Baurecht Baden-Württemberg

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dd) Formelle Behördenbeteiligung, § 4 Abs. 2 BauGB

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Die formelle Behördenbeteiligung nach § 4 Abs. 2 BauGB folgt, auch wenn die Auslegung zu einer Änderung des Bebauungsplanes geführt hat, gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 BauGB auf die frühzeitige Behördenbeteiligung. Erfasst sind Behörden und sonstige Träger öffentlicher Belange. Im Gegensatz zur frühzeitigen Öffentlichkeitsbeteiligung muss deren Aufgabenbereich durch die Planung berührt sein. Die Frist für die Abgabe der Stellungnahme beträgt einen Monat, § 4 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 BauGB. Diese soll jedoch bei Vorliegen eines wichtigen Grundes gemäß § 4 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 BauGB angemessen verlängert werden.

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Hinweis

Gemäß § 4a Abs. 6 S. 1 BauGB können Stellungnahmen, die im Verfahren der Öffentlichkeits- oder Behördenbeteiligung nicht rechtzeitig abgegeben worden sind, unberücksichtigt bleiben, sofern die Gemeinde deren Inhalt nicht kannte und nicht hätte kennen müssen.

Sind diese Voraussetzungen gegeben tritt eine Präklusion[42] ein. Die Präklusionsregelung des § 4a Abs. 6 BauGB entfaltet damit eine eingeschränkte formelle und wegen des Wortlautes der Vorschrift („und deren Inhalt für die Rechtmäßigkeit des Bauleitplans nicht von Bedeutung ist“) eine auch eingeschränkte materielle Ausschlusswirkung:

Die formelle Ausschlusswirkung liegt im Ausschluss verspätet vorgebrachter Stellungnahmen. Sie dient der Verfahrensbeschleunigung. Eingeschränkt ist diese in dreifacher Hinsicht:[43]

1. Der Ausschluss wird nur ermöglicht („können“).

2. Der Ausschluss greift nicht ein, wenn es sich um Belange handelt, die der Gemeinde bekannt sind oder hätten bekannt sein müssen und

3. der Eintritt der Präklusion ist gemäß § 4a Abs. 6 S. 2 BauGB von einem entsprechenden Hinweis nach § 3 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 BauGB abhängig.

Die materielle Wirkung führt zu einem Ausschluss im Normenkontrollverfahren gemäß § 47 Abs. 2a VwGO (s.u. Rn. 586). Eingeschränkt ist diese Ausschlusswirkung neben dem oben genannten Grund auch wegen des diesbezüglich erforderlichen Hinweises, § 4a Abs. 6 S. 2 BauGB.

Zwingend berücksichtigt werden müssen demnach auch nach Fristablauf:[44]


1. Belange, die der Gemeinde bekannt waren oder hätten sein müssen
2. Belange, die für die Rechtmäßigkeit der Abwägung von Bedeutung sind

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Inhaltlich sollen sich die Behörden und die sonstigen Träger öffentlicher Belange gemäß § 4 Abs. 2 S. 3 Hs. 1 BauGB auf ihren Aufgabenbereich beschränken. Dabei sind sie verpflichtet, der Gemeinde verfügbare Informationen, die zur Ermittlung und Bewertung des Abwägungsmaterials zweckdienlich sind, zur Verfügung stellen. Es existiert eine Bringschuld der Behörden.[45] Wird der Entwurf aufgrund von Stellungnahmen geändert oder ergänzt, so ist das Verfahren gemäß § 4a Abs. 3 S. 1 BauGB erneut durchzuführen. Dabei kann eine Beschränkung auf die geänderten oder ergänzten Teile und eine angemessene Verkürzung der Frist erfolgen, § 4a Abs. 3 S. 2 und 3 BauGB.

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Fehlerfolgen: Die Rechtsfolge eines Verstoßes besteht in der Beachtlichkeit, § 214 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BauGB. Es kann eine Heilung nach § 215 Abs. 1 Nr. 2 und § 214 Abs. 4 BauGB erfolgen.

Lesen Sie § 214 Abs. 1 Nr. 2 BauGB sorgfältig durch und verinnerlichen Sie dessen Normstruktur.

