Tilman und die Nackten

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3

Im Ratssaal des Grünbaums zu Würzburg wurde es laut. Hatte die Fertigstellung der gewaltigen Turmhaube der riesigen Bürgerkirche am neuen Markt wenige Jahre zuvor denn nicht schon genügend hart in ihrer aller Säckel der Stadt gewütet? Kostete der Anteil des Rates an der Neuerrichtung der großen Brücke die braven Bürger nicht schon genug? Brauchte es an der Kirche da wirklich auch noch eine Figurengruppe entlang der hoch aufragenden Strebepfeiler, die so geschickt den Schub des Netzgewölbes im Innern aufnahmen?

„Zu den Themen der Maria und des Weltengerichtes an den Portalen passen nun einmal die Heiligen Apostel unseres Herrn. So seht das doch ein“, sagte Johann von Allendorf mit erhobener, Autorität gewohnter Stimme. Der Probst des Ritterstifts St. Burkard, Domherr und enger Vertrauter des alten Fürstbischofs Rudolf von Scherenberg nahm als Vertreter des Oberrates an der Sitzung teil.

„Es sind doch nicht die Apostel unseres Herrn, es ist das Geld, das uns drückt. Zwölf lebensgroße Figuren in der Höh’ dort oben. Herrschaftszeiten, lassen wir der Kapell’ doch alleweil mal die Ruh’. Wir kommen doch kaum noch mit der vielen Steuer deines Bischofs hinterher“, entgegnete Endres Stein von der mächtigen Zunft der Wirte und Weinmesser.

„Und die Brücke“, rief ein anderer aus den Reihen der einfachen Räte, „sag dem Allendorfer doch mal, wer dem Bischof die Brücke baut.“

So ging es für eine Weile hitzig hin und her. Den Vertretern des Oberrates und dem Fürstbischof warf man vor, die Stadt und ihr Bürgertum nicht nur kontrollieren zu wollen, sondern mittels erzwungener Pflichten wie dem Neubau der Brückenbögen und Fahrbahn in Stein, immer weiterer Mauern, Tore und Türme sowie nun auch noch die Figuren an der städtischen Kirche in nicht endender Sorge und Geldnot halten zu wollen. Die Oberräte hielten dagegen, dass Brücke und Mauern zwar einer Sorge ihres gnädigen Landesherrn entsprängen, aber es sei dies doch nur die Sorge um das Wohlergehen der Stadt und ihrer Bürger, die Sorge um seine Untertanen. Endlos hätte der Wortkampf aus Rede und Widerrede angedauert, wäre nicht der Anton Mühlbach aus der Hauger Vorstadt schließlich vorgetreten, um den Räten einen neuen Vorschlag anzutragen. Er hatte hier das Rederecht, durfte bei Entscheidungen aber nicht mitstimmen.

„Ihr Herren, geben wir der Stadtkirche doch zunächst nur zwei große Figuren. Sehen wir, wie das Volk diese aufnimmt und ob es die weiteren sodann bezahlen will.“

Unschlüssiges Raunen. „Nur zwei Apostel?“, meldete sich nun wieder Endres Stein misstrauisch zurück. „Welche wählst du dafür aus?“

Mühlbach rieb sich kurz den spitz geschnittenen Bart. „Keine Apostel. Es müssten andere sein, eine Zweiergruppe, ein Paar …“

„Da kannste der Maria ja gleich Adam und Eva hinstellen“, feixte ein anderer dazwischen und schlug sich auf die Schenkel, gefolgt von einigem Gelächter aus dem Kreis der Räte.

‚Adam und Eva! Das ist es doch, Ihr Herren, der Mutter Gottes stehen wohlgefällig die ersten Menschen, die Eltern des Menschengeschlechts zur Seite.“

Getuschel breitete sich im Wenzelsaal aus, zum ersten Mal an diesem Tag. Dann ließ sich einer der Zunftvertreter vernehmen: „Aber wo stellen wir die dort oben an den Pfeilern auf? Nach Süden sind es vom Chor bis zum Westportal genau zwölf Pfeilerplätze für die Figuren. Auch deshalb die Apostel. Willst du sie also daruntersetzen?“

