Zwischen Leben und Tod - 20 Jahre als Notarzt

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Couch-Potato

Stuttgart im Herbst 1999. Um 16 Uhr piept es.

„Männlich, 40, unklare Situation, Verständigungsprobleme, Unfall?“

Jasmin guckt mich kopfschüttelnd an, schnappt sich dann ihre signalgelbe Jacke und wir laufen zum Notarztwagen. Blaulicht an. Los durch den beginnenden Berufsverkehr der Großstadt.

„1-82-1 von Leitstelle“, knarzt es aus dem Lautsprecher des Funkgerätes.

Ich nehme den Hörer an mein Ohr und antworte der Rettungsleitstelle.

„Hier 1-82-1!“

„Die Situation vor Ort ist unklar. Der aufgeregte Anrufer hatte einen osteuropäischen Akzent. War kaum zu verstehen. Der Patient heißt wohl Vitali Smirnikoff. Schaut mal, was da los ist. Die Polizei kommt auch!“

Nach acht Minuten erreichen wir gemeinsam mit dem Rettungswagen die triste Hochhaussiedlung. Ein riesiges Klingeltableau. Viele Schilder fehlen, andere sind unlesbar oder mehrfach überklebt. Auf einem ausgeblichenen Etikett erkenne ich noch die Buchstaben „Vitali Smir“ und klingele.

Bevor der Türsummer geht, springt unvermutet die Haustür auf. Ein Mann, vielleicht 25 Jahre alt, kommt wie gehetzt herausgelaufen. Er erschrickt, als er uns sieht, bleibt kurz stehen und sortiert sich. Rennt dann weiter und ist verschwunden.

Wir betreten irritiert das Haus und laufen in den zweiten Stock. Eine Wohnungstür steht offen.

„Sind wir hier richtig? Smirnikoff?“, rufe ich in den Wohnungsflur.

Die Antwort aus einem der hinteren Zimmer verstehe ich nicht, betrete dennoch die Wohnung. Auf dem Sofa des völlig verqualmten Wohnzimmers sitzt Vitali unter einem Madonnenbild. Er schwitzt. Vor ihm auf dem Wohnzimmertisch leere Flaschen und volle Aschenbecher. In seiner linken Hand hält er eine Zigarette, mit der rechten winkt er zur Begrüßung.

„Guten Tag, haben Sie uns angerufen?“

Keine Antwort.

„Was passiert? Unfall? Krank?“, versuche ich es erneut.

Vitali antwortet mit russischem Akzent: „Gutt. Gutt. Nix Prablem.“

„Darf ich Sie untersuchen?“, frage ich und zeige auf mein Stethoskop.

„Kein Prablem!“ Vitali nickt.

Jasmin und die beiden Jungs vom Rettungswagen knöpfen Vitalis Hemd auf und kleben die EKG-Elektroden auf seine Brust, wickeln dann die Druckmanschette um den Oberarm und stecken einen Fingersensor zur Bestimmung des Sauerstoffgehaltes im Blut auf den Zeigefinger. Vitali sitzt, unbeeindruckt weiter rauchend, bequem an das Rückenpolster gelehnt, auf dem Sofa. Die gemessenen Werte sind in Ordnung: Blutdruck 130 zu 80, Puls 90, Sättigung 96%.

Nun höre ich ihm die Lunge ab. Geht ja auch von vorne, wenn der Patient auf dem Sofa sitzt.

„Tief einatmen und Zigarette weg!“

Vitali hat eine unglaubliche Fahne. Ein unheiliger Mix aus Alkohol, schlechten Zähnen und kaltem Rauch. Ein schlimmer Nachteil, wenn man vorne abhört...

„Kein Prablem!“

Seine Lunge hört sich gut an. Ich weiß nicht, was wir hier sollen. Alle Werte ok, EKG und Lunge in Ordnung. Alles wirklich „kein Prablem!“ Vielleicht sind wir gar nicht in der richtigen Wohnung? Ich schaue die Sanis schulterzuckend an.

Da beugt sich Vitali im selben Augenblick zum Wohnzimmertisch vor, offenbar, um sich eine neue Zigarette aus der auf dem Tisch liegenden Packung zu nehmen.