Hinweis

Bei den Vorschriften über die Öffentlichkeits- und Behördenbeteiligung nach §§ 3 Abs. 2, 3 Abs. 2, 4a Abs. 3 und Abs. 5 S. 2, 13 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und 3 (auch i.V.m. § 13a Abs. 2 Nr. 1 BauGB), 22 Abs. 9 S. 2, 34 Abs. 6 S. 1 sowie § 35 Abs. 6 S. 5 BauGB ist die interne Unbeachtlichkeitsklausel (s. dazu Rn. 213) des § 214 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Hs. 2 BauGB zu beachten. Hiernach ist es unbeachtlich, wenn bei der Anwendung dieser Vorschriften


einzelne (nicht alle!) Personen, Behörden oder sonstigen Träger öffentlicher Belange nicht beteiligt worden sind, die entsprechenden Belange jedoch unerheblich waren oder in der Entscheidung berücksichtigt worden sind,
einzelne Angaben dazu, welche Arten umweltbezogener Informationen verfügbar sind (unter Verstoß gegen § 4 Abs. 2 S. 3 BauGB) gefehlt haben
der Hinweis nach § 3 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 BauGB (auch i.V.m. § 13 Abs. 2 S. 2 BauGB und § 13a Abs. 2 Nr. 1 BauGB) gefehlt hat,
wenn bei der Anwendung des § 13 Abs. 3 S. 2 BauGB die Angabe darüber, dass von der Umweltprüfung abgesehen wird, unterlassen wurde oder
wenn bei der Anwendung des § 4a Abs. 3 S. 4 BauGB oder des § 13 BauGB (auch i.V.m. § 13a Abs. 2 Nr. 1 BauGB) die Voraussetzungen für die Durchführung der Beteiligung nach diesen Vorschriften verkannt worden sind.

d) Planentwurf

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Daraufhin hat die Gemeinde oder im Falle einer Beauftragung gemäß § 4b BauGB ein von ihr beauftragtes privates Planungsbüro einen Planentwurf zu fertigen. Diesem Entwurf muss gemäß § 2a S. 1 BauGB eine Begründung und gemäß § 2a S. 3 BauGB ein Umweltbericht als gesonderter Teil der Begründung beigefügt werden.

Fehlerfolgen: Ein völliges Fehlen der Begründung ist beachtlich gemäß § 214 Abs. 1 Nr. 3 BauGB. Gemäß § 214 Abs. 1 Nr. 3 Hs. 2 BauGB ist eine lediglich unvollständige Begründung in unwesentlichen Punkten unbeachtlich. Es besteht die Möglichkeit einer Heilung gemäß § 215 Abs. 1 BauGB sowie durch eine planergänzendes Verfahren gemäß § 214 Abs. 4 BauGB.

e) Vollständige Ermittlung und Bewertung des Abwägungsmaterials, § 2 Abs. 3 BauGB

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§ 2 Abs. 3 BauGB stellt die sog. Verfahrensgrundnorm dar.[46] Ihr zufolge hat die Gemeinde die Belange, die für die materiell-rechtliche Abwägung gemäß § 1 Abs. 7 BauGB von Bedeutung sind (Abwägungsmaterial) zu ermitteln und zu bewerten. Zum zu ermittelnden und zu bewertenden Abwägungsmaterial gehören all die Unterlagen, die in der nachfolgenden Abwägung gemäß § 1 Abs. 7 BauGB berücksichtigt oder nicht berücksichtigt werden müssen.[47]

 

aa) Die Verfahrensgrundnorm, § 2 Abs. 3 BauGB

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Die Verfahrensgrundnorm des § 2 Abs. 3 BauGB wurde durch das EAG Bau 2004[48] neu in das BauGB eingeführt. Der Gesetzgeber verfolgte das Ziel, die Ermittlung und die Bewertung planungsrelevanter Belange nicht mehr als materiell-rechtliche, sondern als verfahrensbezogene Pflichten auszugestalten.[49]

Bis zu dieser Änderung waren die Ermittlung und die Bewertung der planungsrelevanten Belange materiell-rechtliche Pflichten und gehörten demnach zum materiell-rechtlichen Abwägungsvorgang. Daher waren sie im Rahmen der materiellen Rechtmäßigkeit eines Bebauungsplanes zu prüfen.