Wieder überlegte der besonnene Mühlbach. „Nicht darunter, nein. Dem Südportal mit der Krönung Mariens zu den Seiten. Im Tabernakel, geradewegs wie es für Apostel an den Pfeilern vorgeschlagen wurde.“

So wie es dem Rat anstand, wurde das Für und Wider noch zur Gänze ein Stündchen lang abgewogen. Der beinahe einmütige Beschluss fiel indess zur Beauftragung zweier lebensgroßer Figuren von Adam und Eva für das Südportal der ebenso riesigen wie prachtvoll lichten Kapelle der Würzburger Bürgerschaft aus. Der Bildhauer zur Ausführung wäre noch zu bestimmen, das hatte Zeit, vielleicht ja der junge Meister Til von der Sankt-Lukas-Gilde. Nicht wenige beglückwünschten den pfiffigen Mühlbach für seine kluge Idee zu der doch sehr viel kleineren Gruppe. So gewann man gegenüber Oberrat und Bischof Zeit, solcherlei Jahre wahrscheinlich, und man sparte sich viele städtische Gulden, die an anderer Stelle dringender gebraucht wurden. Es kam nicht oft vor in diesen Zeiten, dass es ihrem Rat gelang, der fürstbischöflichen Obrigkeit eine lange Nase zu drehen. Die großen Ratskrüge wurden herbeigeschafft und dem Anlass gemäß recht ordentlich gefüllt.

Johann von Allendorf aber verließ mit den übrigen Gesandten des Oberrates grußlos den Saal: „Dies hier ist noch nicht vorbei. Es fängt gerade erst an!“

4

Tilman schob Anna den Stuhl mit der langen, über Kopf hohen Lehne zurecht. Sie hatte es nicht leicht, mit den vielen Schichten und Falten ihres besten Reisegewandes darauf Platz zu nehmen, doch der Anlass an der Tafel Lorenzo de Medicis ließ nichts anderes zu als das Beste, das sie besaßen. Auch er hatte aus seiner kleinen Truhe die feinsten Kleider herausgesucht, nachdem sie hier in diesem gewaltigen Palast eine Kammer bezogen hatten, als seien sie ein Fürstenpaar aus edelstem Geblüt. Sein Weib gab sich glücklich wie nie zuvor.

Nach und nach füllte sich der Speisesaal und fröhlich miteinander scherzende oder auch ernsthaft in Gespräche vertiefte Gäste nahmen Platz an der langen Tafel des Herrn der Toskana. Einzeln, zu zweit oder in kleinen Grüppchen trafen sie ein, während Mägde und Diener bereits auftrugen und die Kelche aus edlem Kristall füllten. Zu Tilmans Verwunderung benahm man sich hier anscheinend völlig zwanglos. Edel gewandete Frauen und Herren gingen freundschaftlich lachend mit anderen um, welche wiederum erschienen, als könnten sie sich gerade noch ein paar zurecht geflickte Lumpen leisten. Anna rümpfte erschrocken und auch pikiert mehr als einmal die Nase, denn auch der ein oder andere Geruch wehte mit Neuankömmlingen herein. Gerade neben ihnen nahm ein nicht mehr ganz junger, recht untersetzter Mann Platz, dessen Ausdünstungen in einem Gemisch aus Schweiß und Wein auch für weniger empfindliche Nasen einer gewissen Gewöhnung bedurften.

Tilman fand aus dem Staunen über die seltsame Ausgelassenheit dieses Landes selbst an der Tafel eines so hohen Herrn kaum noch heraus. Undenkbar, dass sich die Gäste ihres Fürstbischofs in Würzburg auf diese Weise ungebührlich benähmen. Dass der alte Meister Bertoldo erschien, verwunderte ihn nicht, dass aber jener ernste Knabe aus dem Bildhauergarten, der sein eigenes Reliefbild so harsch geschmäht hatte, gleich hinterher in den Saal stapfte, entlockte ihm einen Laut der Verblüffung. Wie hieß er noch gleich? Ach ja, Michelangelo Buonarroti.