Erst jetzt sehe ich einen riesigen dunkelroten Fleck am Rückenpolster des beigen Sofas. Schock!

„Was ist passiert? Da ist Blut am Sofa!“

„Kein Prablem!“

Schon lehnt sich Vitali wieder zurück an das Rückenpolster und verdeckt den Fleck.

„Bitte beugen Sie sich nach vorne.“

Vitali rührt sich nicht.

Jasmin tritt an ihn heran, ergreift beherzt seine Hände und zieht seinen Oberkörper nach vorn. Ich zerre das blutgetränkte Hemd aus der Jeans. Rechts neben der Brustwirbelsäule über den Rippen finde ich eine drei Zentimeter lange gelappte Schnittwunde, aus der sich stetig ein kleines Blutrinnsal entleert.

„Wie sind die Kreislaufwerte?“, frage ich Jasmin, die einen besseren Blick auf den Monitor hat.

„Alles in Ordnung! Unverändert!“

„Kein Prablem! Alles gutt!“, ergänzt Vitali grinsend.

„Macht einen luftdichten Verband drauf!“

Vitali will plötzlich aufstehen. Er ist so betrunken, dass er mehrere schaukelnde Anläufe nimmt, um vom Sofa hoch und auf die Beine zu kommen.

Als ich ihn auffordere, ruhig sitzen zu bleiben, hören wir ein "ZISCH".

Unser Patient kneift kurz die Augen zusammen. Sein Gesicht ist für eine Sekunde schmerzverzerrt. Dann grinst er wieder.

Ich hole schnell das Stethoskop aus meiner Jackentasche und halte es nochmal auf Vitalis rechten Brustkorb. Nichts zu hören. Kein Atemgeräusch. Im Seitenvergleich ist noch deutlicher: links normales Atemgeräusch, rechts nichts. Offenbar ist Vitalis rechte Lunge gerade zusammengefallen.

„Pneu! Sauerstoff und Thoraxdrainage!“

Unter Pneumothorax (oder kurz im Fachjargon „Pneu“) versteht man, dass Luft in den Zwischenraum zwischen Lunge und Brustkorb (Pleuraspalt) gelangt. Dieser Spalt ist normalerweise luftleer. Ein Flüssigkeitsfilm sorgt dafür, dass die Lunge von innen am Brustkorb „klebt“ und damit entfaltet ist (der gleiche Effekt, den ein Wassertropfen zwischen zwei Glasplatten erzielt). Gelangt nun aber Luft in den Pleuraspalt, weil das Gewebe verletzt wurde, reißt der haftende Flüssigkeitsfilm ab und die elastischen Strukturen der Lunge lassen diese zusammenschnurren, „kollabieren“. Der Lungenflügel steht nicht mehr zur Atmung zur Verfügung. Absolute Lebensgefahr! Die Therapie besteht in der Einlage eines Saugschlauches in den Brustkorb, mit dem die "falsche" Luft abgesaugt wird.

„Ich muss Ihnen einen Schlauch in den Brustkorb legen!“

„Der Sauerstoffgehalt im Blut fällt. Jetzt nur noch 89%!“, mahnt einer der Sanis.

Vitali kämpft beim Atmen. Er kriegt einfach nicht so viel Luft in seinen Körper, wie er will und benötigt.

„Prablem! Prablem!“, presst er aus blauen Lippen heraus.

Jasmin hat die Drainage vorbereitet.

„Machen! Machen! Prablem!“

Am seitlichen Brustkorb setze ich einen ca. fünf Zentimeter langen Hautschnitt, nachdem ich desinfiziert und ein Betäubungsmittel gespritzt habe. Dann drängt mein Zeigefinger die Weichteile zwischen den zwei Rippen auseinander, und ich führe mit der anderen Hand in das so entstandene Loch den etwa kleinfingerdicken Plastikschlauch in die rechte Brusthöhle. Noch schnell fixieren und ein steriler Verband. Jasmin schließt rasch die Saugeinheit an den Schlauch an.

Dreißig Minuten später liegt Vitali auf der unfallchirurgischen Intensivstation. Mit einem großen "Prablem".