Durch die Einführung des § 2 Abs. 3 BauGB handelt es sich nun um verfahrensrechtliche Pflichten, so dass diese im Rahmen der formellen Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Bebauungsplanes zu prüfen sind.


Ob es durch die Einführung dieser Vorschrift zu einem Paradigmenwechsel gekommen ist, ist umstritten. So wird insbesondere unter Hinweis auf § 214 Abs. 3 S. 2 Hs. 2 BauGB bestritten, dass der Abwägungsvorgang nunmehr alleine verfahrensrechtliche Bedeutung habe. Das Bundeverwaltungsgericht[50] und der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg gehen von einer verfahrensrechtlichen Einordnung der Ermittlung und Bewertung der öffentlichen und privaten Belange durch § 2 Abs. 3 BauGB aus.

Lesen Sie § 2 Abs. 3 und § 1 Abs. 7 BauGB.

Hinweis

Dieses Problem hat Konsequenzen für die Planerhaltung nach §§ 214, 215 BauGB (s. dazu Rn. 212 ff, insbesondere Rn. 221) und wird daher dort behandelt. Zu den Folgen für den Prüfungsaufbau s. Rn. 154.

bb) Die Phasen der Abwägung

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Eine Abwägung i.S.d. § 1 Abs. 7 BauGB vollzieht sich in vier Phasen[51]:


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Hinweis

Die Anzahl der Phasen ist in der Literatur umstritten. So wird teilweise davon ausgegangen, dass sich die Abwägung nicht in vier, sondern in zwei[52] oder drei Phasen[53] vollziehe.

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(1) In der ersten Phase hat die Gemeinde die Belange zu ermitteln und das bedeutsame Abwägungsmaterial zusammenzustellen.[54] Die Gemeinde hat also die konkret von der städtebaulichen Zielsetzung betroffenen öffentlichen und privaten Belange zu erfassen.[55] Es handelt sich um eine diagnostische und prognostische Ermittlung, da aus den weit zu verstehenden Belangen sowohl gegenwärtige wie auch zukünftige Belange zu ermitteln sind.[56] Umfang und Tiefe der gemeindlichen Ermittlungspflicht hängen von den konkreten Umständen ab.

Hinweis

In räumlicher Hinsicht sind nicht nur die Belange zu ermitteln, die mit Grundstücken innerhalb des Plangebietes verbunden sind. Vielmehr müssen auch Rechtspositionen Dritter außerhalb des Plangebietes in die Bewertung einbezogen werden, soweit sie planbedingten, nicht nur geringfügigen Beeinträchtigungen ausgesetzt sind, die in einem adäquat-kausalen Zusammenhang mit der Planung stehen.[57] Dies wird unter dem Begriff des eigentumsrechtlichen Drittschutzes verstanden.[58]

Die Ermittlung der abwägungserheblichen Belange wird durch § 2 Abs. 3 BauGB geregelt und stellt daher eine formale Voraussetzung dar.

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(2) In der zweiten Phase werden die Belange eingestellt. Einstellen bedeutet die Einbeziehung der Belange in die Entscheidung und deren Berücksichtigung bei der Entscheidung.[59] In die Abwägung müssen alle öffentlichen und privaten Belange eingestellt werden, die „nach Lage der Dinge“ in die Abwägung einzustellen sind.[60]


Abwägungsbeachtlich sind i.d.R. alle schutzwürdigen Interessen und ferner solche gegenwärtigen oder zukünftigen Betroffenheiten, die mehr als geringfügig, in ihrem Eintritt zumindest wahrscheinlich und als abwägungsbeachtlich erkennbar sind. Je gravierender eine mögliche Betroffenheit abwägungserheblicher Belange ist, desto eingehender müssen die Ermittlungen sein.

Da das Einstellen eine notwendige Voraussetzung für die später erfolgende Bewertung ist, wird auch diese Phase von § 2 Abs. 3 BauGB erfasst und stellt somit ebenfalls eine formale Voraussetzung dar.