„Lorenzo hat einen Narren an dem Jungen gefressen“, der Untersetzte stupste Tilman mit dem Ellbogen an, „wenn du mich fragst, wird man in fünfhundert Jahren sich nur deshalb an uns erinnern, weil der kleine Bursche da unter uns wandelte. Dafür muss der Alte dem Knaben aber noch die Flausen und Lorenzo ihm den Missmut austreiben. Du solltest nur mal sehen, wie sich der Bengel in der Akademie benimmt.“

„Akademie? Was ist das?“

Der Untersetzte mit den starken, schwer zu entschlüsselnden Ausdünstungen lachte kurz auf. „Du kommst wahrlich aus weiter Ferne in unser herrliches Firenze. Die Akademie Lorenzos ist der zusammengefundene Geist der klügsten Denker und … ah … Il Magnifico.“

Lorenzo erschien. Die Gespräche erstarben augenblicklich. Die Gäste an der Tafel des Prächtigen applaudierten. Abwehrend hob der Bewunderte die Arme, näherte sich von der Gicht schwer geplagt mit schleppenden Schritten den Menschen.

„Dürstet und hungert nicht in meinem Haus. Labt euch an den Genüssen meiner Tafel und stärkt eure Geister im regen Austausch zueinander.“ Lorenzo begrüßte einige seiner Gäste mit Handschlag und mit Wangenkuss, darunter den jungen Michelangelo. Anschließend nahm er nicht etwa am Kopfende der Tafel Platz, sondern inmitten der langen Reihe seiner Familie, wie er es häufig nannte. Noch in Gesprächsweite gegenüber Anna und Tilman.

Gerade nahm der Untersetzte das unterbrochene Gespräch zur Akademie wieder auf, als die Stimme Lorenzos direkt zu ihnen herüber drang.

„Wie ich mit Freude sehe, habt ihr euch schon bekannt gemacht, Meister Tilman. Stellt ihm nur wohlgemut eure Fragen. Aber seid auch recht streng damit. Zuviel des Lobes und der Bewunderung gehen dem Meister nur in die Leibesfülle, wie man sieht.“

Der Untersetzte schnaubte verächtlich auf und nahm einen fetten Bratenschlegel von einer Platte.

„Ich verstehe nicht, Eure Exze …, Lorenzo.“

Der Funken fröhlichen Schalks sprühte auf in den dunklen Augen des Prächtigen. „Ah, Meister Tilman, ich sehe, Ihr wisst noch nicht, mit wem Ihr euch zu eurer Seite unterhaltet. So lasst mich vorstellen“, er nahm seinen Pokal zur Hand und die Angesprochenen taten es ihm gleich, „Meister Tilman, dies ist Sandro Boticelli, Schöpfer von La Primavera und zahlreicher weiterer Werke seiner außerordentlichen Kunstfertigkeit, wie ich es nur ungern vor all diesen Zeugen zugebe. Aber es ist so.“ Lorenzo gönnte sich ein Augenzwinkern in die Runde seiner Gäste, ein Kichern lief in einer Welle die Tafel entlang, Boticelli verzog das Gesicht zu einem unechten Schmollen mit verstecktem Grinsen darin und biss herzhaft in seinen Schlegel, Tilman hatte seinen Pokal zum Mund geführt und verschluckte sich am Wein, als die Erkenntnis sich Weg bahnte, dass dieser grobschlächtige, etwas riechende Mann an seiner Seite der Schöpfer des einzigartigsten Gemäldes sein sollte, das er je erblickt hatte. Mit einer Zeichnung, einer Figurenbehandlung des Körperlichen und Stofflichen in der Natur, mit Farben und Linienkunst, wie er es bis zu diesem Tage nicht für möglich gehalten hatte. „Meister Boticelli, euch zur Seite sitzt Tilman Riemenschneider, Bildhauer zu Würzburg aus dem Land der Tedeschi und ein Zweifelnder an deiner Bilderkunst. Du musst ihn schon überzeugen, damit deine Werke nicht in den dunklen Kellergewölben dieses Palastes verschwinden. Schon lange denke ich darüber nach.“

 

Erneutes Gelächter breitete sich durch die Reihen der Gäste aus. Tilman suchte irritiert in dem zufriedenen Gesicht seines Gastgebers zu lesen.