PS: Offenbar hat Vitalis Sofa-Turnerei dazu geführt, dass sich die Ränder der Stichwunde so verschoben haben, dass Luft in den Brustkorb eindringen konnte, was zuvor noch nicht der Fall war. Immerhin war meine erste Untersuchung der Lunge unauffällig.

Timo und Tarantula

1997. Ich bin noch „Notarzt-Praktikant“, habe den Notarzt-Kurs erst vor kurzem absolviert. An meiner Seite ist Michael, Narkosearzt und Notfallmediziner seit hundert Jahren. Er ist heute mein Anleiter, lässt mich machen und greift nur dann ein, wenn ich gar nicht klarkomme.

„Krampfanfall, 10 Jahre, männlich“ steht auf unseren Alarmmeldern, als es am Vormittag piept.

Einmal quer durch die süddeutsche Großstadt bis zum schicken Einfamilienhaus in nobler Hanglage.

„Schnell, schnell, kommen Sie. Mein Sohn stirbt!“, empfängt uns Timos Mutter. Ruckzuck schnappen wir unsere Ausrüstung und folgen der Frau im Laufschritt.

„Was ist passiert?“, frage ich beim Betreten des Hauses.

„Timo ist schon seit einigen Tagen krank. Hat sich irgendeinen Magen-Darm-Virus in der Schule eingefangen. Ständig muss er brechen. Vor 20 Minuten hat er einen Zwieback gegessen, wollte dann aufstehen und ist einfach umgefallen. Seither krampft er.“

Als wir in die Küche kommen, sehe ich den Jungen zuckend auf dem Boden liegen. Ein Krampfanfall, wie ich ihn erschreckender noch nie gesehen habe: Sein Kopf ist starr nach links gedreht, seine Halswirbelsäule komplett überstreckt, der wirre Blick fixiert nach oben gerichtet, der Rücken zum Hohlkreuz geformt, seine Arme und Handgelenke maximal gebeugt und die Hände zu Fäusten geballt. Sein Gesicht ist im Krampf zu einer bösen Grimasse mit herausgestreckter Zunge entstellt.

„Ist Ihr Sohn Epileptiker? Hat er so was schon mal gehabt?“, frage ich die Mutter.

„Nein. Er war bisher immer gesund. Helfen Sie ihm doch!“

„Hat Ihr Sohn Fieber?“

Vielleicht ein einfacher Fieberkrampf? Dafür ist Timo eigentlich schon zu alt. Aber wer weiß?

„Nein. Ich habe heute Morgen die Temperatur gemessen. 36,6°C! Unternehmen Sie endlich was!“

Dann muss es wohl ein „normaler“ erster Krampfanfall sein. Dachte ich...

„Tropf legen, dann Valium gegen den epileptischen Anfall!“

Die Jungs vom RTW machen ihre Koffer auf und reichen mir das Material. Der erste und der zweite Versuch, einen Tropf zu legen, gehen voll in die Hose. Timos Arme schütteln so heftig, dass auch das Festhalten durch die Sanis nicht viel hilft und ich die Adern zersteche. Beim dritten Mal klappt es dann endlich. Der Tropf liegt. Mir steht der Schweiß auf der Stirn. Der Junge zuckt unentwegt.

"Um Gottes Willen, warum helfen Sie ihm denn nicht?"

„Jetzt das Valium!“

"Stopp!

Jetzt schreitet Michael ein.

„Warte mal. Der Junge hat Magen-Darm. Frag doch mal, ob er dagegen ein Medikament bekommt!“

 

„Hier, diese Tabletten hat er gegen das Erbrechen vom Kinderarzt“, kommt Timos Mutter meiner Frage zuvor und zeigt mir eine Packung MCP-Tabletten. Metoclopramid kenne ich in Tropfenform aus der Klinik. Die geben wir regelmäßig Patienten, denen nach einer Narkose schlecht ist.

„Und? Geht dir ein Licht auf?“, fragt Michael.

Ich schaue ihn fragend an. Bei mir bleibt es dunkel. Nein, kein Geistesblitz.

„Mensch, Mensch, ihr Chirurgen könnt auch nur operieren. Stichwort Parkinsonismus! Na, fällt der Groschen? Das ist eine typische Nebenwirkung von MCP. Besonders bei Kindern!“, sagt er grinsend und gibt mir eine Ampulle. Valium ist es nicht!

