freiheit«, so wird geworben im Extrablatt der SVP, heißt hier: »Schweizervolk, erwache! Auf in den Kampf gegen die fremden Richter in Brüssel!« (Kriegsmetapher) – dieser Aufruf ist sogar ehrlich gemeint. Aus der persönlichen Erfahrungswelt.

Für andere liegt die Zukunft der Freiheit ganz woanders. Zwar schätzen sie die Freiheit ebenso, doch sie verstehen darunter ein anderes Zukunftsbild. »Das Leben in einer Demokratie, in der Menschen unterschiedlichster Meinungen in Freiheit zusammenleben, sich organisieren und versuchen, sich gegenseitig zu verstehen« zum Beispiel (Kooperationsmetapher). Auch dies als Reaktion auf ihre persönliche Erfahrungswelt. Wir realisieren, dass sogar ein und dasselbe Wort mit völlig unterschiedlichen Inhalten aufgefüllt wird.

Was ist richtig, was falsch? Was ist die Wahrheit? Unterschiedliche frühkindliche Umgebung und Kultur konditionieren für jeden Menschen seinen Deutungsrahmen – und der ist eben für ihn der richtige. Darin entwickelt sich das individuelle, metaphorische Konzept – es gibt deren so viele, wie es Menschen gibt. Daraus resultieren zum Beispiel konservative oder progressive Lebenseinstellungen.

Ich kann nicht für andere sprechen. Meine Erfahrungswelt, meine Denkmetaphern sind persönlich geprägt. Deine, Ihre auch. Was bleibt zu tun?

Nach langem und gründlichem Bedenken könnte ich zum Schluss gelangen, dass ich das verstanden habe. Dann ist es ein kleiner Schritt, Andersdenkenden Verständnis entgegenzubringen. Doch ist muss verstehen wollen. Dann könnte sich unser »System« verändern.

Unter System verstehe ich: sich gegenseitig blockierende politische Parteien, arrogante, betrügerische Finanzinstitute, die nicht nachhaltig handelnde Gesellschaft. Dahinter steht überall und zu jeder Zeit – der einzelne Mensch.

25. Juli 2013

Nr. 91

Zwei neue Nationalhymnen

Der Schweizerpsalm, unsere Nationalhymne, ist für viele nicht mehr zeitgemäß. Jetzt stehen zwei Alternativen bereit.

Rechtzeitig zum Nationalfeiertag am 1. August 2013 bekommen Leserinnen und Leser das exklusive Angebot zweier neuer Landeshymnen. Zwar bezweifelt niemand die Tatsache, dass wir alle die Worte des seit 1981 gültigen »Schweizerpsalms« auswendig kennen, oder? Doch Hand aufs Herz: Der Text ist etwas in die Jahre gekommen. Zu schwülstig, zu religiös oder zu patriotisch, finden viele. Die Vorgaben der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft zur textlichen Entstaubung sind nicht so einfach zu erfüllen, »Sinn und Gehalt der Präambel der geltenden Bundesverfassung sollen als Grundlage dienen«.

 

Hier der erste Vorschlag. Es gilt weiterhin die geläufige Melodie der bisherigen Nationalhymne: »Trittst im Morgenrot daher, Seh’ ich dich im Strahlenmeer, Dich, du Hocherhabener, Herrlicher!« Beim Einüben des neuen Textes kann durchaus die Melodie auf YouTube eingespielt werden, damit das Ganze etwas einfacher wird. In einer Woche sollte so die neue Version – ohne Alpenfirn und Wolkenmeer – jedoch auswendig gefestigt sein, damit an der lokalen Feier am Abend des 1. Augusts, aus voller Kehle und stehend, mitgesungen werden kann.

Neue Schweizer Nationalhymne

(Melodie: »Trittst im Morgenrot daher …«)


Erste StropheLieb’ ich dich, mein Schweizerland, wo ich meine Heimat fand, spüre ich viel Dankbarkeit, Fröhlichkeit!
Freiheit schätze ich, wie Frieden,
Mensch mit allen Unterschieden, meide ich Beliebigkeit, kämpfe ich für Achtsamkeit, Unabhängigkeit und Wachsamkeit.
Zweite StropheVater-, Mutter-, Elternland, mich an meine Scholle band. Erde ist Vielfältigkeit, Fruchtbarkeit!
Nachhaltigkeit ist ein Gebot, versichert gegen Leid und Not, belohnen uns die Kinder, verdanken es nicht minder, Bergseen, Alpen dem Erfinder.
Dritte StropheUnabhängigkeit als Titel, Solidarität als Mittel, demokratisch Einigkeit, Achtsamkeit!
Nächste Generationen stärken unsre Ambitionen, Insel im Europabund, grenzenlos die Freundschaft und deutlich tun wir unsre Meinung kund!
Vierte StropheHelfen wir den Schwächeren, trauen wir den Stärkeren. Lachen bei Gelegenheit Heiterkeit!
Verstehen wir die Welt nicht ganz, versuchen wir’s mit Toleranz.
Angst ist schlecht für Mut und Tat, trauen wir dem Bundesrat.
Für die Zukunft sind wir dann parat!