„Hör nicht auf die törichten Worte“, sagte Boticelli ungerührt, „das schwere Schicksal seiner Gebrechen trübt ihm die einst so klaren und hellen Sinne.“

Tilman zuckte zusammen. Das Publikum stöhnte erfreut auf. Der Prächtige grinste. Wenn die Großen ihre Spiele trieben, konnte es dem Gewöhnlichen nur allzu leicht an den Kragen gehen. Davon lebte diese kleine Aufführung.

„Du hast dir La Primavera angesehen, was hältst du von der Venus? Findest du sie im Gewand und den Proportionen des Körpers nicht missraten?“

„Ich habe vor allem die Gruppe der im Kreise sich drehenden Frauen bewundert. Auch zur Rechten diejenige mit dem so reich gestalteten Gewand. Diese Körper mit den natürlichen Bewegungen darin. Die Bildung der Gesichter, die Haare, die Positionen und Haltungen. Keine gleicht der anderen. Und der Jüngling zur Linken erst! Man erfasst die Fasern des Fleisches und fühlt seine Kraft. Sein Stand mit der Hand auf der Hüfte, die den Körper durchdrückt. Ich verstehe das nicht. Wie gelingt es dir nur, dies alles auf ein ebenes Gemälde zu bannen?“ Tilman begleitete seine Worte mit ausladenden Gesten.

„Du meinst Flora und die drei Grazien, es ist eine der römischen Götterwelt entnommene Allegorie für die Platoniker. Bei dem Jüngling, der die Nebel des Winters vertreibt, handelt es sich um Merkur.“

„Eine was für wen?“

„Na, ein Werk für die Platoniker. Die Akademie Lorenzos, wir sprachen doch gerade davon.“ Dampfend wurden die ersten warmen Speisen aufgetragen, Boticelli überlegte, stand auf und zerrte Tilman am Arm mit sich. „Folge mir, ich zeige dir etwas anderes.“

Unglücklich blickte Tilman den Köstlichkeiten hinterher, über die sich die Gäste Lorenzos nun in einmütigem Wettstreit hermachten, aber er wagte nicht, dem Meister von La Primavera zu widersprechen.

„Ich erzähle dir nachher, wie es mir gemundet hat“, gluckste Anna in seinem Rücken vor Vergnügen.

Über eine Korridorflucht gelangten sie zu einem der Treppenhäuser und in das darüber liegende Stockwerk, dort durch erneut einen Korridor zu einem abgetrennten Wohntrakt, vor dessen geschlossener Flügeltür ein Diener auf einem Schemel wachte. Boticelli nickte diesem nur kurz zu und drückte schnurstracks die Türe auf. Tilman folgte im Nebel der Erwartung mit einem auch durch den Hunger flauen Gefühl im Bauch. Sie befanden sich in den privaten Wohnräumen des Prächtigen. Boticelli entzündete einen Kienspan an einer Ölfackel im Flur. Einmal rechts durch einen Raum, einmal links in einen weiteren, es war stockduster. Erst entflammte zur einen Seite eine Fackel, dann zur anderen, schließlich eine wachsende Anzahl von Öllichtern. Tilman stand unmittelbar vor einer riesigen Bettstatt, der Mann hatte ihn geradewegs in das Schlafgemach ihres Gastgebers geführt.

„Dreh dich um“.

Tilman ahnte etwas, aber als er sich umwandte, traf es ihn doch so unerwartet wie ein Blitzschlag. Vor seinem Auge tauchte im unruhig flackernden Licht der Lampen die einzigartigste Kunst auf Erden hell erstrahlend auf. Ein Gemälde in annähernd den gewaltigen Maßen von La Primavera, keine fünf Schritte entfernt. Er stand beinahe mitten darin.

„La Nascita di Venere, die Geburt der Venus. Erkennst du Zephir wieder, den Gott des Windes, welcher die aus dem Schaum des Meeres geborene Venus zum Lande hinbläst? Er umfängt die Nymphe Chloris, welche so zu Flora, der Göttin der Frühlingsblüte aufsteigt. Du siehst sie zur Rechten die Venus mit der Kraft der fruchtbaren Natur und des Lebens ausstattend. Beide Gemälde gehören zusammen.“

Tilman war der Erwiderung unfähig. Er wollte etwas sagen, aber sein Mund gehorchte nicht. Stattdessen trat er ganz nah an diese einzigartige Erscheinung heran und suchten sie Partie für Partie nach einem Verstehen ab. Boticelli betrachtete amüsiert, aber vor allem überaus zufrieden das geblendete Erstaunen des jungen Meisters aus dem fremden Norden. Er ließ ihm Zeit.