Der Parkinsonismus gehört wie verschiedene andere Erkrankungen in die Gruppe der „extrapyramidal-motorischen Störungen“, also Störungen der Bewegung, die ihren Ursprung weder im Großhirn noch im Rückenmark haben. Diesen Erkrankungen liegt die fehlende Wirkung des Botenstoffes Dopamin zugrunde, der im Gehirn Signale übermittelt und für geordnete Bewegungsabläufe sorgt. Fehlt Dopamin ganz oder teilweise (Morbus Parkinson) oder wird es an seiner wichtigen Wirkung gehindert (wie in diesem Fall durch das Medikament), kommt es zu den geschilderten unkontrollierbaren Bewegungen des ganzen Körpers. Im Notfall wird ein Medikament eingesetzt, das dämpfend auf Muskelbewegungen wirkt.

Der Sani reicht mir eine Spritze mit Akineton. Nachdem ich das Medikament langsam gespritzt habe, hört Timo innerhalb von zwei Minuten auf zu zittern und zu zucken. Entspannt liegt er da und lächelt mich an.

PS: Und was hat das alles mit der Spinne "Tarantula" zu tun? Bei der Vorbereitung dieser Story habe ich "Dyskinetisches Syndrom" (häufiges Synonym für "Parkinsonismus") gegoogelt. Die meisten Treffer lieferten, ACHTUNG, kein Scherz: Seiten über Vogelspinnen! Offenbar zeigen diese Tiere bei Befall mit bestimmten Milben u.a. genau die gleichen Symptome: unkontrolliertes Zittern und Krämpfe.

Über den Wolken

Süddeutschland 2001. Ein Rettungswagen hat gerade eine Schülerin in die chirurgische Ambulanz gebracht. Das Mädchen ist während des Sportunterrichtes umgeknickt und hat nun schlimme Schmerzen am Sprunggelenk. Ich stelle mich kurz vor und will gerade mit der Untersuchung beginnen, da piept es in meiner Kitteltasche:

„Schlaganfall, weiblich, 28, Flughafen.“

„Entschuldigung, ich muss weg. Mein Kollege kümmert sich gleich um dich!“

Ich rausche ab, tausche noch rasch meinen Kittel gegen die signalrote Jacke. Die weiße Hose und meine Clogs behalte ich an. Sicherheitsstiefel und Einsatzhose werden erst in zehn Jahren ein Thema sein...

Unten am Klinikeingang wartet „Salat-Andi“ im Notarztauto. Er hat den Spitznamen von seinen Kollegen erhalten, weil er sich seit einer Kur mit eingehender Ernährungsberatung nur noch von Rohkost ernährt.

„Hallo Salat-Andi, weißt du schon was Genaueres?“

Wir müssen beide lachen. Dann antwortet er:

„Wir sollen auf das Flug-Vorfeld. In einer Linienmaschine von Dubai nach Hamburg hat wohl eine junge Frau einen Schlaganfall erlitten. Das Flugzeug macht deshalb hier einen Not-Stop vor dem Weiterflug!“

Blaulicht an und los. Die Kohlfelder der Fildern fliegen an uns vorbei. Nach 12 Minuten stehen wir vor dem Gittertor. Ein Pförtner kommt angelaufen, öffnet uns und gibt Salat-Andi Anweisungen, wo wir uns melden sollen. Das schwarz-gelb-karierte „Follow-me“-Auto erwartet uns bereits zusammen mit dem Rettungswagen der Flughafen-Feuerwehr. Gemeinsam geht es bis zur Landebahn des Flughafens. Endlich hält das Einweisungsfahrzeug etwas abseits an. Hier ist weit und breit kein Flugzeug zu sehen. Auch nicht am Himmel. Der „Follow-me“-Fahrer kommt stattdessen zu uns.

„Die Boeing 737 wird um 11.38 Uhr erwartet. Alle anderen Starts und Landungen sind bis dahin gecancelled!“

Während wir noch warten, wird hinter uns die mobile Gangway angeliefert und in Stellung gebracht.