Beim zweiten Vorschlag wird es anspruchsvoller. Gemäß einer nicht repräsentativen Umfrage trauern immer noch viele Schweizerinnen und Schweizer älterer Jahrgänge der früheren Nationalhymne nach, die sich – ihrer Meinung nach – inbrünstiger absingen ließ und deren Worte sehr einprägsam waren. »Rufst du, mein Vaterland – Sieh uns mit Herz und Hand – All dir geweiht! …« zur Melodie der Britischen Königshymne »God Save the Queen« – jetzt erinnern sich sicher viele jener Feiern, inklusive Bratwurstduft. Auch diese Melodie lässt sich problemlos auf YouTube in Erinnerung rufen. Hier also dieser Vorschlag, er ist in seiner Aussage etwas pointierter als der erste.

Neue Schweizer Nationalhymne, Variante 2

(Melodie: »Rufst du, mein Vaterland…«)


Erste StropheZweite Strophe
Rufst du, mein ElternlandDa, wo der A-UNS-Kreis
Sieh uns mit Sachverstand,Nicht dich zu schützen weiß,
Allzeit bereit.SP-Komplott!
Heil dir, Helvetia!Stehn wir den Banken gleich,
Hast noch der Banker ja,Nie vor den Bußen bleich,
Sind mit dem Cayenne da,Froh im Gerichtsvergleich,
Switzerland, fight!Herz uns ein Spott.
Dritte StropheVierte Strophe
Nähr’ uns so steuerfreiSteigt der Verhandlungspreis,
Traditionen treuSchmilzt unser Gletschereis,
Euroverschont!Hilft unser Mut.
Kämpfen im Steuerstreit,Werden wir aufgeschreckt
Stets kompromissbereit,Uns gar der Steinbrück neckt,
Von einer Last befreit,So wir zum Kampf erweckt,
Reichlich belohnt?Steigt unsre Wut!
Fünfte StropheSechste Strophe
Kavallerie uns naht!Switzerland, ewig frei!
Teuer ist Blochers Rat:Sei unser Feldgeschrei
Feinde, Gefahr!Sieg oder Not!
Beste Armee der WeltFrei lebt, wer denken kann
Uns klaren Blick verstellt?Frei, wer beizeiten sann!
Jeder will unser Gelt!Nur der entgeht dem Bann.
Wie sonderbar.Frieden uns droht!

Bitte sprechen Sie mit Ihrem Gemeindepräsidenten rechtzeitig vor Beginn der Feier darüber, welche der beiden Varianten er bevorzugt. Der Autor wünscht allen ein wunderschönes Fest!

15. Juli 2013

Nr. 90

Ständemehr – 165 Jahre danach

Die einstmaligen Gründe für die Einführung des Ständemehrs sind heute nicht mehr gültig. Eine Reform ist angezeigt, ja überfällig. Doch, wer packt das heiße Eisen an?

Während sich Wirtschaft und Gesellschaft seit der Gründung des Bundesstaates 1848 tiefgreifend gewandelt haben, ist das föderalistische Regelwerk Bund/Kantone in seinen Grundzügen weitgehend starr geblieben. Je schneller sich die Welt bewegt, desto größer erweist sich der Renovationsbedarf dieser Kleinstrukturen als belastende Hypothek. Vieles hat in unserem Land nach 165 Jahren Rost angesetzt.

Was ist gemeint? Unser fragmentiertes Staatswesen reagiert auf den Zeitenwandel zum Beispiel mit interkantonalen Konkordaten und Konferenzen. 16 Konferenzen der kantonalen Departements-Direktoren (kennen Sie alle: KdK, BPUK, EnDK, EDK, FDK, FoDK, KKJPD, KöV, LDK, MZDK, GDK, SODK, VDK, KOKES, FKS, Staatsschreiberkonferenz?) koordinieren ihre Kompetenzen. Und in über 20 Konkordaten (deren Auflistung sprengt den Rahmen dieser Kolumne) sind Hunderte von Arbeitskräften engagiert, um weitere, unterschiedlichste kantonale Gesetze und Verordnungen zu harmonisieren. Damit einher geht still und leise eine Entdemokratisierung und Bürokratisierung mit erheblichem finanziellem Aufwand. Flickwerke statt Reformen.