Die Komposition, die Proportionen, die Perspektiven, die Farben, die kleinsten Details, die Kraft der Botschaft, eine größere Meisterschaft konnte es nicht geben. Tilmans Augenlider begannen zu flattern, so viele Dinge waren zu entdecken. Ach, könnte er das Bild doch nur in seinem Kopf exakt bewahren, warum hatte er auch nicht ein Blatt Papier und seine Zeichenkohle in das Wams gesteckt, als sie sich zum Mahl an der Fürstentafel umzogen? Ein zweites Mal würde er die persönlichen Gemächer des Prächtigen gewiss nicht mehr betreten können; vielleicht gelänge es ihm, später eine Zeichnung in ihrer Kammer zu verfertigen, wenn der Abend nur nicht zu lange andauerte und die Erscheinung der Venus noch frisch im Herzen seiner Erinnerung wäre. Er wollte es versuchen.

„Ihr seid ein Esel, Boticelli“, sagte eine Stimme unvermittelt in ihrem Rücken, „diese Venus da ist aus dem Gleichgewicht, sie fällt um. Und von dem Körper der Frauen versteht Ihr noch weniger als von euren männlichen Figuren.“

Boticelli fuhr herum. „Ah, Buonarroti! Wenn der Prächtige nicht so einen Narren an dir gefressen hätte, setzte es jetzt ein paar kräftige Hiebe. Was machst du überhaupt hier?“

„Ich bin euch gefolgt, da ich mir schon dachte, dass Ihr Meister Tilman den falschen Weg weisen würdet.“

„So, dachtest du dir …“

„Ja, denn in Plastik hätte diese Venus keinen Stand, sie fiele um. Die Hüfte ist schief, die Bauchmuskeln sind die eines Mannes, die Schlüsselbeine sind zu kurz …“

„Die was für Beine?“ Boticelli vermochte seine Verärgerung kaum zu beherrschen.

„Die Schlüsselbeine. Der Knochen, der das Schultergelenk stabil macht.“

„Bursche. Du hast eine gewisse Begabung, das sehe auch ich, aber dein Hochmut verwirrt dir den Sinn. Kein Wunder, dass Ghirlandaio seine Not an dir hatte. Wahrscheinlich bringst du nun den alten Bertoldo auf direktem Wege in sein Grab.“

„Vergebt mir meine Offenheit, aber der unwahre Weg ist weder der Weg der Erkenntnis noch der Erleuchtung. Es ist die Akademie des Lorenzo, welche dies sagt, nicht ich. Meister Ghirlandaio versteht die Tiefen des Körperbaus sehr viel besser, als Ihr es tut.“

„Das Geschwätz höre ich mir nicht mehr länger an. Der Knabe weiß ja noch nicht einmal um die Bedeutung des Ausdrucks einer Allegorie. Kommt, Meister Tilman, kehren wir zurück zu unserem Mahl.“

Boticelli zog Tilman wutentbrannt mit sich aus dem Schlafgemach und der Privatwohnung Lorenzo de Medicis hinaus. Tilmans Gedanken kreisten dabei noch immer um die Venus und darum, dass eine solche Kunst in seiner Heimat Würzburg und überhaupt in deutschen Landen wohl nicht einmal einen Auftraggeber oder Förderer fände. Schon gar nicht in seinem Fach, der Skulptur in Stein oder Holz. Wie schade.

Der junge Michelangelo blieb indess betrachtend noch vor der ‚Geburt der Venus‘ stehen und sah nach einer Weile in seinem Geist eine gewaltige Plastik in Marmor auftauchen, welche das schlicht Unmögliche in Statik und Statur vollbringen würde. Dann löschte er die Lichter und ging hinaus.