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(3) In der dritten Phase werden die abwägungserheblichen Belange bewertet. Die Gemeinde hat die objektiven Inhalte der Belange zu bestimmen und die einzelnen Belange zu gewichten. Dieses Gewichtungsgebot verlangt, dass jedem konkret abwägungsrelevanten Belang das ihm nach den rechtlichen Vorgaben zukommende objektive Gewicht beigemessen wird.[61]

Auch diese Phase wird von § 2 Abs. 3 BauGB erfasst. Dies folgt zum einen aus dem Wortlaut des § 2 Abs. 3 BauGB, der den Ausdruck „bewerten“ enthält. Weiterhin stellt dieses Bewerten der einzelnen Belange keine Abwägung i.S.d. § 1 Abs. 7 BauGB dar. Es ist vielmehr ein Teil des Verfahrens vor der eigentlichen Abwägung. Daher handelt es sich auch bei dieser Phase um eine formale Voraussetzung.

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(4) Die vierte Phase stellt den Kern der Abwägung i.S.d. § 1 Abs. 7 BauGB dar. In dieser Phase wird entschieden, welchem Belang der Vorrang eingeräumt und welcher zurückgestellt wird, denn nicht alle Belange können bei der Abwägung gleichermaßen Berücksichtigung finden.[62]

Dies stellt die elementare planerische Entscheidung dar, in der entschieden wird, in welche Richtung sich eine Gemeinde städtebaulich geordnet fortentwickeln will. Es geht also um den inhaltlichen Ausgleich der einzelnen Belange. Aus diesem Grund handelt es sich um eine materielle Voraussetzung.

cc) Abwägungsfehlerlehre

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Hinweis

Der Abwägungsfehlerlehre kommt in der baurechtlichen Fallbearbeitung besondere Bedeutung zu und muss daher von Ihnen unbedingt beherrscht werden.[63]

(1) Das Spannungsverhältnis zwischen Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG

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Die Abwägungsfehlerlehre resultiert aus dem Spannungsverhältnis zwischen dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG (und der Eigentumsfreiheit gemäß Art. 14 Abs. 1 GG) des Planbetroffenen und der Planungshoheit der Gemeinde gemäß Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG:[64]

Eine vollumfängliche gerichtliche Kontrolle der gemeindlichen Planung birgt die Gefahr in sich, dass die Gerichte ihre Vorstellungen von einer sachgerechten Planung an die Stelle der Erwägungen der gemeindlichen Planungsinstanzen und ihres Gestaltungsermessens setzen. Hierzu sind jedoch die Gemeinden als Planungsträger berufen und gerade nicht die Gerichte. Kollidieren objektiv gleichrangige öffentliche und bzw. oder private Belange miteinander, kommt dem Plangeber daher eine den Gerichten entzogene Letztgestaltungskompetenz zu. Planung setzt auf Grund der Multipolarität der Entscheidungsfindung einen autonomen Gestaltungs- und Bewertungsfreiraum voraus, der durch ein geringeres Maß gesetzlicher Programmierung und richterlicher Kontrollbefugnis geprägt ist. Planungsentscheidungen sind komplexe Verwaltungsentscheidungen. Sie sind auf die Lösung einer Vielzahl von sowohl Ziel-, wie auch Interessenkonflikten ausgerichtet und es wird ein Ausgleich vieler komplexer, teilweise entgegenstehender Interessen, bezweckt. Andererseits darf der Planungsvorgang nicht einer planungsrechtlichen Willkür unterliegen. Daher darf die gerichtliche Überprüfung zwar nicht schrankenlos sein, kommt aber zugleich nicht ohne ein Mindestmaß an inhaltlicher Prüftiefe aus.