Punkt 11.38 Uhr: Touch down. Rauch der bremsenden Räder steigt auf.

Der riesige weiße Vogel rollt kurze Zeit später an uns vorbei und erreicht schließlich seine Parkposition. In Windeseile wird die Treppe im vorderen Bereich der Boeing montiert. Salat-Andi und ich laufen als Erste die Gangway hoch. Als wir oben ankommen, öffnet sich auch schon die Tür des Flugzeugs und eine Stewardess nimmt uns in Empfang.

„Bitte folgen Sie mir!“

Wir zwängen uns unter den neugierigen Blicken der anderen Passagiere mit unserer Ausrüstung durch den Mittelgang. Steffi sitzt in Reihe 10 direkt am Gang. Die Flugbegleiterin gibt uns einen kurzen Überblick.

„Die junge Dame hat uns verständigt, als wir gerade über den Alpen waren. Etwas stimme nicht mit ihr, ihr sei schlecht und schwindelig. Außerdem könne sie nicht mehr richtig sprechen. Aber sehen Sie doch selbst!“

Ach du Kacke! Steffi schaut mich komplett schief an. Eine sehr attraktive junge Frau. Eigentlich! Wenn denn nicht ihre linke Gesichtshälfte entstellt wäre: Ihre linke Wange ist im Gegensatz zur rechten ohne Spannung. Ihr linkes Auge tränt. Der linke Mundwinkel hängt herab. Die Stewardess wischt Steffi mit einem Taschentuch dort herauslaufende Spucke weg.

„Guten Tag, wir sind vom Rettungsdienst. Können Sie mich verstehen?“

Steffi nickt.

„Haben Sie Kopfschmerzen?“

„Nein, mir isch nur schwindelisch. Un schlescht!“, kämpft sie ihre Antwort mit kloßig näselnder Stimme heraus, die ich anfangs kaum verstehe. Hört sich verwaschen an...

Ein rascher Blick in Steffis blaue Augen zeigt mir normale Pupillen, die sich flott verengen, als ich mit der Lampe hineinleuchte.

Ich bitte Steffi, mir alles nachzumachen, was ich ihr nun vormache. Stirnrunzeln. Kann sie nicht. Augen zukneifen. Kann sie nicht. Wangen aufblasen. Kann sie nicht. Pfeifen. Kann sie nicht.

„Scheiße!“, denke ich, „Schlaganfall mit 28“.

Dann fordere ich Steffi auf, Arme und Beine so zu bewegen, wie ich es vormache. Das kann sie alles prima. Gottseidank! Kein kompletter Schlaganfall...

„Tatsächlich Apoplex?“, fragt mich Salat-Andi. Ich nicke.

Ein Schlaganfall (Apoplex) ist die Folge einer Durchblutungsstörung des Gehirns. Der entstehende Sauerstoffmangel führt in der betroffenen Hirnhälfte zu Nervenzellstörungen und im weiteren Verlauf zum Nervenzelltod. Bewegungen, die normalerweise von den jetzt geschädigten Hirnarealen gesteuert werden, können nicht mehr ausgeführt werden. Je nach Ausdehnung der Hirnschädigung finden sich z.B. „nur“ Lähmungen im Bereich des Gesichtes oder des Armes. In schwersten Fällen kann es zu einer vollständigen einseitigen Lähmung von Kopf bis Fuß kommen.

Die Ausfälle betreffen dabei immer die gegenüberliegende Körperhälfte, da die Nervenfasern auf ihrem Weg vom Hirn zur Peripherie kreuzen und die Seiten wechseln (im o.g. Fall Schaden in der rechte Gehirnhälfte >>> Ausfälle linke Gesichtshälfte).

Ich bitte die Sanis, unsere Patientin zu verkabeln und einige Werte zu messen.

„Zugang, Blutzucker, EKG und Blutdruck!“

Sie beginnen sofort mit ihrer Arbeit, was sich aber in Anbetracht der Enge des Flugzeuges sehr mühsam gestaltet. Multitasking geht nicht. Eins nach dem anderen.

Ich rede weiter mit Steffi.