5

Die Holzwerkstatt in den Gewölben des stattlichen Hauses am Beginn der Gasse der Franziskaner sah zum Gotterbarmen aus. Dreck und Späne überall, die Werkzeuge achtlos verstreut, unbehandelt Rost ansetzend, stumpf. Schlimmer jedoch wog der Zustand der unfertigen Stücke für den großen Hochaltar der Magdalenenkirche in Münnerstadt. Mit Schnitzbeiteln war auf den Hl. Kilian, die Hl. Elisabeth und auf Maria Magdalena eingestochen worden. Die Architektur des Retabels hatte man zerschlagen. Tilman hängte das Öllicht an den dafür vorgesehenen Haken in der Wand und suchte mit nervös umher wandernden Augen den Schaden zu bemessen. Das meiste würde er neu beginnen müssen. Nicht nur die Zeit und damit verbundene Verspätung stellte ihn nun vor gewaltige Probleme, auch die richtigen Blöcke für die großen Figuren erneut aufzutreiben, würde schwierig werden, wenn die Figuren nicht mehr zu retten waren. Und danach sah es leider aus.

Dabei sollte dieser erste und riesige Hochaltar sein Sprung an die Spitze als Meister der bildenden Kunst werden. Nun aber schien es, als würde das Werk zu seinem Ruin als Künstler und Meister seiner Werkstatt werden. Er konnte unmöglich den Schaden ersetzen, die Aufträge rechtzeitig erfüllen und seine beiden Gesellen sowie die Gehilfen bezahlen. Unmöglich. Denn hinter dem Haus in der Bildhauerwerkstatt sah es nicht besser aus. Das Steinlager zerschlagen und schon bearbeitete Blöcke übel zugerichtet.

„Allmächt’“, entfuhr es Anna, die hinter ihn getreten war und nun die Hände vors Gesicht schlug, „was willst du denn jetzt machen? Wir verlieren das Haus, die Werkstatt…“ Annas Worte erstarben im Schluchzen.

„Nichts verlieren wir. Erst wird aufgeräumt, dann geht die Arbeit weiter. Ich werde schnell und meisterhaft zu Werke gehen. Zuvor aber knöpfe ich mir den Hundsfott vor, der das hier angerichtet hat.“

„Aber woher nehmen wir das viele Geld? Es ist doch schon jetzt nichts mehr da.“

„Ich werd es schon bekommen. Wie geht es dem Josef?“

„Der liegt oben in der Gesellen-Kammer. Die Maria sagt, der Kiefer ist zerschlagen und wird schief bleiben. Er hat es wohl hart gegen den Kopf bekommen, weshalb er jetzt die meiste Zeit schläft. Das andere sei nicht so schlimm; ich will nachher nach ihm sehen.“

„Gut, mach das. Versammele zur Spätvesper alle Hausleute in der Stube. Ich werde dann die Arbeit neu einteilen. Vorher habe ich jedoch noch etwas zu erledigen.“

Anna nickte und gerade als Tilman grimmig entschlossen die Stufen aus dem Gewölbe heraus in die kleine Vorhalle nahm, pochte es dort gegen die Tür der Pforte.

„Anton, lieber Freund, das erste frohe Gesicht an diesem Tag der Heimkehr. Gerade wollte ich mich zu euch in den Rat begeben und danach zur Gilde St. Lukas.“

„Ich habe es schon gehört“, antwortete Mühlbach ohne sich mit Formalitäten der Begrüßung aufzuhalten, „sie kamen wohl vor fünf Tagen in der Nachtund sind in dein Haus eingedrungen.“

„Ja, das sind sie. Ich zeige dir, was sie getan haben.“

Anton Mühlbach fasste seinen Freund am Arm. „Das kann warten. Deshalb bin ich nicht hier. Ich muss dringend mit dir über etwas anderes sprechen, und es eilt.“

Die beiden Männer setzten sich an die lange Tafel in der sehr geräumigen Stube über der Holzwerkstatt, an der die versammelten Haus- und Werkstattleute für gewöhnlich Platz nahmen und gerade einige aufstrebende Jahre im Dienste ihres jungen Meisters verlebt hatten. Maria, die Magd, brachte einen Krug des Weines aus der Lage, welche Anna zusammen mit Haus und Werkstatt von ihrem ersten Mann geerbt hatte, dazu ein paar hergerichtete Reste der letzten Schlachtplatte. Mühlbach berichtete von der Entwicklung im Rat zu den Apostelfiguren an den Strebepfeilern der nach langer Bauzeit fertiggestellten Marienkapelle. Tilman war lange fort gewesen und hatte offenbar mehrere Fürsprecher seiner schon zuvor dargelegten Pläne für die Figuren in der Zwischenzeit verloren.