Hinweis

Verwaltungsrechtliche Vorschriften enthalten i.d.R. ein Konditionalprogramm, in Form eines „wenn-dann-Schemas“ (Voraussetzung gegeben Rechtsfolge). Der Abwägungsvorgang hingegen stellt ein Finalprogramm[65] dar, das durch ein Mittel-Zweck-Schema gekennzeichnet ist: Der Zweck der Planung muss die eingesetzten Mittel rechtfertigen (Zweck der Planung eingesetzte Mittel).[66]

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Durch Rechtsprechung und Literatur ist daher eine Systematisierung der Gründe, die zu einer Verletzung des Abwägungsgebotes führen, erfolgt. Insgesamt gibt es vier Abwägungsmängel (Abwägungsfehlerlehre).[67] Abwägungsfehler kennzeichnen Verstöße gegen unverzichtbare Grundelemente des gemeindlichen Planungsermessens.[68]

Diese können sowohl den Abwägungsvorgang wie auch das Abwägungsergebnis betreffen: Sie können sich zum einen auf den Vorgang der Ermittlung der abwägungsrelevanten Belange und zum anderen auf den Bebauungsplan, der das Ergebnis der Gewichtung der Belange untereinander ist, beziehen.

JURIQ-Klausurtipp

Durch die Einführung des § 2 Abs. 3 BauGB enthält das BauGB zwei Vorschriften, die die Abwägung betreffen. § 2 Abs. 3 BauGB regelt als formelle Vorschrift den Vorgang der Ermittlung und Bewertung der abwägungsrelevanten Tatsachen. § 1 Abs. 7 BauGB regelt als materielle Vorschrift den gerechten Ausgleich der Belange untereinander. Dies hat zur Folge, dass das Abwägungsgebot in Klausuren an zwei Stellen, der Prüfung der formellen und der materiellen Rechtmäßigkeit eines Bebauungsplanes, zu behandeln ist.

(2) Die Abwägungsfehler im Einzelnen

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Im Folgenden werden die einzelnen Abwägungsfehler dargestellt und der formellen oder der materiellen Seite zugeordnet.


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Hinweis

Die Bezeichnung der Fehler erfolgt in der Literatur uneinheitlich. Inhaltlich handelt es sich jedoch um die gleichen Fehler.


Ein Abwägungsausfall liegt vor, wenn eine (sachgerechte) Abwägung überhaupt nicht stattfindet oder erkennbar ist.[69]

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In dieser Konstellation hat die Gemeinde mit der Ermittlung der abwägungsrelevanten Belange überhaupt nicht begonnen.

Beispiel 1

Eigentümer E möchte ein bisher für die Landwirtschaft genutztes Gebiet mit einem Wohnhaus bebauen. Daher steht er in regem Kontakt zur Gemeinde A und verhandelt mit dieser. A ist sich noch nicht darüber schlüssig, ob sie das Gebiet beplanen und falls sie es beplanen möchte mit welchem Inhalt dies erfolgen soll. Nach einiger Zeit hält sich A wegen den Verhandlungen mit E rechtsirrtümlich für vertraglich verpflichtet und beschließt einen Bebauungsplan mit dem von E gewünschten Inhalt.

Dies stellt einen Abwägungsausfall dar, da die Gemeinde überhaupt keine Abwägung der privaten und öffentlichen Belange vorgenommen hat, sondern ohne Abwägung wegen eines Rechtsirrtums bestimmte Festsetzungen getroffen hat.

Der Abwägungsausfall ist ein formeller Fehler, der unter § 2 Abs. 3 BauGB fällt.


Ein Abwägungsdefizit ist gegeben, wenn die Gemeinde in die erfolgende Abwägung nicht alle abwägungserheblichen Belange einstellt bzw. diese gar nicht erst ermittelt.[70]

Beispiel 2

Gemeinde A setzt in einem Bebauungsplan ein Gewerbegebiet fest, das an ein reines Wohngebiet angrenzt. Dabei berücksichtigt sie die Schutzbedürftigkeit des angrenzenden reinen Wohngebietes nicht.

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Im Falle eines Abwägungsdefizits hat die Gemeinde zwar mit der Ermittlung der abwägungserheblichen Belange begonnen, wobei dies in unvollständiger Weise erfolgte. § 2 Abs. 3 BauGB fordert jedoch eine vollständige Ermittlung des Abwägungsmaterials. Daher ist dieser Fehler § 2 Abs. 3 BauGB und mithin der formellen Seite zuzuordnen.