„Haben Sie andere schwere Vorerkrankungen? Ich meine nicht Schnupfen oder so was!“

„Nein. Isch war immer geschund. Scheid vorgeschtern bin isch erkältet.“

„Nehmen Sie Medikamente?“

Steffi schüttelt den Kopf.

Die Jungs haben die ersten Werte. Blutzucker ok. Blutdruck ok. Puls und EKG ok.

„Wir bringen Sie jetzt rasch in die nächste neurologische Klinik! Bevor wir starten, spritze ich Ihnen noch ein Medikament gegen die Übelkeit!“

Die junge Patientin liegt kurze Zeit später im Rettungswagen. Mit Blaulicht geht es über die Schnellstraße in die Klinik.

Als wir auf der Schlaganfallstation ankommen, werden wir bereits erwartet. Salat-Andi hat offenbar ordentlich Druck gemacht, als er die junge Patientin in der Klinik telefonisch angekündigt hat. Ich gebe dem Neurologen einen knappen Überblick, berichte über den Not-Stopp des Flugzeuges und von den Tests, die ich mit Steffi gemacht habe. Dann frage ich, ob wir direkt zur Computertomografie des Kopfes durchstarten sollen.

Der Alt-Oberarzt schaut Steffi mit 100-jähriger Berufserfahrung an und sagt dann knapp:

„Abwarten! Sind die Ohren in Ordnung?“

Ich bin irritiert und denke mir: „So ein Schwachsinn. Die arme Frau hat einen Schlaganfall, und er redet von ihren Ohren?“ Ich antworte gleichwohl höflich: „Nein, wir haben keinen Ohrenspiegel im Rettungswagen.“

„Seit wann sind Sie erkältet?“, fragt er die Patientin. Steffi antwortet wie schon zuvor.

„Ist Ihre Nase dicht?“

Steffi nickt.

Der neurologische Silberrücken holt ein Otoskop, schiebt dessen Trichter vorsichtig in Steffis linkes Ohr, schaut nur wenige Sekunden hinein und fordert mich dann auf, auch hineinzusehen. Hinter dem Trommelfell schimmert es dunkelrot. Er grinst mich an und sagt dann sehr freundlich, fast väterlich, zu Steffi gewandt:

„Machen Sie sich keine Sorgen! Ihre Gesichtslähmungen sind bald wieder weg!“

Dann dreht er sich zu mir und sagt:

„Es stimmt schon: was häufig ist, ist häufig. Ein Schlaganfall ist deutlich häufiger bei hängendem Lid und schiefem Mundwinkel. Es gibt allerdings auch seltene Ursachen für bestimmte Symptome wie hier den Ausfall des Gesichtsnervs. Druckschaden ist das Stichwort, Herr Kollege!“

Ich stehe da wie ein kleiner Schuljunge...

PS: Was meinte der Oberarzt? Jeder, der mal einen fiesen, festsitzenden Schnupfen hatte, kennt das Gefühl von Druck auf den Ohren oder gar Ohrenschmerzen. Diese werden noch schlimmer, wenn man in die Berge fährt oder taucht.

Die Schmerzen resultieren aus einem fehlenden Druckausgleich zwischen Nasen-Rachen-Raum und Mittelohr, wenn der Verbindungskanal zwischen den beiden genannten Strukturen zugeschwollen ist. Kann dieser Druckausgleich nicht stattfinden, entsteht im Mittelohr ein dauerhafter Unter- oder Überdruck gegenüber dem Umgebungsdruck (z.B. beim Tauchen bzw. beim Fliegen, gerne auch bei Autofahrten mit größeren Höhenunterschieden). Das führt zum Anschwellen der Mittelohr-Schleimhaut verbunden mit Austritt von Blut und Gewebswasser und so zum weiteren Druckanstieg im Mittelohr.

Das Fatale daran: der Nervus facialis (Gesichtsnerv) nimmt seinen Weg durch das Mittelohr zu den Gesichtsmuskeln. Der winzig-dünne, sehr empfindliche Nerv kann einen Druckschaden bekommen, so dass er die elektrischen Impulse nicht mehr übertragen kann. So kann es zum Ausfall der Gesichtsmuskulatur kommen. Therapeutisch steht die Druckentlastung durch abschwellende Medikamente im Vordergrund.

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