Der Kantönligeist

Ist es noch sinnvoll, mit den Zuständigkeiten des 19. Jahrhunderts zu leben? Da und dort wird der »Kantönligeist« zwar belächelt, doch das allein genügt nicht. Der Föderalismus war und ist nur möglich, wenn er sich an veränderte Bedingungen anpasst. Die politischen Akteure sind gefordert. Mehr und mehr politische Sachbereiche müssen heute international geregelt werden, wofür der Bundesrat zuständig ist. Was auf Kantonsebene verbleibt, wird noch heute mit (in der Regel) 26 unterschiedlichen Gesetzen und Verordnungen geregelt. Zwar wurden per 1. Januar 2011 die 26 kantonalen Zivilprozessordnungen vereinheitlicht – ein wegweisender Schritt in die Zukunft? 165 Jahre nach Errichtung des letzten helvetischen Neubaus – der neuen Bundesverfassung – ist die Zeit reif, sichtbar werdende Bauschäden zu sanieren, neue Technologien zu adaptieren, veränderten gesellschaftlichen Tatsachen Rechnung zu tragen. Was die Gründerväter schufen, war ein großartiger Wurf. Die Tagsatzung, sozusagen der eidgenössische Gesandtenkongress mit Delegierten aus den damaligen 22 Kantonen, hatte die Vorarbeit geleistet (seither kennen wir die Bundesversammlung). Damals war Hauptbestandteil des Neuen die Verlagerung von kantonalen Kompetenzen auf die Bundesebene. Mit Riesenschritten hatten mutige Politiker den Handlungsbedarf erkannt und unser Staatswesen in die Neuzeit geschubst. Niemand wird behaupten wollen, dass sich seither die Welt, Europa, die Schweiz nicht erneut grundlegend geändert hätten. Jetzt warten wir auf eine neue »Tagsatzung«, der es obliegen würde, die Zukunft der Schweiz zu planen.

Bevor ich das Reizthema Ständemehr aufgreife, möchte ich einige willkürlich herausgegriffene Beispiele nennen, bei denen Handlungsbedarf bestehen könnte. Dies geschieht unter Würdigung der Tatsache, dass seit Mitte des letzten Jahrhunderts in Bern natürlich nicht alles beim Alten geblieben ist, was das Zuständigkeitsgewebe von Bund, Kantonen, Gemeinden betrifft. Doch urteilen Sie selbst: 26 verschiedene Schul- und Gesundheitswesen, 26 unterschiedliche Steuerrechte, 26 Kantonspolizeiwesen, 26 variable Gerichts- und Strafvollzugsorganisationen, 26 differierende Sozialhilfegesetze, als Beispiele. Und dies alles in Zeiten der Mobilität, der wirtschaftlichen Umstrukturierungen, der gewaltigen Veränderungen der Berufs-, Wohn- und Pendlergewohnheiten, einer enormen Zuwanderung, der Schaffung medizinischer Kompetenzstellen (Beispiel Herzchirurgie), steigender Fallzahlen krimineller Übergriffe oder missbräuchlicher Sozialhilfebezüge – die Liste ließe sich beliebig verlängern.

Arbeitnehmende pendeln zwischen Arbeitgeber und Wohnort, sie ziehen um und die Kinder landen in kantonal völlig unterschiedlichen Schulstrukturen. Auch 2011 darf eine Tessiner Lehrerin mit Luzerner Diplom im Tessin nicht Musik unterrichten. Ganz clevere Menschen verlagern ihren Wohnort ausschließlich nach Steuerkriterien. Verbrecher fliehen auf Autobahnen schneller, als die kantonalen Polizeicorps sich koordinieren können. Der ÖV schafft gänzlich neue Pendlerströme über die Kantonsgrenzen hinweg. Spitäler rangeln um Schwerpunktzentren und konkurrenzieren sich dabei.

Wenn etwas schief läuft im Land, brandet Kritik am undurchsichtigen Wirrwarr der Institutionen auf – um nach einigen Monaten wieder zu verstummen. Aktuellstes Beispiel: Der Fall Marie in Payerne VD. Die junge Frau wurde entführt und ermordet von einem Täter, der bereits früher wegen Mordes verurteilt worden war, sich aber mit einer elektronischen Fußfessel im Hausarrest befand.

Längst nicht alle kantonalen Zuständigkeiten sind unzeitgemäß, ja, einige bewähren sich bestens. Wir sind nicht zu Unrecht stolz auf unseren Föderalismus und möchten ihn nicht missen. Gerade deswegen sollten die wichtigen Baustellen angepackt werden. Wer fühlt sich zuständig?

Das Ständemehr

Zuoberst auf der Dringlichkeitsliste »Reform CH« steht jedoch das Ständemehr. »Das Ständemehr sollte man abschaffen!« Diese provokative Forderung nach der eidgenössischen Abstimmung über den Familienartikel im Frühling 2013 war die Folge des Scheiterns der Vorlage, obwohl ihr das Volk mehrheitlich zugestimmt hatte. Das Ständemehr war dafür verantwortlich.