Eine Abwägungsfehleinschätzung liegt vor, wenn die einzelnen Belange zwar vollständig ermittelt, aber nicht entsprechend ihrer objektiven Gewichtung in die Entscheidung eingestellt worden sind.[71]

Beispiel 3

Bei der Erweiterung eines Campingplatzes wurden zwar die Belange des Naturschutzes und der Landschaftspflege in die Abwägung einbezogen. Diesen wurde jedoch ein sehr geringes Gewicht beigemessen (Abwägungsfehleinschätzung).

152

Da § 2 Abs. 3 BauGB nicht nur den Begriff „ermitteln“, sondern auch den Begriff „bewerten“ enthält und das Bewerten dem Ermitteln daher gleichsetzt, ist auch dieser Fehler der formellen Seite zuzuordnen.

153


Eine Abwägungsdisproportionalität ist gegeben, wenn der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten öffentlichen Belangen in einer Weise vorgenommen wurde, der zu deren objektiven Gewichtung der Belange außer Verhältnis steht.[72]

Beispiel 4

Die Gemeinde A plant eine bisher als Mischgebiet ausgewiesene Fläche als reines Wohngebiet auszuweisen. Bei der Abwägung der konfligierenden Interessen der Wohnhausbesitzer und der Gewerbetreibenden gelangt sie zum Ergebnis, dass zum Schutz der Wohnbevölkerung alle Gewerbebetriebe geschlossen werden müssten.

Hier hat die Gemeinde A zwar einen Ausgleich zwischen den widerstreitenden privaten Interessen vorgenommen. Dabei hat sie jedoch die Interessen der Wohnbevölkerung unangemessen weit berücksichtigt und die Interessen der Gewerbetreibenden, insbesondere von nicht störenden Betrieben, unangemessen zurückgestellt.

Die Abwägungsdisproportionalität betrifft den Ausgleich der Belange untereinander und somit das Ergebnis der Abwägung. Daher handelt sich um einen Verstoß gegen das Gebot der gerechten Abwägung gemäß § 1 Abs. 7 BauGB und somit um einen materiellen Fehler.

154

JURIQ-Klausurtipp

Die Einführung des § 2 Abs. 3 BauGB als Verfahrensgrundnorm hat – wenn Sie der hier vertretenen und herrschenden Auffassung folgen (s.u. Rn. 221) – Konsequenzen für den Prüfungsaufbau, die daraus resultieren, dass die bisherigen materiell-rechtlichen Pflichten des Ermittelns und Bewertens der abwägungsrelevanten Belange, wie dargestellt (s. zum EAG Bau s. Rn. 140, 192, 338, 448 ff., 467 ff.), nun die formelle Rechtmäßigkeit eines Bebauungsplanes betreffen. Die Abwägungsdisproportionalität stellt jedoch weiterhin einen materiell-rechtlichen Fehler dar. Es bietet sich folgender Aufbau an:

I. Bei der Prüfung der formellen Rechtmäßigkeit gehen Sie wie folgt vor:


1. Stellen Sie zunächst die Bedeutung des § 2 Abs. 3 BauGB dar, gehen Sie dann auf die Änderungen der Rechtslage ein und erörtern danach, ob es durch die Einführung des § 2 Abs. 3 BauGB zu einem Paradigmenwechsel gekommen ist (s. die Darstellung des Streitstandes bei Rn. 221).
2. Anschließend erfolgt eine Darstellung der Fehlerfolgenlehre. und eine Einstufung aller vier Abwägungsfehler als formell-rechtliche oder materiell-rechtliche Fehler.
3. Die Konsequenz für den Prüfungsaufbau ist: a) Bei der Prüfung der formellen Rechtmäßigkeit sind • der Abwägungsausfall • das Abwägungsdefizit und • die Abwägungsfehleinschätzung zu prüfen. b) Im Rahmen der Prüfung der materiellen Rechtmäßigkeit verweisen Sie dann beim Abwägungsgebot gemäß § 1 Abs. 7 BauGB auf Ihre vorherigen Ausführungen zu § 2 Abs. 3 BauGB. Dort prüfen Sie dann den einzigen materiellen Fehler, nämlich die Abwägungsdisproportionalität.