„Verdammt. Auch das noch. Jetzt, wo mir das Retabel für Münnerstadt da unten in Trümmern liegt, hätte ich diesen Auftrag mehr als alles andere gebraucht. Mit dem Geld wollte ich neue Werkstoffe und überhaupt die Gesellen und Werkstatt-Knechte bezahlen.“

„Das verstehe ich, mein Freund. Aber wenn du mit dem Lohn der kommenden Arbeit die jetzige bezahlst, dann fehlt er dir im Folgenden doch noch immer.“

Tilman starrte freudlos in seinen Becher, aus dem ihn der edelste aller Tropfen anfunkelte. „Nein, tut er nicht. Ich hätte gleichzeitig gearbeitet. In Holz und für das Retabel unten in der Holzwerkstatt, in Stein für unsere große Kapelle draußen im Garten. Gleichzeitig, mein Freund. Jetzt aber ist es aus, es hätte ein großer Auftrag sein müssen und es gibt in der Stadt keinen weiteren, der genügend Gulden garantiert, um die Werkstatt wieder auf die Beine zu bringen. Der mir das angetan hat, gewinnt“, Tilman nahm einen tiefen Zug aus seinem Becher, „… aber das eine versprech ich dir, Anton, ich werd sehr genau hinschauen, welcher Gauner nun Aufträge erhält, die man mir gegeben hätte. Ich erhebe Klage …“

„Das musst du vielleicht gar nicht. Sieh mal, Adam und Eva sind für das Südportal bereits beschlossene Sache. Es sind große Figuren und den Vertrag kannst du schnell abschließen. Du brauchst nur einen überzeugenden Entwurf. Das ist besser als die Klage wegen des Angriffs auf deine Werkstatt. Die führst du auch, aber nach dem Vertrag und erst einmal nicht so laut.“

 

„Du hast vielleicht Recht. Was werde ich verlangen können für zwei lebensgroße Figuren?“

„Na, so um die hundert Gulden bestimmt. Vielleicht etwas mehr. Du darfst nicht zu bestimmt fordern. Der Bischof drückt die Ratskasse sehr, vor allem noch immer mit der Brücke.“

„Tut er das nicht immer?“ Mühlbach zuckte mit den Schultern. „So, so, hundert Gulden also. Das könnte tatsächlich gehen …“, Tilmans Augen begannen zu funkeln, suchten den Raum nach keinem bestimmten Punkt ab, „… warte hier, ich muss dir etwas zeigen. Du wirst staunen“. Eilig verließ er die Stube durch die Tür zur Stiege hinauf und kam wenige Momente später zurück mit etlichen Blättern Papier unterm Arm. Darauf einige der Zeichnungen, welche er während der zurückliegenden Italienreise angefertigt hatte. Es ging ihm sogar nur um eine einzige Zeichnung, nämlich diejenige von Boticellis Geburt der Venus, welche er aus dem Gedächtnis noch an demselben Abend skizziert hatte, als er das Gemälde in den privaten Gemächern des Prächtigen sah. Er zeigte Mühlbach eine Version, die ausschließlich Venus wiedergab. Tilman war begeistert, in diesem Augenblick keine Spur mehr von all dem über sein Haus gekommenen Kummer im Herzen.

„Schau, das ist Eva! Einen Apfel bekommt sie noch in die Hand, dort unter ihrer rechten Brust“.

Mühlbach starrte lange auf die feine Kohlezeichnung. „Aber …, aber …, aber sie ist ganz nackt, diese Eva? Und lüstern voller Fleisch! Sie ist keine Heilige …“

„Nein, das ist sie nicht. Es ist Eva, sie ist der Sündenfall. Was glaubst du denn?“

„Sündig ja, aber doch nicht in dieser Weise, dass man sie direkt bespringen wollte.“

„Doch Anton, genau in dieser Weise. Du hättest es selbst sehen sollen, was sich dort im Italischen in der Kunst tut. Es ist fantastisch“.

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