Zur Erinnerung: Für Verfassungsänderungen ist sowohl eine Mehrheit der Abstimmenden als auch eine Mehrheit der Kantone notwendig. Eingeführt wurde diese Neuerung 1848, um die im Sonderbundskrieg unterlegenen konservativ-katholischen Kantone vor der Majorisierung durch die liberalen Stände zu schützen. Heute gibt es in unserem Land mehr Katholiken als Protestanten. Ein weiterer Grund, dass sich dieses in die Jahre geratene Konstrukt des Föderalismus gegen die Volksmeinung richten kann, liegt in der unterschiedlichen Bevölkerungsentwicklung der Kantone. Viel zitiertes Beispiel: Appenzell Innerrhodens Bürgerinnen und Bürger haben bei Verfassungsabstimmungen mittlerweile 44 Mal mehr Gewicht als jene Zürichs (»One man, one vote«, urdemokratische Formel!). Im Extremfall können heute in der Schweiz neun Prozent der Stimmberechtigten auf diese Weise einen Mehrheitsentscheid des Volkes zu Fall bringen. Die Kollision zwischen Volks- und Ständemehr wächst zu einer der größten Herausforderungen für unsere Direktdemokratie heran.

Absurderweise können dadurch gesellschaftliche und politische Reformen blockiert werden, die für die kleinen, tendenziell eher konservativen Landkantone von marginaler Bedeutung sind, hingegen den 75 Prozent der schweizerischen Bevölkerung notwendig und sinnvoll erscheinen (NZZ). Das Ständemehr entpuppt sich je länger je mehr als Hindernis für die Legitimität einer bewährten politischen Institution, deren Voraussetzungen sich im Laufe der Jahre grundsätzlich verändert haben. Das Volksmehr wird auf diese Weise ausgehebelt.

Seit Jahren wird der grundsätzliche Reformbedarf von einer Mehrheit der Bevölkerung, der Politiker, Politologen und Politikwissenschaftler erkannt und entsprechend gefordert. Doch bevor die Diskussionen in Fahrt kommen, wird die rote Fahne (im Fußball: die rote Karte) gezückt. Für diese Verfassungsänderung bräuchte es selbst das Ständemehr. Also ist im Vornherein mit einer Ablehnung zu rechnen. Ende der Diskussion. Mit dieser defätistischen Einstellung wird der Zusammenhalt der Schweiz längerfristig gefährdet. Warum trauen wir unseren kleinen, mehrheitlich ländlichen Kantonen der Innerschweiz nicht zu, dass sie sich für einen zeitgemäßen Reformschritt erwärmen?

 

Neuregelungen sind längst angedacht. Gegen ein Dutzend Reformvorschläge liegen mittlerweile auf dem Tisch. Die politische Stabilität würde mit einer Anpassung gefördert, einer der Hauptgründe der Einführung des Ständemehrs vor 165 Jahren. Das »qualifizierte Volksmehr« könnte bei eindeutigen Mehrheiten (z.B. ab 55%?) angewandt werden. Oder: Angesichts des Umstandes, dass in den sechs größten Städten heute mehr Menschen leben als in den zwölf kleinsten Kantonen, wäre eine Stärkung der urbanen Zentren vorstellbar. Auch denkbar ist, dass die einwohnerstärksten Kantone eine zusätzliche Standesstimme erhielten. Ich selbst habe vor acht Jahren eine Gruppierung der Kantone in sechs Abstimmungsregionen vorgeschlagen (Süd, Zentral, Ost, Mitte, West, Nord). Vier von sechs Regionen erhielten gleich viele Ständestimmen wie bisher, lediglich in zwei Regionen müssten sechs Ständestimmen von der Region Zentral zur Region Nord transferiert werden (Christoph Zollinger: »2032, Rückblick auf die Zukunft der Schweiz«). Alle diese Ideen würden den Föderalismusgedanken stärken.

Wer packt dieses heiße Eisen an? Im Rampenlicht stehende Politikerinnen und Politiker meiden grundsätzlich Diskussionen, in denen sie sich klar positionieren müssten und eventuell unbeliebt machen würden. Der Ball könnte deshalb bei den Universitäten liegen. Studierende und Lehrkräfte der involvierten Fakultäten würden fachübergreifend ein Lösungsmodell erarbeiten, das auch eine angemessene und zeitgemäße Kommunikationsform beinhaltet. Den Medien käme eine wichtige, aufklärerische Aufgabe zu. Politik und Gesellschaft von überfälligen Reformschritten zu überzeugen, dürfte eine spannende und lohnende Herausforderung sein. Im 19. Jahrhundert war das Ständemehr für die Stabilität des Landes wichtig. Soll es das bleiben, ist eine werterhaltende »Renovation« nötig. In der jetzigen Form wirkt es eher wie ein Relikt.